Leseprobe

Gesten und Zeichen außerhalb der monastischen Welt Es waren nicht die cluniazensischen Mönche, die sich die Zeichensprache ausgedacht haben. Die Verständigung mittels Körperhaltung, Gesten oder Zeichen ist genauso alt wie die Menschheit selbst. Gebärden gehören zur nonverbalen Kommunikation, und diese wird von allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten verwendet. Die Kulturgeschichte kennt zufällige Gesten genauso wie durchdachte Pantomime, Letzteres vor allem aus dem römischen Theater. Nicht zuletzt gibt es auch das Fingerrechnen oder das Fingeralphabet, welches später Verwendung beim Unterrichten von Gehörlosen fand. Auch liturgische Handlungen werden von Gesten begleitet. So wird zum Beispiel zwischen verschiedenen Körperhaltungen unterschieden (Stehen, Knien, Prostration), es gibt unterschiedliche Kreuzsegnungen, Fußwaschungen etc.104 Als Gesten werden bewusste Körperbewegungen mit einer bestimmten Ausdrucksabsicht bezeichnet. Zu ihrer Ausführung werden keine Worte gebraucht. Es gibt Gesten, die den meisten Kulturen und Völkern bekannt sind, manche entspringen wiederum einer lokalen Konvention oder Tradition. Am häufigsten wird mit den Händen und Fingern gestikuliert, die auch in der Zeichensprache der Mönche das primäre Mittel der Kommunikation darstellen.105 Auch wenn man erst vom Mittelalter als »eine[r] Epoche der sprechenden und bedeutungsvoll verbindlichen Gebärde, deren Sprache wir lernen müssen«,106 spricht, beginnt die Geschichte der Gesten bereits in der Antike. Der Begriff »Gebärde« wird auf den folgenden Seiten als eine allgemeine Bezeichnung für bewusst ausgeführte Bewegungen von Körpern oder Körperteilen mit einer bestimmten Bedeutung verstanden. Die antike Welt war voller Gebärden. Ob erfolgreiche Rhetoriker, Mimen im Theater oder Soldaten inmitten des Schlachtgetümmels – alle haben gestikuliert. Das belegen zeitgenössische Beschreibungen, spätere Berichte genauso wie Darstellungen auf Gemälden, Gefäßen, Skulpturen und anderen Kunstgegenständen. Der antike Schriftsteller Quintilian († um 96) beschreibt im elften Buch seines Hauptwerkes De institutione oratoria (»Unterweisung in der Redekunst«) präzise Gesten und Gebärden, die ein erfolgreicher Rhetoriker bei seiner Redekunst einsetzen sollte. Er beschäftigt sich in diesem Buch vor allem mit der Kunst des Vortragens. Dabei knüpft er natürlich auch an ältere Werke an, zum Beispiel an Cicero, doch erst mit seinem Buch erreicht die Kunst der Rhetorik dank der dort entwickelten ausgefeilten Theorie ihre Hochphase, die mindestens bis ins 12. Jahrhundert andauerte. Quintilian liefert auch sehr genaue Analysen der Hand- und Fingergebärden, die für die vorliegende Studie besonders wichtig sind. Da die antiken Gebärden als eine Wiederholung der gesprochenen Sprache verstanden wurden, sollten sie parallel mit dem gesprochenen Wort ausgeführt werden, also weder vor noch nach dem Gesprochenen kommen. Doch die Gesten waren mehr als nur ein Hilfsmittel oder Begleiter der Worte. Sie trugen zu einem vollkommenen Verständnis des Gesagten bei, das ohne Gestik eindeutig unvollständig gewesen wäre.107 104 Zur liturgischen Gestik im Früh- und Hochmittelalter vgl.: Suntrup 1978. Zu Gesten, ihrer Entwicklung von der Antike bis zum Spätmittelalter, ihrer Bedeutung und Ausführung vgl.: Schmitt 2004 [bzw. deutsch 1992]. 105 Zu den grundlegenden Gesten und Gebärden mit den Händen: Köttling 1978. 106 Ohly 1968, 170. 107 Allgemein zu Quintilians Werk und seinem Vergleich mit anderen Arbeiten zur Rhetorik: Schmitt 2004, 30–37 [bzw. deutsch 1992, 41–44]; konkret zur Institutio oratoria: Seel 1977.

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