Leseprobe

60 RADKA RANOCHOVÁ Schweigend sprechen Zeichensprache in mittelalterlichen Klöstern Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023, Sandstein Verlag, Goetheallee 6, 01309 Dresden Umschlagabbildung: Signa-Liste Siquis aus dem Kloster Vyšší Brod, 28 Pp., fol. 188v Korrektorat: Maria Stuiber Redaktion: Wilfried Franzen Gestaltung, Satz: Sandstein Verlag Druck: FINIDR, s.r.o., Český Těšín www.sandstein-verlag.de ISBN 978-3-95498-764-1 Gedruckt mit Unterstützung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa e. V. in Leipzig. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Der Titel ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.sandstein-verlag.de, DOI: 10.25621/sv-gwzo/FGKoeM-60 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Non Commercial 4.0 Lizenz (BY-NC). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für nicht kommerzielle Zwecke (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de). Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Schweigend sprechen Zeichensprache in mittelalterlichen Klöstern RADKA RANOCHOVÁ AUS DEM TSCHECHISCHEN ÜBERSETZT VON MARTINA LISA HERAUSGEGEBEN VON CHRISTIAN LÜBKE 60 SANDSTEIN

Inhalt 7 Danksagung 9 Zur Einführung 12 Zeichensprache als Forschungsgegenstand der Geschichts- und Sprachwissenschaft 22 Schweigen in der monastischen Tradition 26 Die äußere Stille in den Räumlichkeiten des Klosters 31 Schweigen als Schutz vor Sünden und Lastern der Zunge 34 Das innere Schweigen als Weg zu sich selbst und als Sprache Gottes 36 Das Ideal der vita angelica 37 Schweigend reden, redend schweigen 40 Die Geschichte der Zeichensprache 41 Gesten und Zeichen außerhalb der monastischen Welt 44 Vernehmbare Zeichen der ersten Mönche 47 Zeichensprache in Baume-les-Moines und Cluny 51 Verbreitung der Zeichensprache unter den Schwarzen Mönchen im 11. bis 15. Jahrhundert 61 Monastische Zeichensprache bei der Erziehung von Gehörlosen 62 Ein detaillierter Blick in ein zisterziensisches Kloster 77 Diesseitige und jenseitige Strafen für die missbräuchliche Nutzung der Zeichen bei den Zisterziensern 81 Die Birgitten unter dem Einfluss der Zisterzienser 84 Zeichensprache bei den Regularkanonikern 87 Gilbertiner, Grammontenser, Abaelard und das ideale Kloster 89 Die ablehnende Haltung der Kartäuser 90 Vor- und Nachteile der Zeichensprache 94 Langsames Schwinden der Zeichen 95 Ausblick auf die Neuzeit – die Trappisten

100 Die Signa-Listen 101 Signa-Listen als Handreichungen für Novizen 106 Die Listen der Benediktiner 115 Die Listen der Zisterzienser 134 Andere Orden und ihre Signa-Listen 140 Was die Signa-Listen über Klöster verraten 141 Zeichen für Speisen 145 Zeichen für Getränke 145 Zeichen für Fleisch vierfüßiger Tiere und Fische 149 Zeichen für Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse sowie für Milchprodukte, Eier und Kräuter 151 Zeichen für Brot 152 Liturgische Zeichen 156 Zeichen für Personen 160 Zeichen für Kleidung, Bettwäsche, Arbeits- und »private« Gegenstände 163 Verschiedene Zeichen inklusive Verben 167 Weitere Zeichen 172 Wie die Zeichen gebildet werden 174 Struktur und Syntax 179 Mache einen Kreis mit beiden Daumen und Zeigefingern, weil das Brot rund ist 184 Zum Schluss 186 Anhang 187 Die Signa-Liste Siquis aus dem Kloster Vyšší Brod rkp. 28 Pp. 194 Klöster mit überlieferten Signa-Listen 195 Abkürzungen 196 Literatur- und Quellenverzeichnis

Zeichensprache als Forschungsgegenstand der Geschichts- und Sprachwissenschaft

Die Zeichensprache der Klöster ist unter Historikern keine Unbekannte: Schon mindestens seit dem 17. Jahrhundert weiß man um ihre Existenz. In dieser Zeit wurden im Rahmen von Editionsarbeiten auch einige Signa-Listen publiziert, die ersten Quellen zur Erforschung der Zeichensprache. Später kamen zu den Signa-Listen weitere Hinweise in normativen und erzählenden Quellen hinzu, in denen die Zeichensprache Erwähnung fand. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die sich mit diesem Thema befassen und auf die sich aufbauen lässt. Am wichtigsten sind die folgenden fünf, durch deren Lektüre man einen hervorragenden Überblick über die Materie sowie Hinweise auf weiterführende Literatur bekommt. Als die »Bibel der Zeichensprache« kann man die Dissertation von Walter Jerecki von 1979 bezeichnen, die er unter der Betreuung von Prof. Paul Gerhard Schmidt an der Universität Göttingen2 vorlegte. Die Arbeit wurde zwei Jahre später unter dem Titel Signa loquendi: die cluniacensischen Signa-Listen publiziert.3 Jarecki konzentrierte sich auf die auf Latein verfassten Signa-Listen aus Cluny. Er trug eine beeindruckende Sammlung von Manuskripten zusammen, die er nach gründlicher Analyse in sechs Gruppen einteilte. Diese machte er durch eine kritische Edition mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat und Kommentaren für die weitere Forschung zugänglich. Bei der Edition konnte er sich auf einige bereits publizierte Arbeiten stützen, viele Manuskripte wurden jedoch dank ihm zum allerersten Mal veröffentlicht. Sein Ziel war dabei, die Zeichen aus Cluny für die weitere, vor allem kulturhistorische Forschung komplett zugänglich zu machen.4 Auf die Erforschung der Listen aus Cluny knüpfte Scott Gorden Bruce mit seiner Dissertation Uttering No Human Sound: Silence and Sign Language in Western Medieval Monasticism (Princeton 2000) an, die später unter dem Titel Silence and Sign Language in Medieval Monasticism: The Cluniac Tradition, c. 900–1200 publiziert wurde.5 Da er sich zwei Jahrzehnte nach Jarecki mit dem Thema befasste, war sein Zugang um einiges komplexer. Außerdem konnte er nicht nur auf Jareckis Edition zurückgreifen, sondern auch auf die Bücher der Klosterbräuche (vor allem auf die Consuetudines aus Cluny).6 Dank dieser Umstände und der hingebungsvollen Arbeit des Autors ist eine qualitativ hochwertige Synthese zum Thema der monastischen Stille und Zeichensprache entstanden. Bruce wollte das eigentliche Wesen der Zeichen ergründen, mit deren Hilfe sich die Mönche in Cluny verständigten. Detailliert zeigt er auf, wie die Sehnsucht der cluniazensischen Mönche nach der Erfüllung des Lebensideals der vita angelica zur Entwicklung der Zeichen führte. Bruce beschäftigte sich mit der Verbreitung der cluniazensischen Listen auch außerhalb der burgundischen Klostermauern sowie mit der Frage des Austauschs von Gebräuchen unter den jeweiligen Klöstern. Da er sich in seiner Arbeit nicht auf die lateinischen Listen beschränkt, bezog 2 Schmidt 1981 hat selbst eine kurze Studie über die Verwendung der Zeichensprache im Mittelalter verfasst. 3 Jarecki 1981. 4 Bis dahin galten die Consuetudines, in denen sich die Signa-Listen meist befinden, unter Historikern als wenig interessant. Viele wurden erst gar nicht herausgegeben, manche zuletzt im 17. oder 18. Jahrhundert. Erst mit dem Projekt Corpus consuetudinum monasticarum (seit 1963) veränderten sich die kritischen Editionen der legislativen Quellen aus dem Mittelalter (vgl.: Engelbert 1991). Walter Jarecki konnte die Früchte dieses Editionsprojekts noch nicht ernten. Er selbst erforschte viele Archivmaterialien, auf denen die Projektarbeit basiert. Später veröffentlichte er noch einige Studien zu den Zeichen, vgl.: Jarecki 1981 (hier ist vor allem die Edition der Zeichenliste Ars und ihr gründlicher Vergleich mit anderen zisterziensischen Listen von enormer Bedeutung); Jarecki 1990 a, Jarecki 1990 b. 5 Bruce 2007a. Diese inhaltlich hervorragende Arbeit ist zudem außerordentlich gut und lebhaft geschrieben und verkörpert ein weit überdurchschnittliches Niveau. 6 ConsUlr; ConsBern. Beide beschreiben und vergleichen Hallinger 1959 und später Wollasch 1993. Nach Joachim Wollasch ist Bernhards Werk ins Jahr 1078 zu datieren, kurz vor der Entstehung von Ulrichs Werk 1079–1084.

q 14 Zeichensprache als Forschungsgegenstand der Geschichts- und Sprachwissenschaft er auch die frühenglische Monasteriales indicia mit ein. Zu den Rezipienten der cluniazensischen Klostergebräuche zählt er auch die Zisterzienser. Bruces Interesse für die Zeichensprache hielt auch nach dem Abschluss seiner Dissertation noch an, er forscht weiterhin zu diesem Thema. Für die Zisterzienser ist seine kurze, jedoch informationsreiche Studie The Origin of Cistercian Sign Language7 von entscheidender Bedeutung. Der dritte bedeutende Autor ist der Kunsthistoriker Jens Rüffer, dessen Texte dank seines breiten Wissensspektrums auch ästhetische und philosophische Themen einschließen. Aus seiner Feder stammt eine ganze Reihe hervorragender Werke, in denen er, ähnlich wie Bruce, nach dem Sinn und Stellenwert der Zeichensprache in den mittelalterlichen Gemeinschaften fragt. Grundlegend ist hier seine Studie »Multum loqui non amare.« Die Zeichensprache bei den Zisterziensern.8 Der Erforschung der Zeichen und ihrer möglichen Aussagekraft steht er allerdings ziemlich kritisch gegenüber, denn nach seiner Auffassung sei in keiner Quelle der Wandel der Zeichensprache im Laufe der Zeit abgebildet, sprich: wie diese tagtäglich verwendet wurde. Außerdem zeigen sich in den wenigen erhaltenen Quellen enorme landesspezifische und zeitliche Unterschiede, die einen Vergleich sehr schwierig (wenngleich nicht unmöglich) machen. Allerdings weist er auf eine entscheidende Tatsache hin, die die meisten Forscher nicht berücksichtigen – darauf, dass die Anzahl der in den Listen erhaltenen Wörter keinesfalls die Bandbreite der in dem jeweiligen Kloster tatsächlich verwendeten Zeichen abbildet. Rüffer wiederholt also das, was bereits Bruce in seiner Arbeit andeutete, und zwar, dass die Listen für Novizen bestimmt waren, die nicht alles auf einmal lernen sollten, sondern zuerst nur die Basiszeichen. Seiner anderen These über die fehlende Kontinuität in der Verwendung der Zeichen bis in die heutige Zeit muss allerdings widersprochen werden. Denn beispielsweise verwenden die Trappisten die Zeichensprache noch heute, und es handelt sich dabei um die Zeichen, die sie von den Zisterziensern übernommen haben. Durch die jahrhundertelange Verwendung haben sich die Zeichen naturgemäß weiterentwickelt und wurden angepasst. Ähnlich unverzichtbar wie Jareckis Edition für die Erforschung der cluniazensischen Zeichen ist für die Erforschung der Zeichen der Zisterzienser die Edition einer der beiden wichtigsten Listen von Bruno Griesser: Ungedruckte Texte zur Zeichensprache in den Klöstern von 1947.9 Der Herausgeber dieses qualitativ hochwertigen und immer noch nützlichen Textes hatte leider keine so hohen Ansprüche wie seinerzeit Jarecki. Doch er veröffentlichte in der Edition auch die Ergänzung zu einem Manuskript mit einem klaren Hinweis auf den Unterschied zwischen den aufgelisteten Zeichen und der Gesamtzahl der tatsächlich verwendeten. Leider wurde diese Information in der Fachliteratur bis jetzt nicht besonders reflektiert. Nicht nur eine, sondern mehr als zwanzig Einzelstudien und Editionen versammelten die Herausgeber Jean Umiker-Sebeok und Thomas A. Sebeok in ihrem Kompendium Monastic Sign Language10 mit zahlreichen Reprints grundlegender Studien und Editionen der Signa-Listen. Ein großes Verdienst 7 Bruce 2001. Daneben veröffentlichte Bruce noch weitere Studien zur Zeichensprache, vor allem im Zusammenhang mit den cluniazensischen Regeln und Disziplin: Bruce 2005; Bruce 2007 b. 8 Rüffer 2009. Auch in anderen Publikationen beschäftigt er sich zum Teil mit der Zeichensprache (siehe: Rüffer 1999, 202–213). 9 Griesser 1947. 10 Umiker-Sebeok/Sebeok 1987.

 15 q ist die Zurverfügungstellung von Studien zu regionalen Listen, die, da nicht auf Latein verfasst, in den grundlegenden Verzeichnissen bis dahin keine Berücksichtigung fanden (vor allem die portugiesischen und spanischen Listen). So kamen auch ältere Editionen wieder ans Licht, zum Beispiel Leibniz’ Editionen der Listen aus Loccum. Ähnlich wie Jareckis Edition und seine Analyse der cluniazensischen Listen stieß auch diese Kompendiumsarbeit auf ein großes Echo unter den Forschenden – vor allem in der Geschichts- und Sprachwissenschaft. Aber zurück zu den ersten Forschungen auf dem Gebiet der Zeichensprache – den ersten Quelleneditionen. Von dort war es ein sehr langer Weg, der am Ende zu den Arbeiten von Bruce oder Rüffers führte, in denen gezeigt wird, was aus heutiger Perspektive als selbstverständlich gelten mag: dass man die Tradition der Stille in den Klöstern sehr wohl untersuchen kann, ohne sich von den Beschränkungen der Hauptquelle, der Signa-Listen, einschüchtern zu lassen. Wie wir noch im Laufe der Studie sehen werden, sind Signa-Listen sehr dankbare Quellen zur Erforschung der Zeichensprache der Mönche. Es ist also naheliegend, dass die meisten Listen bereits in kleineren oder größeren Studien erwähnt wurden. Zu den ersten veröffentlichten Quellen zur Zeichensprache gehören auch die Veröffentlichungen seitens der Mönche selbst, und zwar die der Mauriner (Benediktiner der Kongregation des hl. Maurus). Sie haben sich durch ihre Quelleneditionen zur Kirchengeschichte einen Namen gemacht, die als Geburtsstunde der Diplomatik gelten. Edmond Martène († 1739) veröffentlichte im Kapitel De locutione per signa seines Opus magnum De antiquis monachorum ritibus11 auch eine cluniazensische Liste. Weitere cluniazensische Listen wurden als Teil der Editionen der Consuetudines publiziert. Genannt seien hier Luca d’Achery (Spicilegium veterum aliquot scriptorum) mit der Edition der von Ulrich von Zell verfassten Consuetudines12 sowie Marquard Herrgott (Vetus disciplina monastica) mit der Edition der Consuetudines von Bernhard von Cluny.13 In den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückten nach den lateinischen Listen der Benediktiner allmählich auch zisterziensische bzw. benediktinische Listen, die in den jeweiligen Landessprachen verfasst worden waren. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sind zwei Editionen aus den kleineren zisterziensischen Klöstern Salem14 und Loccum15 entstanden. 1886 veröffentlichte Friedrich Kluge eine angelsächsische Liste, die aus der Kathedrale von Canterbury überliefert ist.16 Außerdem wurde bereits 1909 in der wichtigsten zisterziensischen Zeitschrift ein von Georg Müller verfasster Artikel über die Zeichensprache der Benediktiner und Zisterzienser veröffentlicht.17 Müller stand zu der Zeit noch keine Edition der mittelalterlichen Signa-Listen zur Verfügung, und auch die jüngere Salemer Liste kannte er noch nicht. Dafür fasste er grundlegende, hauptsächlich normative Quellen zusammen, in denen die Listen thematisiert werden, vor allem die 11 Martène 1736–1738.Für diese Arbeit ist vor allem Bd. 4 De antiquis monachorum ritibus von Bedeutung. 12 D’Achery 1655–1677. Neu abgedruckt in Migne, Patrologia latina 149, einer ebenfalls wichtigen Editionsarbeit, die hier erwähnt werden muss. 13 Herrgott 1726. 14 Salem 1891. 15 Schultzen 1913. Neu: Jarecki 1990 b. 16 Kluge 1885 (inkl. Übersetzung ins Deutsche). Eine moderne Edition der Liste und ihre Beschreibung bei Banham 1991 (inkl. Übersetzung ins Englische). 17 Müller 1909.

q 16 Zeichensprache als Forschungsgegenstand der Geschichts- und Sprachwissenschaft Regula Benedicti, das Gebräuchebuch der Zisterzienser Ecclesiastica Officia, aber auch Prophezeiungen oder kurze Anekdoten. Zudem kannte er die damals noch aktiv genutzte Liste der Trappisten, anhand derer er die Grundlagen der Verwendung der Zeichensprache unter den Mönchen beschreiben konnte. Bereits Müller erkannte in den zisterziensischen Listen die Kontinuität zwischen den mittelalterlichen und den heutigen Zeichen.18 Die weitere Entwicklung betrachtend kann man sagen, dass grundlegende Studien und Listeneditionen entweder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder – mit einigen wenigen Ausnahmen – erst wieder ab den 1980er Jahren veröffentlicht wurden. Dass sich das Wissen um die Zeichensprache der Zisterzienser verbreitete, ist vor allem zwei Editionen zu verdanken, nach denen die Listen in zwei Hauptgruppen geteilt werden – Ars und Siquis. 1938 publizierte Anselme Dimier eine Signa-Liste anhand der Manuskripte aus französischen Klöstern.19 Keine zehn Jahre später legte Bruno Griesser die bereits erwähnte entscheidende Edition der zweiten Gruppe der zisterziensischen Listen vor, die als Siquis bezeichnet werden. Alle bis dahin veröffentlichten Zeichenlisten stammen aus Männerklöstern. Von den Benediktinerinnen sind bis heute keine solchen Listen bekannt, von den Zisterzienserinnen kommt eventuell die 1951 von Van Rijnberk veröffentlichte Zeichenliste infrage.20 Bleiben wir aber noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl diese Zeit stark von den beiden Weltkriegen gezeichnet war, sind in der Zwischenkriegszeit eine ganze Reihe von Studien und Editionen auch zu anderen als den zisterziensischen Zeichenlisten erschienen. 1923 beschäftigte sich Paulus Volk mit der benediktinischen Zeichenliste aus dem Kloster St. Jakob in Lüttich; anhand dieser Edition entstand dann eine sehr interessante Studie zur Zeichensprache von Louis Gougaud.21 Gougaud knüpft hier an die Tradition Müllers an, doch bei der Beschreibung der Zeichen taucht er noch tiefer in die Geschichte hinein und sucht erste Hinweise in den Werken von Pachomius, Cassiodor sowie Hrabanus Magnus, aber auch in Cluny selbst. Er untersucht die Zeichen aus den Listen anhand ihrer Bildung und Ähnlichkeit mit dem dargestellten Gegenstand und beschäftigt sich mit der Frage, warum ein bestimmtes Zeichen so und nicht anders dargestellt wurde. Was die Frauenorden betrifft, so wurden vor allem die Birgitten erforscht. Ansgar Nelson veröffentlichte eine Studie über das schwedische Kloster Vadstena sowie die Edition der dortigen Zeichenliste, die stark von der zisterziensischen Tradition und der Zeichenliste Siquis beeinflusst wurde, wie auf den nächsten Seiten der hier vorliegenden Studie noch gezeigt wird.22 18 Die Zeichen der Trappisten waren bekannt und wurden publiziert als Teil der Anordnungen des Generalkapitels bzw. zur Zeit der Entstehung des Ordens als Teil der Reformbewegung. Zu der am häufigsten benutzten Liste: Verner 2005. 19 Eine moderne Edition stammt von Jarecki, siehe: Jarecki 1988. Dimier zeigte allerdings schon 1938, in welche Richtung die Forschung weiter gehen sollte: »Une histoire des signes monastiques reste encore à faire, où l’on étudierait leur origine et leur formation, leur évolution et leur transformation nées de la confusion et des traditions particulières, l’introduction de nouveaux signes selon les besoins des temps, comme aussi l’abandon de certains autres devenus superflus.« (Dimier 1938). 20 Van Rijnberk 1951. Doch wie die Analyse im Kapitel 3 zeigt, handelt es sich auch hier um eine Liste aus einem Männerkloster. 21 Gougaud 1929. 22 Nelson 1935.

 17 q 1953 ist ein Werk entstanden, dessen relativ bescheidene Resonanz bei Weitem nicht die Arbeit des Autors würdigt. Van Rijnberk wollte alle Lemmata aus allen ihm bekannten Zeichenlisten vergleichen, darunter auch einige bis dahin unveröffentlichte Listen in den jeweiligen Landessprachen. Er versammelte zwanzig verschiedene Zeichenlisten aus dem Umfeld der Benediktiner, Zisterzienser, Regularkanoniker und Trappisten, erstellte eine alphabetische Liste aller Lemmata mit der jeweiligen Beschreibung der Zeichen aus allen verwendeten Listen. Der Einheitlichkeit halber entschied er sich für Latein als Sprache und übersetzte folglich die in den Landessprachen verfassten Listen ins Lateinische. Es handelt sich damit um ein komplettes, komparativ angelegtes und alphabetisch geordnetes Zeichenverzeichnis der Listen ab dem 11. Jahrhundert.23 Allerdings ist das Werk erst posthum erschienen, und der Autor konnte seine letzten Korrekturen nicht mehr durchführen, was einige Ungenauigkeiten erklärt. Eine davon ist die ungleiche Verwendung von Manuskripten und edierten Zeichenlisten. So sind einerseits zwei Manuskripte einer Zeichenliste getrennt im Verzeichnis behandelt worden, andererseits wurde an anderer Stelle die Edition als Ausgangstext genommen, in der zwischen den beiden Manuskripten unterschieden wird. Walter Jarecki kritisierte vor allem die vorgenommene Übersetzung anderssprachiger Listen ins Lateinische, die zudem mit keinem Wort erwähnt wurde, sowie das Verschwinden der Informationen über die ursprüngliche Reihenfolge der Lemmata in den jeweiligen Listen zugunsten der einheitlichen alphabetischen Einordnung.24 Trotz dieser berechtigten Kritik sollte man das Van Rijnberk’sche Werk nicht unbeachtet lassen und es – mit dem Wissen um dessen Mängel – dennoch verwenden, denn die Anzahl der hier zusammengetragenen Zeichen ist in der Tat beeindruckend. Zwar weisen etliche Studien auf diese Arbeit hin, doch nur sehr wenige Autoren nehmen sie dabei wirklich zur Hand. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass sich bis jetzt nur sehr wenige Forscher mit der Analyse der Zeichen, deren Struktur und Bildung, in den jeweiligen Listen befasst haben und deswegen auf den Gebrauch des Verzeichnisses verzichteten. Ein weiterer Grund kann auch die nicht ganz so einfache Zugänglichkeit des Verzeichnisses sein. Die Einleitungsstudie wurde zwar im Sammelwerk Monastic Sign Language abgedruckt, jedoch ohne einen Hinweis auf das Verzeichnis selbst. Ohne genau nachzuschauen kann es leicht passieren, dass man es übersieht.25 In seiner Studie erkannte Van Rijnberk, dass es bei der Zeichensprache eben nicht um die Entwicklung eines neuen Kommunikationsmittels ging, sondern dass sie als Werkzeug für bestimmte Situationen diente, in denen man sich ver23 Van Rijnberk verwendete Lemmata aus folgenden Listen bzw. von folgenden Autoren: Bernhard von Cluny, Monasteriales indicia, Sion, Ulrich von Zell, Grammontenser Liste, Liste der Augustinerchorherren vom heiligen Victor, Hirsauer Liste, Liste aus St. Jakob in Lüttich, aus Le Jardinet, zwei spanische Listen, zwei zisterziensische Listen der Gruppe Ars (anhand der Manuskripte aus dem Klöstern Tamié und Paris), eine Trappisten-Liste nach Abbé Rancé, die Liste aus dem Kloster Loccum in den Leibniz’schen sowie Griesser’schen Editionen, eine andere von Leibniz edierte Liste, die Griesser’sche Edition der zisterziensischen Siquis-Listen und eine Liste aus dem portugiesischen Alcobaça. 24 Mehr zu den Kritikpunkten: Jarecki 1981, 9, Anm. 9 korrigiert die wichtigsten Verfehlungen: a) ungenaue Bibliografie (vlg. Becquet 1954, 193); b) ungenaue Anzahl der Lemmata in einzelnen Listen; c) Übersetzung der Liste aus den Landessprachen ins Lateinische ohne einen Hinweis darauf – diese Texte kann man nicht mit anderen in Latein verfassten ohne Weiteres vergleichen; d) an vielen Stellen wurde nicht genau zwischen den Texten unterschiedlicher Listen differenziert, und die Reihenfolge wurde geändert; e) die Grammontenser Liste wird als 1/2.6 bezeichnet, obwohl die Bezeichnung 1/2 sich auf Bernhards Consuetudines bezieht. 25 Aus diesem Grund könnten viele Forschende den Eindruck bekommen, der Hinweis auf das Van Rijnberk’sche Werk von 1953 bezöge sich eben auf seine Einleitungsstudie. Im Nachdruck wird das Verzeichnis mit keinem Wort erwähnt, und die Erstausgabe ist so gut wie nicht zu bekommen.

Schweigen in der monastischen Tradition

Die Stille ist ein unverzichtbarer Bestandteil nicht nur der monastischen, sondern der gesamten christlichen Tradition. Sie ist die Quelle, der die Zeichensprache entsprungen ist und die sie zum Leben braucht, damit sie nicht versiegt. Deswegen kann man Stille und Zeichensprache nicht voneinander trennen. Dafür ist es notwendig zu verstehen, wozu die Stille im Kloster da ist und wie sich in den einzelnen Gemeinschaften ihr Verständnis vom Flüstern hin zu absoluter Schweigsamkeit gewandelt hat. Schauen wir deshalb in den wichtigsten frühen monastischen Ordensregeln nach, wie ihre Autoren die Stille dort behandeln. Allerdings ist das Gebot des Schweigens, also der Verzicht auf Kommunikation, kein Alleinstellungsmerkmal des Mönchtums oder Christentums, sondern auch in anderen Religionen und Kulturen zu finden. Sehr anschaulich erklärt eine Geschichte, die bis heute in Klöstern nicht nur den Novizen erzählt wird, die Bedeutung der Stille: Ein Mann begab sich auf den Weg zu einem Mönch, der schon lange in der Klausur lebte, und fragte ihn: »Was hast du in der Stille gelernt und was bedeutet sie für dich?« Der Mönch, der gerade Wasser aus dem Brunnen schöpfte, antwortete dem Gast: »Schau auf den Brunnenboden! Was siehst du da?« Der Mann schaute in den Brunnen. »Ich sehe nichts.« Eine Weile verharrten die beiden in absoluter Ruhe, und dann sagte der Mönch zu seinem Gast: »Schau jetzt hinein! Was siehst du in dem Brunnen?« Der Mann gehorchte und gab als Antwort: »Jetzt sehe ich mich selbst – mein Spiegelbild im Wasser, aber auch den Himmel über meinem Kopf.« Der Mönch erwiderte: »Schau, wenn ich jetzt meine Kanne in den Brunnen eintauche, kommt das Wasser in Bewegung. Jetzt aber ist das Wasser ganz still. Und so ist die Erfahrung mit der Stille – nur in der Stille kann der Mensch sich selbst sowie den Himmel über sich sehen.«51 Das Schweigen erfüllt zwei Funktionen: Auf der einen Seite schützt es die Seele der Mönche vor der Gefahr sinnloser Geschwätzigkeit, und auf der anderen Seite öffnet es den Raum für Gebet und Kontemplation. Doch schweigen muss man lernen. Nicht aber dadurch, dass man sich in einen leeren Raum einschließt, sondern im Gegenteil, inmitten anderer Menschen, mitten im Alltag. Die Stille hat nämlich zwei Dimensionen: die innere und die äußere. Wenn ein Mönch den Zustand der Stille erreichen will, muss er beide Seiten zur Ruhe bringen können. Den Wert der Stille können wir laut Tomáš Kardinal Špidlík nur dann begreifen, wenn wir sie zusammen mit ihrem Gegenstück, der Sprache, betrachten.52 Schweigen bedeutet Frieden, Stille und Ruhe. Es ist eine spirituelle Lebensart, die sich mit der Zeit auch im westlichen Teil Europas verbreitet hat. Die Stille gilt als Ausdruck der Weltentsagung, die zu einer intensiveren Verbindung zu Gott führt. Aber auch als eine Art Absterben gegenüber der Welt als notwendige Voraussetzung für ein sündenfreies Leben. Schon die ersten Wüstenväter haben Wert darauf gelegt, was später Einzug in alle Ordensregeln fand: das Einhalten des Silentiums an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. Alle Autoren asketischer Schriften sind sich einig, dass die Stille zur Kontemplation und für ein anständiges religiöses Leben absolut notwendig ist; sowohl die äußere als auch die innere. Das älteste Schweigegebot findet sich bereits in den ersten Ordensregeln.53 Ganz konkret bei Pachomius († um 347) in der Regel für das von ihm gegründete Kloster bei Tabennisi in Oberägyp51 Zitiert nach: Ferrero 1996 (Übersetzung anhand des tschechischen Zitats: M. L.). 52 Dazu: Špidlík 2004, 167–175. 53 Eine Übersicht der Ordensregeln aus der Entstehungszeit des Mönchtums gibt De Vogüé 1985, inkl. eines alphabetischen Verzeichnisses 53–60. Allgemein zur Geschichte des Mönchtums: Frank 2010; Ventura 2006. Eine grundlegende Übersicht der Schweigegebote im frühen Mönchtum: Bruce 2001, hier 194–196. Auch die Apophthegmata Patrum (Sprüche der Wüstenväter) seien hier genannt, auf die sich die monastische Tradition bezieht.

q 24 Schweigen in der monastischen Tradition ten aus den Jahren 323 und 325.54 Pachomius’ Regel verbreitet sich später in fast unveränderter Form in vielen anderen Klosterregeln in ganz Gallien.55 Aus ungefähr derselben Zeit stammt auch die Anordnung von Basilius dem Großen († 379), der in Kappadokien wirkte. Darin wird den Mönchen auferlegt, sich in Schweigsamkeit zu üben und sich vor dem übermäßigen Lachen zu hüten. Denn zuallererst müsse die richtige Verwendung der Worte gelernt werden. Sollten Novizen oder auch später Mönche dazu nicht in der Lage sein, dann sollten sie lieber schweigen: Sie geben einen recht angemessenen Beweis ihrer Selbstentsagung, wenn sie ihre Zunge beherrschen, und gleichzeitig lernen sie dann schweigend, eifrig und aufmerksam von denen, die das Wort recht zu gebrauchen wissen, wie man fragen und einem jeden Antwort geben kann. Es gibt ja einen Ton in der Stimme, ein Maß in der Rede, die passende Zeit zum Reden und die besondere Art von Worten, die diejenigen kennzeichnen und auszeichnen, die ein Leben in der Frömmigkeit führen.56 Basilius fügt noch hinzu, dass man nur dann richtig schweigen lernt, wenn man alte Redegewohnheiten abgelegt hat. Die Stille führe außerdem dazu, dass man alte Gewohnheiten nach und nach vergesse, weil man sich nicht mehr in ihnen übe.57 Die frühen Mönche wurden also aufgefordert, komplett auf Worte zu verzichten, denn diese verunreinigten den Geist, zerstreuten die Aufmerksamkeit und lenkten von Gott ab. Damit sich das Schweigen verfestigt, nennt Basilius explizit bestimmte Orte im Kloster, wo zu bestimmten Uhrzeiten Reden untersagt ist. Demnach sollten die Brüder in der Kirche schweigen, beim Essen im Refektorium (dem Speisesaal) sowie nachts im Dormitorium (dem Schlafsaal). Die Regeln wurden später von allen westlichen Orden übernommen.58 Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts sind im Westen und Osten an die 30 unterschiedliche Ordensregeln entstanden. Das Ziel war jedoch nicht, ein eigenes Mönchtum zu etablieren, sondern die in der jeweiligen Gemeinschaft geltenden Regeln schriftlich festzuhalten. Auch in den ersten Texten aus den monastischen Gemeinschaften Westeuropas finden sich in ähnlicher Weise die Forderungen nach Stille mitsamt der Erläuterung deren Notwendigkeit. Fangen wir mit der sogenannten Regel der vier Väter an (Regula sanctorum patrum serapionis, Macharii, Pafnutii et alterius Macharii).59 Diese Regel bildet die Grundlage für spätere westliche Kloster54 Pachomius: Praecepta, Kp. 59–60 – PL 23, 75A. Mehr dazu vgl.: Markt 2008, hier 43–149. 55 Zu den frühen Klosterregeln vgl.: Puzicha 1990, hier auf S. 7–8 mit der Einleitung von Karl Suso Frank. Eine Klosterregel bedeutet nicht immer die Entstehung eines neuen Ordens. Das Ziel dieser Regeln war, für die eigene Klostergemeinde die Traditionen und Bräuche schriftlich festzuhalten, um damit ein verbindliches schriftliches Regelwerk zu schaffen. 56 Basilius von Caesarea: Die Mönchsregel, Großes Asketikon 13 – Frank 1981, 116–117. Die lateinische Edition: PL 103, 485–554. Die Paginierung der folgenden Zitate erfolgt nach der Übersetzung Franks. 57 Bei Basilius kommt die Sorge um den möglichen Rückfall in alte Gewohnheiten ziemlich häufig vor, zum Beispiel in der Frage Nr. 32, in der es darum geht, ob es sinnvoll ist, Familienmitglieder zu treffen – auch hier mit einem Verweis auf die Bibel: Num 14,4. Aus diesem Grund wird ein Treffen mit Familienmitgliedern nur dann erlaubt, wenn sich das Gespräch auf das Erheben und Verbessern der Seele richtet (Frank 1981, 151). Alle Bibelzitate nach der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 2016. 58 Basilius von Caesarea: Die Mönchsregel, Kleines Asketikon 208 – Frank 1981, 307–308. 59 Puzicha 1990, 18–19, Edition: De Vogüé 1982: Zweite Regel der Väter [zitiert als 2RP] (I, 274–283) sowie die Regel der vier Väter [zitiert als R4P] (I, 180–205); Regula Orientalis (II,462–495). In ähnlicher Weise werden mit dem Kloster Lérin noch weitere Regeln in Verbindung gebracht und zwar die Zweite und Dritte Regel der Väter [zitiert als 3RP], beide sind

 25 q regeln. Verfasst wurde sie in Südgallien an der Schwelle vom 5. zum 6. Jahrhundert, und sie beinhaltet viele Beschlüsse der dort jährlich stattfindenden Synoden. Die Regel wird mit dem Kloster auf der Insel Saint-Honorat, einer der Îles de Lérins, in Verbindung gebracht, das im 5. Jahrhundert zu einer Art Sprungbrett für das westliche Koinobitentum (gemeinschaftliches Mönchsleben im Kloster) wurde. Der Begründer dieses Klosters, Honoratus von Arles († 430), lernte während seiner Wanderschaft im Osten das dortige Mönchsleben kennen und schuf mit der Gründung einer monastischen Gemeinschaft einen Gegenpol zu dem damals verbreiteten Eremitentum nach dem Vorbild Martins von Tours. Honoratus setzte sich nun für ein Leben in der Gemeinschaft ein, mit manueller Arbeit, der stabilitas loci (Ortsgebundenheit an ein Kloster) und mit einer festen Tagesordnung nach einheitlichen Regeln. Dank der Regel der vier Väter sowie dadurch, dass die dortigen Mönche später vielerorts als Bischöfe eingesetzt wurden, verbreitete sich die Idee des Koinobitentums in ganz Gallien. Die Regel selbst beginnt mit der Erwähnung des Schweigegebots: »Keinem ist es erlaubt zu sprechen, und man höre kein Wort als nur das Wort Gottes, das aus der Schrift vorgelesen wird, und das (Wort) des Vorstehers oder derer, denen er zu sprechen aufgetragen hat, um etwas zu sagen, das sich auf Gott bezieht.«60 Zu Beginn des 6. Jahrhunderts ist wahrscheinlich auch die sogenannte Magisterregel (Regula Magistri) entstanden, vermutlich Vorbild und Grundlage für die bekannte Benediktsregel.61 Die Regel ist in Form von Fragen des Schülers und Antworten des Meisters verfasst und wurde deswegen von Benedikt von Aniane, einem wichtigen Benediktinermönch des 9. Jahrhunderts, als Magisterregel bezeichnet. Die Magisterregel beschäftigt sich mit dem Thema des erlaubten Gesprächs in einigen Kapiteln, aus denen hervorgeht, dass das Sprechverbot grundsätzlich überall galt und man immer eine Sondergenehmigung des Oberen brauchte. Als zentraler Text des Mönchtums, den spätere Gemeinschaften angewandt und weiterentwickelt haben, gilt die Benediktsregel (Regula Benedicti), vor allem Kapitel 6 Das Schweigen (De taciturnitate): Tun wir, was der Prophet sagt: »Ich sprach: Ich will auf meine Wege achten, damit ich nicht schuldig werde durch meine Zunge. Ich stellte meinem Mund einen Wächter auf, ich wurde stumm und demütig und schwieg sogar vom Guten.« Hier zeigt der Prophet: Wenn man der Schweigsamkeit zuliebe mitunter sogar darauf verzichten soll, Gutes zu sagen, um wie viel mehr muss man dann wegen der Sündenstrafe böse Worte meiden. Daher soll wegen der Bedeutsamkeit des Schweigens auch tüchtigen Jüngern nur selten die Erlaubnis zum Reden gegeben werden, selbst wenn es sich um gute, heilige und erbauliche Gespräche handelt, steht doch geschrieben: »Wenn du viele Worte machst, wirst du der Sünde nicht entgehen«, und an anderer Stelle: »Tod und Leben sind in der Gewalt der Zunge. [...] Albernheiten aber, unnützes und zum Ende des 5. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts entstanden. Dieser Monastizimus, der mit dem damals verbreiteten Eremitentum eines Martin von Tours konkurrierte, verbreitete sich vor allem dank der Mönche aus Lérin, die oft zu Bischöfen wurden, sowie dank der Ordensregeln, die als Grundlage für Reformen bzw. Neugründungen von Klöstern herangezogen wurden. 60 R4P 2,42. Vgl.: Puzicha 1990. 61 Überlegungen zum Ursprung der Magisterregel vgl.: die Einleitungsstudie in Frank 1989, 1–64. Edition Vanderhoven/Masai 1953 bzw. PL 88, 943–1052.

Die Geschichte der Zeichensprache

Gesten und Zeichen außerhalb der monastischen Welt Es waren nicht die cluniazensischen Mönche, die sich die Zeichensprache ausgedacht haben. Die Verständigung mittels Körperhaltung, Gesten oder Zeichen ist genauso alt wie die Menschheit selbst. Gebärden gehören zur nonverbalen Kommunikation, und diese wird von allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten verwendet. Die Kulturgeschichte kennt zufällige Gesten genauso wie durchdachte Pantomime, Letzteres vor allem aus dem römischen Theater. Nicht zuletzt gibt es auch das Fingerrechnen oder das Fingeralphabet, welches später Verwendung beim Unterrichten von Gehörlosen fand. Auch liturgische Handlungen werden von Gesten begleitet. So wird zum Beispiel zwischen verschiedenen Körperhaltungen unterschieden (Stehen, Knien, Prostration), es gibt unterschiedliche Kreuzsegnungen, Fußwaschungen etc.104 Als Gesten werden bewusste Körperbewegungen mit einer bestimmten Ausdrucksabsicht bezeichnet. Zu ihrer Ausführung werden keine Worte gebraucht. Es gibt Gesten, die den meisten Kulturen und Völkern bekannt sind, manche entspringen wiederum einer lokalen Konvention oder Tradition. Am häufigsten wird mit den Händen und Fingern gestikuliert, die auch in der Zeichensprache der Mönche das primäre Mittel der Kommunikation darstellen.105 Auch wenn man erst vom Mittelalter als »eine[r] Epoche der sprechenden und bedeutungsvoll verbindlichen Gebärde, deren Sprache wir lernen müssen«,106 spricht, beginnt die Geschichte der Gesten bereits in der Antike. Der Begriff »Gebärde« wird auf den folgenden Seiten als eine allgemeine Bezeichnung für bewusst ausgeführte Bewegungen von Körpern oder Körperteilen mit einer bestimmten Bedeutung verstanden. Die antike Welt war voller Gebärden. Ob erfolgreiche Rhetoriker, Mimen im Theater oder Soldaten inmitten des Schlachtgetümmels – alle haben gestikuliert. Das belegen zeitgenössische Beschreibungen, spätere Berichte genauso wie Darstellungen auf Gemälden, Gefäßen, Skulpturen und anderen Kunstgegenständen. Der antike Schriftsteller Quintilian († um 96) beschreibt im elften Buch seines Hauptwerkes De institutione oratoria (»Unterweisung in der Redekunst«) präzise Gesten und Gebärden, die ein erfolgreicher Rhetoriker bei seiner Redekunst einsetzen sollte. Er beschäftigt sich in diesem Buch vor allem mit der Kunst des Vortragens. Dabei knüpft er natürlich auch an ältere Werke an, zum Beispiel an Cicero, doch erst mit seinem Buch erreicht die Kunst der Rhetorik dank der dort entwickelten ausgefeilten Theorie ihre Hochphase, die mindestens bis ins 12. Jahrhundert andauerte. Quintilian liefert auch sehr genaue Analysen der Hand- und Fingergebärden, die für die vorliegende Studie besonders wichtig sind. Da die antiken Gebärden als eine Wiederholung der gesprochenen Sprache verstanden wurden, sollten sie parallel mit dem gesprochenen Wort ausgeführt werden, also weder vor noch nach dem Gesprochenen kommen. Doch die Gesten waren mehr als nur ein Hilfsmittel oder Begleiter der Worte. Sie trugen zu einem vollkommenen Verständnis des Gesagten bei, das ohne Gestik eindeutig unvollständig gewesen wäre.107 104 Zur liturgischen Gestik im Früh- und Hochmittelalter vgl.: Suntrup 1978. Zu Gesten, ihrer Entwicklung von der Antike bis zum Spätmittelalter, ihrer Bedeutung und Ausführung vgl.: Schmitt 2004 [bzw. deutsch 1992]. 105 Zu den grundlegenden Gesten und Gebärden mit den Händen: Köttling 1978. 106 Ohly 1968, 170. 107 Allgemein zu Quintilians Werk und seinem Vergleich mit anderen Arbeiten zur Rhetorik: Schmitt 2004, 30–37 [bzw. deutsch 1992, 41–44]; konkret zur Institutio oratoria: Seel 1977.

q 42 Die Geschichte der Zeichensprache Ein weiterer wichtiger Bereich, im dem viel gestikuliert wurde, war das antike Theater. In der darstellenden Kunst wurden Gebärden vor allem in pantomimischen Stücken eingesetzt, wo die gesprochene Sprache kaum oder gar keine Verwendung fand. Doch die Gestik spielte natürlich auch bei Dialogen und anderen szenischen Darstellungen eine wichtige Rolle. Überliefert wurden die antiken Theatergebärden unter anderem in einigen Manuskripten aus dem 11. Jahrhundert, die eine für die Erforschung derselben wichtige Quelle bilden.108 Es handelt sich um die Manuskripte von Terenz’ Komödien, in denen auch die Gestik der Darsteller bildlich dargestellt ist. Es ist davon auszugehen, dass die Illustrationen Kopien antiker Abbildungen sind. Vermutlich handelte es sich um Anleitungen für Schauspieler, die anhand der Abbildungen die Gebärden für ihre Rolle lernen sollten. Die Gestik war genau festgelegt, und die Schauspieler haben sie vermutlich gut beherrscht. Darüber hinaus gab es auch spezielle Gesten für Mimen, deren Kunst offenbar sehr gefragt war: Nach überlieferten Angaben gab es in Rom im Jahr 19 n. Chr. sechstausend professionelle Mimen.109 Cassiodor († 583) beschreibt in einem seiner Briefe die Pantomime als die Kunst der »sprechenden Hände« (loquacissimae manus) und »Sprachfinger« (linguosi digiti), die der Muse Polymnie entstamme.110 Die Kunst der Mimen hat auch Augustinus († 430) beschrieben, dem aufgefallen war, dass die Mimen vor allem bekannte und beliebte Gesten verwendeten. Diese Art Pantomime ging nach dem Zerfall des Römischen Reiches verloren. Seinen Anteil daran mag auch das sich in dieser Zeit verbreitende Christentum gehabt haben, das sich entschieden gegen solche Künste stellte. Es lässt sich jedoch weder bei den Gesten der Rhetorik noch bei denen des Theaters feststellen, inwiefern und ob man von einer kontinuierlichen Verwendung derselben Gebärden und Zeichen bis ins Mittelalter sprechen kann. Denn aufgrund der sehr spärlichen Überlieferung von schriftlichen oder ikonografischen Aufzeichnungen ist kein aussagekräftiger Vergleich möglich.111 Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die stille Form der Kommunikation sowohl ein fester Bestandteil der meisten lauten Berufe unserer modernen Zeit ist, als auch unter allen sogenannten Naturvölkern bekannt ist, die oft über eine sehr ausgeprägte Form der nonverbalen Kommunikation verfügen. Ein Kapitel für sich ist außerdem die Gebärdensprache der Gehörlosen. Ein weiterer Bereich, in dem die Sprache der Finger zum Einsatz kam, ist das Fingerrechnen. Es handelt sich dabei einerseits um eine »natürliche« Verwendung der Finger zum Zählen, wie sie zur Wiedergabe der Zahlen eins bis zehn auch heute vor allem bei Kindern gebräuchlich ist. Andererseits war es auch ein ausgeklügeltes System, in dem Zahlen bis zu einer Million dargestellt werden konnten. Diese Methode wurde unter anderem zum Errechnen des Ostertermins verwendet. Das zweite Fingerzahlsystem wird ausführlich in dem anonym verfassten Werk Romana computatio (»Römische Berechnung«) beschrieben, das um 688 entstand.112 Beschrieben werden hier 108 Van Rijnberk 1953, 18. 109 Van Rijnberk 1953, 18. Die Angabe wurde übernommen aus: Félix Reynault: Le langage par geste. In: La Nature 26 (1898), 315–317. 110 Cassiodorus: Variarum liber IV, epistola 51 – PL 69, 643. 111 Der Suche nach solcher Kontinuität widmete sich der italienische Forscher Andrea De Jorio (De Jorio 1832), der behauptet, dass sich in der neapolitanischen Zeichensprache die antike Kunst der Mimik widerspiegelt. Carl Sittl (Sittl 1890) hingegen will diese These widerlegt wissen. 112 Romana computatio, 106–108.

Gesten und Zeichen außerhalb der monastischen Welt 43 q Zeichen, die Zahlenwerte bis zu einer Million darstellen. Mit der linken Hand wurden Zahlen von 1 bis 99 dargestellt, mit der rechten die von 100 bis 9 999. Höhere Zahlenwerte wurden durch Kombination beider Hände bzw. durch verschiedene Handhaltungen angezeigt, indem zum Beispiel auf verschiedene Körperteile wie Brust, Magen oder Oberschenkel gezeigt wurde. Diese anonyme Abhandlung hat später der angelsächsische Geschichtsschreiber und Theologe Beda Venerabilis († 735) in seinem Werk »Büchlein über das Sprechen mit Zifferngesten und die Berechnung der Zeiten« (De loquela per gestum digitorum et temporum ratione libellus) verwendet.113 Dank Bedas Popularität verbreitete sich die Methode durch das damalige Europa. Beda sah die Vorteile dieser Methode in zweierlei Hinsicht: zum Errechnen des Ostertermins und als gute Merkhilfe beim Kopfrechnen. Beda schlägt das Zahlzeichensystem auch als Kommunikationsmittel vor, indem man die Zahlen durch aufeinanderfolgende Buchstaben des Alphabets ersetzt. So war das Zeichen für »A« identisch mit dem für »eins« etc. Doch solche Zeichen wären für die alltägliche Kommunikation der Mönche kaum zu gebrauchen gewesen. Beda Venerabilis verstand sie auch vielmehr als eine Übung für den Geist und nicht als Ersatz für die gesprochene Sprache.114 Die Zahlendarstellung mithilfe von Zeichen war sehr verbreitet. In einer seiner Predigten gibt der hl. Hieronymus († 420) ein Beispiel für die Verwendung solcher Zeichen, in seiner Erläuterung des Gleichnisses vom Sämann (Mt 13,3–9). Für die Zahlen 30, 60 und 100 verwendete er die Handzeichen, wie sie aus der römischen Antike überliefert worden waren.115 Ältere Beschreibungen von Fingerzahlsystemen sind nicht überliefert, dennoch lässt sich behaupten, dass das System auch in der Spätantike bekannt war.116 Nachgewiesen ist das Fingerrechnen für Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern.117 Eine letzte wichtige Beschreibung von Fingerzahlen findet sich bei Hrabanus Maurus († 856) in seinem De computo (»Über das Rechnen«), vor allem im Kapitel sechs »Wie Ziffern mit Fingern bezeichnet werden« (Quomodo numeri digitis significentur).118 Der Abt des Klosters Fulda und Erzbischof von Mainz beschreibt eine Unterhaltung zwischen einem Meister und seinem Schüler darüber, wie man die Zahlen von eins bis eintausend mithilfe der Finger darstellen kann. Es wird erwähnt, dass man diese Methode zum Errechnen des Ostertermins sowie anderer beweglicher Feiertage benutzte. Erst mit der Verbreitung von Rechentafeln waren die Fingerzahlsysteme überholt. Erste Belege der Verwendung eines Fingeralphabets für die stille Kommunikation, wie sie Beda Venerabilis vorgeschlagen hatte, finden sich erst in der Frühen Neuzeit bei Melchior de Yebra (1526–1586). Dieser Franziskanermönch hinterließ das Handbuch Refugium infirmorum (»Zufluchtsort der Kranken«) mit einer alphabetisch geordneten Beschreibung der Buchstaben A bis Z mitsamt den Holzschnitten der jeweiligen Handzeichen. Dieses Alphabet war einerseits an Kranke gerich113 Beda Venerabilis: De loquela per gestum digitorum et temporum ratione libellus – PL 90, 685–698. Eine vereinfachte Beschreibung der Zahlbezeichnungen siehe: Groß 1996, 916; neuerdings dann: Bruce 2007 a, 57–58. 114 Vgl.: Bruce 2007 a, 58–60. 115 Hieronymus: Epistola 48,2 – PL 22, 495AB. Auf diese Überlieferung machte bereits Bruce aufmerksam. 116 Vgl.: Williams/Williams 1995, 587–608. 117 Nelson 1935, 26sq. Er beruft sich auf Herodot, Plautus, Ovid oder Seneca. 118 Hrabanus Maurus: De computo – PL 107, 728, bes. 675.

q 44 Die Geschichte der Zeichensprache tet, die aufgrund ihrer Krankheit nicht sprechen konnten, und andererseits als Hilfe für Beichtväter gedacht, damit sie auch den Gehörlosen die Beichte abnehmen konnten.119 Yebra war vermutlich der erste, der in Spanien das Fingeralphabet veröffentlichte, doch sicherlich nicht derjenige, der es sich ausgedacht hatte. Auch er knüpfte an ältere Traditionen an, wie sie von den antiken Autoren überliefert worden waren. Die Mönche, die später Gebärden für ihre stille Kommunikation nutzten, konnten ebenfalls aus dieser Tradition schöpfen. Doch bis sich die Zeichensprache hinter den Klostermauern verbreitet, wird noch einige Zeit vergehen. Zu den ersten dort genutzten Möglichkeiten, Gespräche einzudämmen, gehörten die sogenannten vernehmbaren Zeichen. Vernehmbare Zeichen der ersten Mönche »Es herrsche tiefstes Schweigen, kein Flüstern, kein Laut sei dann zu hören, nur die Stimme des Lesers. Was die Brüder beim Essen und Trinken benötigen, sollen sie einander so reichen, dass keiner um etwas zu bitten braucht. Fehlt aber dennoch etwas, so bitte man darum eher mit einem vernehmbaren Zeichen als mit Worten.« (RB 38,5–7) Benedikt spricht hier von Zeichen (signum), die die Brüder im Refektorium statt der Worte verwenden sollten, wenn sie etwas zu essen oder trinken benötigten. Er nennt es ein vernehmbares Zeichen, eine Vorstufe der Zeichensprache. Diese Kommunikationsart war bereits bei den Wüstenvätern verbreitet. Auch da war der Anlass, Stille zu bewahren und dabei eine kommunikative Situation lösen zu können, sodass die Information übermittelt, die Stille aber möglichst nicht gestört wird. Sucht man nach den Anfängen der Zeichensprache bei den Mönchen, offenbart sich ziemlich bald eine konkrete Hürde – und zwar die der Terminologie. Am häufigsten findet man den Begriff signum, der allerdings bereits in der Benediktsregel in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird, bezüglich derer manchmal selbst aus dem Kontext nicht ganz ersichtlich wird, welche gemeint ist. Für die Gemeinschaft der Mönche war das allerdings kein Problem, denn sie lebten ja die Regel, und der Regeltext sollte eben diese gelebte Praxis abbilden. Das Wort signum kann entweder auf einen Glockenlaut verweisen oder auf ein anderes akustisches Signal, mit dem die Mönche zusammengerufen wurden bzw. das den Anfang oder das Ende einer bestimmten Tätigkeit einläutete.120 Es kann sich um ein Zeichen handeln, mit dem der Obere das Ende eines stillen Gebets signalisierte, zum Beispiel ein leichtes Klopfen auf die hölzerne Chorbank.121 Signum kann aber auch die Unterschrift eines Mönchs, der des Schreibens mächtig war, auf der Professurkunde bedeuten.122 Des Weiteren wird in dieser Studie, sofern es nicht aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, zwischen Sprachzeichen (signum der Zeichensprache) und Zeichen im Allgemeinen unterschieden. 119 Edition und Reprint in: Oviedo 2007. 120 RB 22,6; 43,1; 48,12. 121 RB 20,5. 122 RB 58,20.

Vernehmbare Zeichen der ersten Mönche 45 q Die mittelalterlichen Autoren verwenden für ein abgesprochenes Zeichen mit der Hand meist die Begriffe signum oder nutus.123 Der angelsächsische Autor der Signa-Liste aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts verwendet ausschließlich indicia bzw. tacn im Altenglischen. Beim Studium einer Ordensregel spielt also die Lesart des Begriffs signum eine besonders wichtige Rolle, die entscheidet, ob ein Glockenlaut oder ein Kommunikationsmittel der Zeichensprache gemeint war. Ganz eindeutig ist hingegen die Bezeichnung signa loquendi – Sprachzeichen, wie die sogenannten Signa-Listen meist genannt werden. Die Verben, die am häufigsten für das Verwenden der Zeichen unter den Ordensbrüdern gebraucht werden, sind: significare, signo petere, signo facere, per signa insinuaria, indiciis indicare, nutibus ostendere. Vernehmbare Zeichen fanden vor allem im Refektorium Verwendung, wo die Einforderung von Stille wohl am häufigsten mit der Kommunikationsnotwendigkeit während der Essenausgabe kollidierte. Der ägyptische Mönch und Begründer des Koinobitentums Pachomius († um 347) verordnet in der ersten bekannten Ordensregel: »Wenn am Tisch etwas nötig ist, wagt niemand zu sprechen, aber man gibt den Ministranden durch einen Ton ein Zeichen.« (Si aliquid necessarium fuerit in mensa, nemo audebit loqui, sed ministrantibus signum sonitu dabit.)124 Solch ein vernehmbares Zeichen könnte zum Beispiel ein leises Klopfen auf eine Holzplatte sein, ein Zeichen, das bis heute noch in vielen Klöstern am Ende des gemeinsamen Essens oder des Chorgebets gebraucht wird. Doch was sich noch alles hinter dieser Regel verbirgt, ist schwer zu sagen. Pachomius’ Regel findet sich in fast unveränderter Form in vielen Klöstern wieder, vor allem in Gallien. Für Historiker sind Pachomius’ Praecepta (»Vorschriften«) die wichtigste Quelle, in der alle Bedeutungsvarianten der Begriffe »Zeichen« und »Laut« zu finden sind, die für die Geschichte des Mönchtums eine Rolle spielen und die man auseinanderhalten muss. Auch Pachomius erwähnt in einem weiteren Kapitel ein Zeichen, das zu Beginn der Arbeit gegeben wird; hier handelt es sich vermutlich um eine Glocke. Auch wer sich waschen wollte, sollte erst auf ein solches Zeichen warten.125 Der Abschnitt, der für die Anfänge der Zeichensprache am interessantesten ist, bezieht sich auf das Einhalten der Stille in der Mühle: »Wenn sie Mehl mit Wasser kneten und den Teig backen, soll niemand mit dem anderen sprechen. Auch morgens, wenn sie die Brote auf Brettern zum Backhaus oder zu den Backöfen bringen, sollen sie ebenfalls Stille wahren und nur etwas von den Psalmen und der Heiligen Schrift singen, bis die Arbeit vollendet ist. Wenn sie etwas Notwendiges brauchen, sollen sie nicht sprechen, sondern denjenigen zweimal ein Zeichen geben, die bringen können, was sie brauchen.«126 Das ist vermutlich der einzige Beleg dafür, dass die ägyptischen Mönche untereinander Zeichen verwendet haben. Inwiefern es sich um vereinbarte Zeichen handelte oder um solche, die 123 Eine sehr gute Übersicht über das Bedeutungsspektrum des Begriffs signum, signare bei: Du Cange 1886, 482– 486, signum im Sinne eines Zeichens der Zeichensprache der Mönche unter Punkt 9. Vgl. auch die Erklärung zu nota: ebd., Bd. 5, 609. 124 Pachomius: Praecepta 33 – PL 23, 71C. 125 Pachomius: Praecepta 58 – PL 23, 75A; 68 – PL 23, 66D 126 Pachomius: Praecepta 116 – PL 23, 79D–80A (Quando farinam conspergunt aqua, et massam subigunt, nemo loquatur alteri. Mane quoque quando tabulis ad furnum vel ad clibanos deportant panes, simile habebunt silentium, et tantum de Psalmis et de Scripturis aliquid decantabunt, donec opus impleatur. Si quid necessarium habuerint, non loquentur, sed signum dabunt bis qui possunt afferre, quibus indigent.).

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