q 42 Die Geschichte der Zeichensprache Ein weiterer wichtiger Bereich, im dem viel gestikuliert wurde, war das antike Theater. In der darstellenden Kunst wurden Gebärden vor allem in pantomimischen Stücken eingesetzt, wo die gesprochene Sprache kaum oder gar keine Verwendung fand. Doch die Gestik spielte natürlich auch bei Dialogen und anderen szenischen Darstellungen eine wichtige Rolle. Überliefert wurden die antiken Theatergebärden unter anderem in einigen Manuskripten aus dem 11. Jahrhundert, die eine für die Erforschung derselben wichtige Quelle bilden.108 Es handelt sich um die Manuskripte von Terenz’ Komödien, in denen auch die Gestik der Darsteller bildlich dargestellt ist. Es ist davon auszugehen, dass die Illustrationen Kopien antiker Abbildungen sind. Vermutlich handelte es sich um Anleitungen für Schauspieler, die anhand der Abbildungen die Gebärden für ihre Rolle lernen sollten. Die Gestik war genau festgelegt, und die Schauspieler haben sie vermutlich gut beherrscht. Darüber hinaus gab es auch spezielle Gesten für Mimen, deren Kunst offenbar sehr gefragt war: Nach überlieferten Angaben gab es in Rom im Jahr 19 n. Chr. sechstausend professionelle Mimen.109 Cassiodor († 583) beschreibt in einem seiner Briefe die Pantomime als die Kunst der »sprechenden Hände« (loquacissimae manus) und »Sprachfinger« (linguosi digiti), die der Muse Polymnie entstamme.110 Die Kunst der Mimen hat auch Augustinus († 430) beschrieben, dem aufgefallen war, dass die Mimen vor allem bekannte und beliebte Gesten verwendeten. Diese Art Pantomime ging nach dem Zerfall des Römischen Reiches verloren. Seinen Anteil daran mag auch das sich in dieser Zeit verbreitende Christentum gehabt haben, das sich entschieden gegen solche Künste stellte. Es lässt sich jedoch weder bei den Gesten der Rhetorik noch bei denen des Theaters feststellen, inwiefern und ob man von einer kontinuierlichen Verwendung derselben Gebärden und Zeichen bis ins Mittelalter sprechen kann. Denn aufgrund der sehr spärlichen Überlieferung von schriftlichen oder ikonografischen Aufzeichnungen ist kein aussagekräftiger Vergleich möglich.111 Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die stille Form der Kommunikation sowohl ein fester Bestandteil der meisten lauten Berufe unserer modernen Zeit ist, als auch unter allen sogenannten Naturvölkern bekannt ist, die oft über eine sehr ausgeprägte Form der nonverbalen Kommunikation verfügen. Ein Kapitel für sich ist außerdem die Gebärdensprache der Gehörlosen. Ein weiterer Bereich, in dem die Sprache der Finger zum Einsatz kam, ist das Fingerrechnen. Es handelt sich dabei einerseits um eine »natürliche« Verwendung der Finger zum Zählen, wie sie zur Wiedergabe der Zahlen eins bis zehn auch heute vor allem bei Kindern gebräuchlich ist. Andererseits war es auch ein ausgeklügeltes System, in dem Zahlen bis zu einer Million dargestellt werden konnten. Diese Methode wurde unter anderem zum Errechnen des Ostertermins verwendet. Das zweite Fingerzahlsystem wird ausführlich in dem anonym verfassten Werk Romana computatio (»Römische Berechnung«) beschrieben, das um 688 entstand.112 Beschrieben werden hier 108 Van Rijnberk 1953, 18. 109 Van Rijnberk 1953, 18. Die Angabe wurde übernommen aus: Félix Reynault: Le langage par geste. In: La Nature 26 (1898), 315–317. 110 Cassiodorus: Variarum liber IV, epistola 51 – PL 69, 643. 111 Der Suche nach solcher Kontinuität widmete sich der italienische Forscher Andrea De Jorio (De Jorio 1832), der behauptet, dass sich in der neapolitanischen Zeichensprache die antike Kunst der Mimik widerspiegelt. Carl Sittl (Sittl 1890) hingegen will diese These widerlegt wissen. 112 Romana computatio, 106–108.
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