Leseprobe

Die Stille ist ein unverzichtbarer Bestandteil nicht nur der monastischen, sondern der gesamten christlichen Tradition. Sie ist die Quelle, der die Zeichensprache entsprungen ist und die sie zum Leben braucht, damit sie nicht versiegt. Deswegen kann man Stille und Zeichensprache nicht voneinander trennen. Dafür ist es notwendig zu verstehen, wozu die Stille im Kloster da ist und wie sich in den einzelnen Gemeinschaften ihr Verständnis vom Flüstern hin zu absoluter Schweigsamkeit gewandelt hat. Schauen wir deshalb in den wichtigsten frühen monastischen Ordensregeln nach, wie ihre Autoren die Stille dort behandeln. Allerdings ist das Gebot des Schweigens, also der Verzicht auf Kommunikation, kein Alleinstellungsmerkmal des Mönchtums oder Christentums, sondern auch in anderen Religionen und Kulturen zu finden. Sehr anschaulich erklärt eine Geschichte, die bis heute in Klöstern nicht nur den Novizen erzählt wird, die Bedeutung der Stille: Ein Mann begab sich auf den Weg zu einem Mönch, der schon lange in der Klausur lebte, und fragte ihn: »Was hast du in der Stille gelernt und was bedeutet sie für dich?« Der Mönch, der gerade Wasser aus dem Brunnen schöpfte, antwortete dem Gast: »Schau auf den Brunnenboden! Was siehst du da?« Der Mann schaute in den Brunnen. »Ich sehe nichts.« Eine Weile verharrten die beiden in absoluter Ruhe, und dann sagte der Mönch zu seinem Gast: »Schau jetzt hinein! Was siehst du in dem Brunnen?« Der Mann gehorchte und gab als Antwort: »Jetzt sehe ich mich selbst – mein Spiegelbild im Wasser, aber auch den Himmel über meinem Kopf.« Der Mönch erwiderte: »Schau, wenn ich jetzt meine Kanne in den Brunnen eintauche, kommt das Wasser in Bewegung. Jetzt aber ist das Wasser ganz still. Und so ist die Erfahrung mit der Stille – nur in der Stille kann der Mensch sich selbst sowie den Himmel über sich sehen.«51 Das Schweigen erfüllt zwei Funktionen: Auf der einen Seite schützt es die Seele der Mönche vor der Gefahr sinnloser Geschwätzigkeit, und auf der anderen Seite öffnet es den Raum für Gebet und Kontemplation. Doch schweigen muss man lernen. Nicht aber dadurch, dass man sich in einen leeren Raum einschließt, sondern im Gegenteil, inmitten anderer Menschen, mitten im Alltag. Die Stille hat nämlich zwei Dimensionen: die innere und die äußere. Wenn ein Mönch den Zustand der Stille erreichen will, muss er beide Seiten zur Ruhe bringen können. Den Wert der Stille können wir laut Tomáš Kardinal Špidlík nur dann begreifen, wenn wir sie zusammen mit ihrem Gegenstück, der Sprache, betrachten.52 Schweigen bedeutet Frieden, Stille und Ruhe. Es ist eine spirituelle Lebensart, die sich mit der Zeit auch im westlichen Teil Europas verbreitet hat. Die Stille gilt als Ausdruck der Weltentsagung, die zu einer intensiveren Verbindung zu Gott führt. Aber auch als eine Art Absterben gegenüber der Welt als notwendige Voraussetzung für ein sündenfreies Leben. Schon die ersten Wüstenväter haben Wert darauf gelegt, was später Einzug in alle Ordensregeln fand: das Einhalten des Silentiums an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. Alle Autoren asketischer Schriften sind sich einig, dass die Stille zur Kontemplation und für ein anständiges religiöses Leben absolut notwendig ist; sowohl die äußere als auch die innere. Das älteste Schweigegebot findet sich bereits in den ersten Ordensregeln.53 Ganz konkret bei Pachomius († um 347) in der Regel für das von ihm gegründete Kloster bei Tabennisi in Oberägyp51 Zitiert nach: Ferrero 1996 (Übersetzung anhand des tschechischen Zitats: M. L.). 52 Dazu: Špidlík 2004, 167–175. 53 Eine Übersicht der Ordensregeln aus der Entstehungszeit des Mönchtums gibt De Vogüé 1985, inkl. eines alphabetischen Verzeichnisses 53–60. Allgemein zur Geschichte des Mönchtums: Frank 2010; Ventura 2006. Eine grundlegende Übersicht der Schweigegebote im frühen Mönchtum: Bruce 2001, hier 194–196. Auch die Apophthegmata Patrum (Sprüche der Wüstenväter) seien hier genannt, auf die sich die monastische Tradition bezieht.

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