Leseprobe

ROSALBA CARRIERA Perfektion in Pastell

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3 ROSALBA CARRIERA Perfektion in Pastell Herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Roland Enke, Stephan Koja Sandstein Verlag

6 7 9 11 12 14 21 31 43 INHALT Marion Ackermann VORWORT Helmut Schleweis GRUSSWORT Stephan Koja GELEITWORT DANK & LEIHGEBER BIOGRAFIE Roland Enke ZUR AUSSTELLUNG Angela Oberer ROSALBA CARRIERA Die Pastellkönigin aus Venedig Bernardina Sani DER JUNGE FRIEDRICH AUGUST II., PRINZ VON SACHSEN und Rosalba Carriera: Notizen über seine Aufenthalte in Venedig Angela Oberer VENEDIGS »WEISSE ROSE« Wie Rosalba Carriera zur »Ersten Malerin Europas« wurde

55 67 79 93 Tiziana Plebani DER ÖFFENTLICHE RAUM Rosalba Carriera und die neuen Lebenswege bürgerlicher Frauen in Venedig Desmond Shawe-Taylor »A FLOCK OF TRAVELLING BOYS« Rosalba Carrieras Porträts von britischen und irischen Italienreisenden Katja Paul ROSALBA PINXIT Zur Reproduktionsgrafik Rosalba Carrieras Roland Enke DAS »KABINETT DER ROSALBA« Zur Geschichte der Dresdner Pastellsammlung KATALOG 104 Venedig 118 Rosalba Carriera 132 Netzwerk 148 Reisen 158 Mythologie und Religion 176 Grand Tour 184 Porträts 204 Kosmetik und Mode 214 Pastellkabinett 220 S antini – Die Dreikönigen-Zettel 226 Restaurierung 233 Abgegeben, verkauft oder verloren – Ehemalige Werke von Rosalba Carriera aus der Dresdner Galerie ANHANG 266 Personenregister 270 Literatur 278 Bildnachweis 279 Autor*innen 280 Impressum

12 BIOGRAFIE 1673 Geburt am 12. Januar 1673 als erste Tochter des Anwalts Andrea Carriera und Alba Foresti in der Rio di San Barnaba in der Contrada di San Basilio in Venedig. Gemeinsam mit ihren beiden Schwestern Giovanna (1675–1737) und Angela Cecilia (1677–1757) umfassende Schulbildung mit Unterricht in Stickerei, Spitzenherstellung, Musik, Latein und Französisch. Ob Rosalba eine autodidaktische Ausbildung erfährt oder durch Künstler, ist nicht gesichert. Als mögliche Lehrmeister werden Jean Steve, Antonio Lazzari, Giuseppe Diamantini, Antonio Balestra, Sebastiano Bombelli, Federico Bencovich, Felice Ramelli und Benedetto Luti genannt. um 1695 Frühe Einrichtung ihrer Werkstatt, wo sie ihre Schwestern in Malerei unterrichtet und ihre ersten Miniaturen anfertigt. Giovanna wird zur wichtigsten Mitarbeiterin in der Werkstatt. ab 1700 Sie führt zahlreiche Korrespondenzen mit Künstlern und Kunsthändlern sowie mit internationalen Auftraggebern. Beginn ihrer engen und lebenslangen Freundschaft zu Antonio Maria Zanetti, von dessen Netzwerk aus Kunstliebhabern sie profitiert. Vermutlich rät er ihr, mit Pastellstiften zu malen. 1704 Im Briefwechsel mit Christian Cole, erster Sekretär des englischen Botschafters in Venedig, ist der erste Erwerb von Pastellkreidestiften dokumentiert. 1705 Mit Unterstützung von Christian Cole erste öffentliche Anerkennung als Miniaturmalerin mit ihrer Aufnahme in die römische Accademia di San Luca am 27. September 1705 mit dem höchsten Titel academica di merito. 1706 Sie erhält zahlreiche Aufträge des deutschen Adels, so von Christian Ludwig II., Herzog von Mecklenburg, und Therese Kunigunde von Polen und Kurfürstin von Bayern. Eine Einladung vom pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm II., als Hofmalerin in seine Dienste in Düsseldorf zu treten, lehnt sie ab. 1709 Aufträge von europäischen Fürstenhäusern, darunter Friedrich IV., König von Dänemark, der sie während seiner Reise in Venedig besucht. 1712/13 Der sächsische Kronprinz Friedrich August (II.) trifft auf seiner Grand Tour zum ersten Besuch in Venedig ein. Er lernt Carriera kennen: Beginn seiner lebenslangen Faszination ihrer Pastellmalerei. Durch Agenten versucht er in den folgenden Jahrzehnten, alle angebotenen Werke von ihr zu kaufen. 1715 Bekanntschaft mit dem französischen Bankier und Sammler Pierre Crozat, angesehener Berater des Regenten Philippe II., Herzog von Orléans, in Venedig. Sie korrespondieren bis zum Tod Crozats 1740 regelmäßig. 1718 Erstes Treffen mit dem französischen Sammler Pierre-Jean Mariette während seiner Italienreise, mit dem sie eine enge, lebenslange Freundschaft verbindet.

13 1720 Aufnahme in die Accademia Clementina in Bologna am 14. Januar 1720. 1720/21 Auf Einladung von Crozat reist sie nach langem Zögern imMärz mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihrem Schwager Antonio Pellegrini nach Paris. Sie wohnen im Hôtel des Sammlers, wo sie bedeutende Persönlichkeiten wie John Law, Charles de La Fosse, Jean-Antoine Watteau, Nicolas de Largillière, François de Troy, Antoine und Charles-Antoine Coypel, Nicolas Vleughels und Hyacinthe Rigaud trifft. Ihr Pariser Tagebuch spiegelt ihren triumphalen Erfolg: Es nennt die vielen Porträtaufträge, die sie als nun gefragte Künstlerin ausführt, darunter auch mehrere Porträts des französischen Königs Ludwig XV. Am 26. Oktober 1720 Aufnahme in die französische Académie royale de peinture et sculpture als erste ausländische Künstlerin. Rückkehr nach Venedig im April –Mai 1721. 1723 Arbeit für den britischen Geschäftsmann Joseph Smith, der als ihr Agent ihre Pastelle an Kunden in England verschickt, aber auch selbst 38 Werke von ihr erwirbt. Sie wurden später von George III., König von Großbritannien und Irland, erworben. Ihre Werke erfreuen sich besonders großer Beliebtheit in der britischen Oberschicht. Etwa fünfmonatiger Aufenthalt in Modena, Anfertigung von Porträts der drei Prinzessinnen des Herzogs d’Este. 1728 Die kinderlose Carriera nimmt die 14-jährige Nichte des befreundeten Kupferstechers Antonio Dall’Agata, Felicità Sartori, in ihrem Haus als Schülerin auf. Zahlreiche Briefe belegen ihr freundschaftliches Verhältnis, das zeitlebens anhalten wird. 1730 Reise an den kaiserlichen Hof in Wien, wo sie zahlreiche Porträts der Habsburgerinnen malt. 1737 Rosalbas geliebte Schwester und unersetzliche Gehilfin Giovanna stirbt. 1738 Tod der Mutter, die ihre älteste Tochter tatkräftig unterstützt hatte. In Carrieras Werkstatt arbeiten zeitweise Margherita Terzi, Marianna Carlevarijs und Luisa Bergalli, mit Angioletta auch die Schwester von Felicità Sartori. 1746 Die seit Jahren fortschreitenden Sehschwierigkeiten zwingen die Malerin, ihre künstlerische Tätigkeit zunächst aufzugeben. Mehrere Operationen geben ihr nur kurz die Sehkraft zurück. Ihre Schwester Angela kümmert sich um sie. In Dresden wird im zur Gemäldegalerie umgebauten ehemaligen Stallhof das einzigartige »Kabinett der Rosalba« eröffnet, in dem ausschließlich Pastelle, vornehmlich von Carriera, präsentiert werden. 1751 Am 11. Januar lässt sie an Mariette schreiben, dass sie vollständig erblindet sei. 1755 Ein unbekannter Abt publiziert ihre erste Biografie Memorie intorno alla vita di Rosalba Carriera, celebre pittrice veneziana, scritte dall’Abate NN. (Memoiren über das Leben von Rosalba Carriera, der berühmten venezianischen Malerin, verfasst vom Abt NN). 1757 Rosalba Carriera stirbt am 15. April 1757 im Alter von 84 Jahren. Sie wird im Familiengrab in der Pfarrkirche Santi Vito e Modeste (heute zerstört) neben ihrer Schwester Giovanna bestattet. Sie zählte zu den berühmtesten und wohlhabendsten venezianischen Künstlerinnen ihrer Zeit.

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21 Angela Oberer Die Pastellkönigin aus Venedig ROSALBA CARRIERA

22 Rosalba Carriera kam am 12. Januar 1673 in Venedig als Tochter von Alba Foresti und dem für die Republik arbeitenden Andrea Carriera zurWelt. Zehn Tage später wurde sie auf den Namen Rosalba Zuanna (Giovanna) getauft.1 Im Oktober 1675 wurde eine zweite Tochter geboren, die bei ihrer Taufe ebenfalls den Namen Rosalba Giovanna erhielt, vermutlich aufgrund der prekären gesundheitlichen Situation der Erstgeborenen. Angesichts eines befürchteten frühen Ablebens des ersten Kindes entschieden sich die Eltern, ihrer zweiten Tochter dieselben Namen zu geben.2 Zur Unterscheidung wurde die Erstgeborene Rosalba genannt, während ihre jüngere Schwester als Giovanna bekannt wurde, innerhalb der Familie auch Nenetta oder Zanina genannt. Weitere zwei Jahre später, im September 1677, kam die dritte Tochter zur Welt, Anzola (Angela) Cecilia. Alle drei Töchter wurden von ihrer Mutter in der berühmten venezianischen Stickkunst unterrichtet, doch auch Lateinisch, Französisch und Musik waren Teil des Erziehungsprogramms der Mädchen, was über den üblichen Ausbildungsstandard nichtadliger Töchter in Venedig am Ende des 17. Jahrhunderts weit hinausreichte.3 Zu welchem Zeitpunkt Rosalba begann, sich der Malerei zu widmen, ist nicht bekannt. Auch die Frage, wer sie zuerst in Kunst unterrichtete, wird aufgrund der vagen Quellenlage weiterhin diskutiert.4 Wir wissen jedoch, dass sie früh begann, ihre Schwestern in Malerei zu unterrichten, ganz den Vorstellungen der Zeit entsprechend, in der die Erstgeborene Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernahm. Giovanna sollte sich über die Jahre hinweg zur wichtigstenWerkstattgehilfin und Assistentin Rosalbas entwickeln. Sie unterstützte und begleitete ihre ältere Schwester zeitlebens, während Angela die Malerei weitgehend aufgegeben zu haben schien und um 1703/04 den Maler Giovanni Antonio Pellegrini heiratete. Im Jahr 1700 zog die Familie Carriera aus dem Rio di San Barnaba in ein Haus am Canal Grande neben der Ca’ Venier dei Leoni, heute bekannt als die Peggy Guggenheim Collection (Abb. 1). Im gleichen Jahr begann Rosalba, ihre umfangreiche Korrespondenz zu sammeln. Diese 1985 von Bernardina Sani edierten Schriftstücke stellen einen unermesslichen, in der Kunstgeschichte einzigartigen Schatz an Dokumenten dar, der nach wie vor reichlich Stoff für Studien zu Carriera bietet.5 Aus den frühen erhaltenen Abb. 1 Die Ca’ Biondetti Palazzo der Familie Carriera am Canal Grande in Venedig

23 Briefen wird unter anderem ersichtlich, dass die Künstlerin mit Ende 20 bereits über ein weitgefächertes internationales Netz an Kunden verfügte, die ihre erstenWerke – Miniaturen – entweder direkt bei ihr bestellten oder sich die kleinformatigen Bildchen nach Hause schicken ließen. Doch auch in Italien und Venedig selbst konnte sie einflussreiche Freunde aufweisen.6 AntonioMaria Zanetti, der Kunst sammelte, sich als Schriftsteller und selbst als Künstler betätigte und heute vor allemwegen seiner Karikaturen bekannter Persönlichkeiten der venezianischen Kunst- und Kulturwelt berühmt ist, gehörte, wie später auch die Autorin und Übersetzerin Luisa Bergalli, zu Carrieras engen, lebenslangen Freunden und Unterstützern.7 Auch Intellektuelle wie Giovanni Battista Recanati oder Malerkollegen wie Sebastiano Bombelli, Antonio Balestra oder Giovanni Felice Ramelli zählten zu den engeren Freunden der Künstlerin und ihrer Familie. International anerkannte Stars wie die Tänzerin Barbara Campanini (s. Kat. 50) oder die Sängerin Faustina Bordoni (s. Kat. 51) entschieden sich für Carriera, um sich von ihr porträtieren zu lassen. Die erste offizielle Anerkennung ihrer Errungenschaften in der Malerei erhielt Carriera im Jahr 1705, als sie am 27. September als Miniaturmalerin offiziell in die Accademia di San Luca in Rom aufgenommen wurde. Dabei gilt es hervorzuheben, dass ihr die besondere Auszeichnung einer accademica di merito (Akademikerin aufgrund ihrer Verdienste) zugesprochen wurde anstatt der für Frauen üblicheren Stellung eines Ehrenmitglieds, accademica d’onore.8 Als Bewerbungsstück präsentierte sie nach langem Zögern eine Miniatur, die ein junges Mädchen mit einer Taube darstellt, eine Allegorie der Unschuld, wie sie in den frühen Führern der Akademie bezeichnet wurde (Abb. 2).9 Der Beginn des 18. Jahrhunderts und ihre erste Akademiemitgliedschaft fielen mit einer neuen Phase in Carrieras künstlerischer Laufbahn zusammen, in der sie die Pastellmalerei für sich entdeckte. Ähnlich der Fragestellung, wer die Künstlerin anfänglich ausgebildet hat oder wie genau sie zur Miniaturmalerei kam, kann auch die Frage danach, durch wen oder wie sie auf die Pastellkunst stieß, Abb. 2 (Kat. 31) Rosalba Carriera Mädchen mit Taube (Die Unschuld) um 1705 · Tempera auf Elfenbein · 10,5×8,5 cm Rom, Accademia Nazionale di San Luca, Inv.‑Nr. 442

24 bislang nicht eindeutig beantwortet werden.10 Ein gesichertes Datum liefert jedoch ein Brief Christian Coles, der sich ab 1707 als Sekretär des britischen Botschafters Lord Manchester in Venedig aufhielt. Das Schreiben bestätigt, dass sie spätestens 1704 damit begonnen hatte, sich der Pastellmalerei zu widmen.11 Für den Verkauf sowohl ihrer Miniaturen als auch ihrer Pastelle wusste sie geschickt den unermesslichen Strom Reisender zu nutzen, die es nach Venedig drängte. Es wird geschätzt, dass sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu 30000 Besucher pro Jahr in der Stadt aufhielten, um die einzigartige Topografie, Opern- und Konzertbesuche, den Karneval, Kurtisanen, das Glücksspiel oder sonstige Vergnügungen zu genießen, für die Venedig berühmt war.12 Für nordeuropäische Reisende, die auf ihrer Grand Tour Italien besuchten, bedeutete ein Abstecher in Carrieras Atelier bald einen obligatorischen Halt auf ihrer Reise, wo sie deren Werke direkt vor Ort bestellen und in ihrem Gepäck nach Hause bringen konnten. In England wurde die Malerin so bekannt, dass auch nicht authentische Bilder als Werke von »Roselby« angeboten wurden.13 Doch auch ihre weit gestreuten Beziehungen zu Kunstliebhabern und Sammlern in Nordeuropa, die sie über den Postweg oder mithilfe von Kurieren mit ihren Werken versorgte, waren wichtiger Bestandteil ihres beruflichenWerdegangs. Dabei sei in erster Linie der Hof in Dresden genannt, der unter August demStarken begann, eine Pastellsammlung aufzubauen, die August III. weiter ausbaute. Carrieras enormer Erfolg resultierte schließlich darin, die Pastellmalerei in ganz Europa bekannt und beliebt zu machen. Neben dem Begehren, ein Werk von Carriera zu besitzen, wuchs international der Wunsch, die berühmte Malerin am eigenen Hof zu verpflichten. In Düsseldorf etwa waren es Johann Wilhelm von der Pfalz und seine zweite Frau Anna Maria Luisa de’ Medici, die als Gönner auftraten und Carriera 1710 einluden, für sie zu arbeiten. Der Kurfürst hatte bereits zahlreiche Künstler und Musiker aus Italien engagiert und bewusst ein italienisches Klima an seinem Hof geschaffen, doch weder sein Sekretär und Agent in Venedig, Giorgio Maria Rapparini, noch die Aussicht darauf, sich unter anderen Italienern sicher wohl zu fühlen und darüber hinaus die Blumenmalerin Rachel Ruysch kennenlernen zu können, konnten die Malerin dazu bringen, die schmeichelhafte Einladung anzunehmen.14 Sie hatte es dank ihrer zahlreichen Kundschaft nicht nötig, sich in Abhängigkeit eines Mäzens begeben und sich andernorts verdingen zu müssen. So zog sie es für die gesamte erste Hälfte ihres Lebens vor, am Canal Grande zu bleiben und von zu Hause aus zu arbeiten. Carrieras zögerliche Haltung bezüglich des Reisens änderte sich erst nach der Bekanntschaft mit ihrem Malerkollegen Nicolas Vleughels, der sich 1707 und 1708 in Venedig aufhielt. Auch die Beziehungen zu Pierre Crozat und später dem Kunstkritiker Pierre-Jean Mariette waren maßgeblich für ihre Entscheidung, Venedig schließlich doch für einige Zeit zu verlassen. Obwohl alle drei Männer die Malerin nach Paris eingeladen haben dürften, wird es letztendlich dem renommierten Bänker, Connaisseur und Sammler Crozat zuzuschreiben sein, dass Carriera 1720 schließlich zustimmte, erstmalig beruflich zu verreisen. 1715 hatte Crozat Venedig besucht, als er die Funktion des Kunstberaters und Agenten für den Regenten Frankreichs, Ludwig Philipp II., Herzog von Orléans, innehatte.15 Auch nach seiner Rückreise nach Frankreich blieb Crozat brieflich in Kontakt mit Carriera und versuchte hartnäckig, die Malerin davon zu überzeugen, einem Aufenthalt in Paris zuzustimmen, selbstverständlich als Gast in seinem hôtel in der Rue de Richelieu.16 Es bedurfte diverser Briefe, in der Crozat alle Möglichkeiten und Vorteile auflistete, die ein Aufenthalt an der Seine Carriera bieten würde, bevor sich dieMalerin imFebruar 1720, nachdemdie Accademia Clementina in Bologna sie ebenfalls in ihre akademischen Reihen aufgenommen hatte, endlich zum Aufbruch entschloss: Zusammen mit ihrer Schwester Giovanna und ihrer Mutter würde sie nach Paris reisen, und ihr Freund Zanetti würde die Damen auf der Reise begleiten.17 Paris war im 18. Jahrhundert nach London die zweitgrößte Stadt Europas, die nach demTod Ludwigs XIV. von seinem Neffen Philipp II. regiert wurde, solange der Urenkel des Sonnenkönigs, Ludwig XV., noch minderjährig war. Der königliche Hof war aus Versailles zurück nach Paris gezogen, und die Zeit unter der Regentschaft Philipps II. hatte sich bereits den Ruf erworben, eine Ära eingeläutet zu haben, die als freiheitsliebend, mondän und hochentwickelt bezeichnet wurde, wenn auch begleitet von Skandalen und Ausschweifungen.18 Als Crozats Gäste genossen die Carrieras das Privileg, unverzüglich mit den höchsten gesellschaftlichen Rängen der Stadt bekannt gemacht zu werden. Sie lernten nicht nur den Regenten und seine Gattin Françoise Marie de Bourbon kennen, sondern zahlreiche weitere Hofmitglieder und Repräsentanten der höchsten Aristokratie. Auch illustre Stellvertreter des Kunst- und Kulturlebens in Paris wie Pierre-Jean Mariette und Anne-Claude-Philippe, Graf von Caylus, gehörten zu ihren Bekanntschaften, letzterer ein geschätzter Kunst- und Literaturexperte, der auch als erfolgreicher Sammler tätig war und selbst Kupferstiche herstellte.19 Mariette, der als Connaisseur, Kunstliebhaber und Publizist bekannt war, arbeitete gleichzeitig an einem Künstlerlexikon, wofür er Kritiken und Notizen zu Sammlungen und Biografien zusammentrug. Erst 1851 veröffentlichten Chennevières undMontaiglonMariettes Aufzeichnungen in einem fünfbändigen Abecedario, in dem auch Carriera Berücksichtigung findet.20 Zu den frühen Biografen der Künstlerin gehörte ferner Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, der ab 1743 die Stelle als königlicher Sekretär

25 und Berater innehatte und Carriera in Crozats Haus begegnete. Er war unter anderem an Zeichnungen und Drucken interessiert, bevor er sich der eigenen Kunstproduktion hingab und 1745 seine Kurzbiografien der berühmtesten Maler inklusive der Carrieras unter dem Titel Abrégé de la vie des plus fameux peintres veröffentlichte.21 Den vielleicht prestigeträchtigsten Auftrag gleich zu Beginn ihres Aufenthalts in Paris erhielt Carriera von Philipp II. persönlich. Ihr wurde angetragen, ein Porträt des zehnjährigen Ludwigs XV. anzufertigen, wofür sich die Malerin mehrfach bei Hof einfinden musste. Da Carriera während ihres Aufenthalts regelmäßig Tagebuch führte, ist uns ein detaillierter Bericht dieser Treffen am königlichen Hof erhalten geblieben. Darüber hinaus reflektieren ihre Notizen, wie erfolgreich und infolgedessen arbeitsintensiv die Zeit in Paris war. Ihre Bilder fanden eine derartige Anerkennung, dass siemit Aufträgen geradezu überschüttet wurde. Bereits ab sechs Uhr morgens empfing sie ihre Kunden, um der Masse an erfragten Porträts Herr zu werden, und am Ende waren um die 50 Pastelle das erstaunliche Resultat.22 Von besonderer Bedeutung für die Malerin dürfte während ihrer Zeit in Paris ferner der Austauschmit Künstlerkollegen gewesen sein, wozu Nicolas de Largillière, JeanFrançois de Troy und der Hofporträtist Hyacinthe Rigaud gehörten.23 Nach ihren Tagebucheinträgen lernte sie auch die Pastellmaler Jean-BaptisteMassé, Jacques-Antoine Arlaud sowie Joseph Vivien kennen.24 Viviens Arbeit dürfte sie in besonderemMaß interessiert haben aufgrund seiner herausragenden Rolle, die seine Pastelle in den Pariser Salonausstellungen genossen.25 Die Begegnung mit JeanAntoine Watteau führte zu mehreren Besuchen seitens Carrieras, bevor sie im Februar 1721 damit begann, ein Porträt ihres Kollegen anzufertigen (Abb. 3). Es zeigt die bereits angegriffene Gesundheit Watteaus, der wenige Zeit nach Carrieras Abreise mit nur 37 Jahren verstarb.26 Zwei weitere illustre Repräsentanten der Pariser Kulturwelt müssen in diesem Zusammenhang genannt werden: Antoine Coypel und sein Sohn Charles-Antoine Coypel. Antoine Coypel war nicht nur einer der bekanntesten Künstler des französischen Hofs mit dem offiziellen Titel Premier peintre du Roy (Der ersteMaler der Königs); seit 1714 war er auch Direktor der Académie royale de peinture et de sculpture und ein echter Verehrer von Carrieras Kunst, was sich unter anderem in seinen eigenenWerken niederschlug.27 Den absoluten Höhepunkt ihrer Reise bildete schließlich eine einzigartige Auszeichnung: Am 26. Oktober 1720 wurde Carriera in die Pariser Kunstakademie aufgenommen, eine der prestigeträchtigsten Einrichtungen der europäischen Kunst- und Kulturszene, und dazu noch als erste und bis dahin einzige ausländische Malerin.28 Für die Anfertigung ihres Aufnahmestücks ließ sich Carriera jedoch Zeit. Erst nach ihrer Rückreise nach Venedig im Frühjahr 1721 begab sich die Künstlerin langsam daran, an dem für die Akademie bestimmten Pastell zu arbeiten. Um die Geduld der Franzosen nicht zu sehr zu strapazieren, schickte sie imOktober 1721 einen Brief nach Paris, in dem sie ihre Arbeit ganz nach demantiken Vorbild der Ekphrasis beschrieb.29 Sie sollte eine Nymphe im Gefolge Apollos darstellen (Abb. 4). Der Sonnengott gehörte seit Ludwig XIV. zur offiziellen Ikonografie des französischen Hofes, auf den Carriera jedoch nur imTitel anspielte und ihren Beitrag passend zu einer in Frankreich gängigen Bildsprache auf nur eine weibliche Figur reduzierte, eine Nymphe. Diese erinnert an eine Marmorfigur der Gruppe Apollon und die Nymphen von François Girardon und Thomas Regnaudin, die Carriera sicherlich in den Gärten von Versailles bewundert hatte (Abb. 6). Gleichzeitig stellt ihre Nymphe in ihrer Haltung eine raffinierte Adaption von Leonardo da Vincis Heiligem Johannes dem Täufer (Abb. 5) dar, das heißt, der Künstlerin war es gelungen, gewandt und scharfsinnig Anspielungen auf die Literatur der Antike, französische Staatsikonografie und italienische Abb. 3 Rosalba Carriera Porträt eines Herrn (Jean-Antoine Watteau [?]) 1721 · Pastell auf Papier 55×43 cm Treviso, Musei Civici di Treviso

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55 Tiziana Plebani Rosalba Carriera und die neuen Lebenswege bürgerlicher Frauen in Venedig DER ÖFFENTLICHE RAUM

56 Rosalba Carriera und der Reiz der Dolce Vita in Venedig Beginnen wir mit der Überlegung, welche Ingredienzien zum Erfolg von Rosalba Carriera beigetragen haben, denn dieMalerinwurde in ihremHeimatland undmehr noch im Ausland schon in jungen Jahren berühmt. Das lag gewiss an ihremGeschick, den Zeitgeschmack einzufangen, sowie an ihrer Fähigkeit, in ihren Porträts jene besondere Note von Sympathie zu vermitteln, die die Kultur der Empfindsamkeit feierte und in David Hume ihren eifrigen Verfechter fand.1 Doch die Aufmerksamkeit, die Rosalba im Ausland erregte, lässt sich auch auf die Faszination von Venedig zurückführen, den besonderen Lebensstil, den man hier pflegte, und vor allem auf die Venezianerinnen, von deren Freiheit voller Staunen in den Berichten von Reisenden, Adligen und Schöngeistern erzählt wurde, die der Stadt in der Lagune auf ihrer Grand Tour einen unverzichtbaren Besuch abstatteten. Während der Franzose François MaximilienMisson bereits Ende des 17. Jahrhunderts anmerkte, dass sogar die Nonnen inkognito ausgingen und die Damen die Dienste von Gondolieri in Anspruch nahmen, um sich ungestört durch die Stadt zu bewegen,2 ging der gestrengeMontesquieu noch weiter, indem er behauptete, dass die Venezianerinnen dank der Maskierung »vont avec qui elles veulent, et où elles veulent« (gehen, mit wem sie wollen und wohin sie wollen).3 Für den französischen Philosophen, der am 16. August 1728 nach Venedig kam, war eine solche Freiheit ein Indiz für den Niedergang des Geistes, was sein kritisches Urteil über die republikanisch-aristokratische Regierung der Serenissima verstärkte. Für den jungen englischen Adligen Horace Walpole war sie hingegen ein Element des Friedens und der Lebensfreude, die man hier genoss. Während Paris zweifelsohne die Hauptstadt der Konversation und der Salons war, dies jedoch stets in enger Verbindung mit dem Hof und seinen Intrigen, machte Venedig durch eine recht weit verbreitete Geselligkeit auf sich aufmerksam, die sich auf Cafés, Vereinigungen, Theater, Kasinos, die Sprechzimmer der Klosterschwestern, die Konservatorien und Krankenhäuser, in denen Waisenmädchen inMusik und Gesang unterrichtet wurden,4 und nicht zuletzt imöffentlichen Raumauf Gassen und Plätzen ausdehnte.5 Madame du Boccage vermerkte während ihres Aufenthalts in der Stadt in ihren Reisenotizen, dass die Freiheit, die die Frauen in Paris genossen, in Venedig »unendlich« weit übertroffenwürde,6 ganz zumVorteil der Venezianerinnen, vor allem in den Nachtstunden. Auch Venedig unterzog sich dem allgemeinen Prozess städtischer Umgestaltung, der die europäischen Großstädte ab dem Ende des 17. Jahrhunderts ergriffen hatte und dessen Ziel es war, unter dem Druck des demografischen Wachstums, des steigenden Verbrauchs und der immer zahlreicher werdenden Geschäfte die Lebensqualität zu verbessern. All das machte auch die Ausstattung mit einer Stadtbeleuchtung erforderlich. Hier stand Venedig anderen ausländischen Haupt- und Großstädten in nichts nach, als der Senat 1732 die Installation von 843 Öllaternen beschloss, um die Nacht zu erhellen und sicherer zu machen, was dieMobilität der Frauen weiter erleichterte.7 Der französische Abt Gabriel-François Coyer vermerkte 1763, dass die Straßen in Venedig so gut beleuchtet seien, »was in Italien nicht üblich sei«.8 Ferner waren die Besucher überaus erstaunt über die verbreitete Gewohnheit des Patriziats, aber auch des Bürgertums und all jener, die dieMöglichkeit dazu hatten, sich in kleinen Lokalen zur Konversation und anderen Zerstreuungen zusammenzufinden, die nicht zwangsläufig zügellos oder auf Glücksspiel ausgerichtet waren. Wie die Reisenden außerdem feststellen konnten, hatten die Damen sogar ihre eigenen Lokale – genau wie ihre Ehemänner. Im Jahr 1744 wurden bei einer Zählung durch die Staatsinquisition, der Behörde zur Überwachung der öffentlichen Ordnung, 118 Spielkasinos ermittelt. Bis zum Ende der Republik 1797 stieg die Zahl auf 136.9 Ein großer Teil davon konzentrierte sich auf die sogenannte Hauptachse der Konversation, die vom Markusplatz bis zu den Vierteln San Moisè und Frezzerie verlief, wo sich das Postamt befand und auch die Schreiber der Stadtzeitungen ihre Informationen einholten. Auch in den Randgebieten oder der Giudecca, woman sich in größerer Diskretion zusammenfinden konnte, lag somanches Spielkasino. Andere standen in direkter Verbindung mit den pulsierenden Orten der venezianischen Gesellschaft, zum Beispiel den Theatern, die nicht nur von vielen Fremden, sondern auch von Patriziern, Bürgerlichen und dem Volk aufgesucht wurden, durch ihren Sitzplatz voneinander getrennt, aber verbunden durch dieselbe Gewohnheit und den gemeinsamen Genuss. Was jedoch die Besucher der Stadt und ganz besonders die Briten besonders beeindruckte, war das für Venedig typische Aufsuchen lebhafter Cafés, von denen die Stadt übersät war. Diesewaren häufigmit internen oder anliegenden »Zimmerchen« ausgestattet, die zur Konversation und für Zusammenkünfte von Verbänden verwendet wurden. Es waren so viele, dass 1759 beschlossen wurde, ihre Zahl auf 206 einzuschränken (Abb. 1). In England, der Heimat der Clubs und Vereine, waren die Cafés, die bereits Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden waren, jedoch Orte, die ausschließlich von einemmännlichen Publikumaller sozialer Schichten aufgesucht wurden und nicht als Lokale für respektable Frauen galten – die weibliche Präsenz bestand lediglich aus den Frauen, die die Cafés betrieben, hier als Kellnerinnen arbeiteten oder als Prostituierte auf Freier warteten. In Frankreich, wo die Entwicklung von Kaffeehäusern erst später einsetzte, waren die Gäste überwiegend

57 Männer, wenn auch nicht ausschließlich. Die Anwesenheit von Frauen beschränkte sich auf Angestellte, Ehefrauen oder Töchter der Cafébesitzer, Kellnerinnen, Prostituierte und Dienerinnen sowie verheiratete Frauen, allerdings nur in Begleitung ihrer Ehemänner. Es handelte sich nicht um ein für Frauen der Oberschicht geeignetes Ambiente, und zur Wahrung ihrer Achtbarkeit mussten diese immer von einemmännlichen Vermittler eingeführt werden.10 So war die unglaubliche Vermischung, die das venezianische Leben kennzeichnete, in den Augen der Besucher eine Quelle des Staunens, der Faszination und der Verführung. In der Regierung löste sie allerdings auch Befürchtungen aus: Die Cafés waren zum wichtigsten Informations- und Treffpunkt geworden, und das Zusammentreffen des Adels mit den anderen Klassen und vor allem mit Fremden barg die Gefahr von undichten Stellen und Spionage. Außerdem war gerade die Bewegungsfreiheit der Frauen und insbesondere der Patrizierinnen Anlass für besorgte Bemerkungen seitens der Inquisitoren: »Seitdem es sich allgemein eingebürgert hat, dass sich Frauen, selbst von adeligem Stand, auf den Straßen und Plätzen allen Blicken aussetzen, sogar in Zeiten, in denen das Tragen von Masken nicht erlaubt ist, haben sie, nachdem sie die auf einem natürlichen Schamgefühl beruhende Zurückhaltung überwunden haben, auch Einzug in Cafés gehalten.«11 Nach diversen Verordnungen zur Schließung von Cafés nachMitternacht und zur Entfernung von Stühlen und Bänken in der Nacht gingen die Inquisitoren 1766 so weit, dass sie Frauen aller Stände das Betreten von Cafés untersagten. Ein Befehl, der als so widersinnig empfunden wurde, so im Widerspruch stand zur venezianischen Lebensweise und zu der Freude, die Frauen aus der Enge der Vergangenheit zu befreien, dass er eineWelle des Protests auslöste, die von den Angestellten der Kaffeehausbetreiber und der Stimme des Volkes ausging und sich sogar in Reimen ausdrückte: »E i caffè fe’ serar? O che cogioni!« (Und ihr wollt die Cafés schließen? Welche Schande!)12 Schließlich wurden die Maßnahmen zurückAbb. 1 Antonio Canal, gen. Canaletto Piazza San Marco und die Säulen der Procuratie Nuove um 1756 · Öl auf Leinwand 46,4×38,1 cm London, The National Gallery, Inv.‑Nr. NG 2516

58 Abb. 2 (Kat. 49) Rosalba Carriera Bildnis der Caterina Sagredo Barbarigo um 1735/1740 · Pastell auf Papier · 42×33 cm Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gal.‑Nr. P 16

59 genommen. Niemand in der Stadt wünschte eine solche räumliche Trennung, und es wurde beschlossen, dass die Cafés für beide Geschlechter bestimmt seien. Im Übrigen war das gesamte öffentliche Leben mittlerweile von Geselligkeit und mixité13 geprägt. Es war also kein Zufall, dass Rosalba Carriera von illustren Ausländern – wie dem Kurfürsten von Bayern, Maximilian II. Emanuel von Wittelsbach – bereits ab 1706 Aufträge zu Porträts der schönsten venezianischen Damen erhielt, besonders jener, die nicht nur für ihre Anmut berühmt waren, sondern auch für ihr Talent, demStadtleben durch ihren Lebensstil Farbe und Esprit einzuhauchen. Mehrmals erhielt Rosalba Anfragen über die Anfertigung eines Bildnisses der für ihren Salon berühmten Lucrezia Basadonna Mocenigo, sowohl von Johann Wilhelm II. von der Pfalz, durch dessen Sekretär, den Schriftsteller GiorgioMaria Rapparini aus Bologna, als auch vomGrafen vonMecklenburg-Schwerin, Christian Ludwig II., durch Vermittlung von Hans Bötticher.14 Während eines Besuchs in Venedig bat Friedrich IV., König von Dänemark und Norwegen, Rosalba um Elfenbein-Miniaturporträts von zwölf venezianischen Edeldamen, von denen Pietro Del Negro neben Signora Basadonna weitere benennen konnte: Marietta Correr, also Maria Donà, Ehefrau von Filippo Corner di San Marcuola, Maria Vendramin Zenobio, vielleicht Elena Correr Piscopia in Foscari, und Maria Civran Labia.15 Nach den ersten Aufträgen wurden weitere Patrizierinnen porträtiert, beispielsweise Caterina Sagredo, die erste Ehefrau von Antonio Pesaro im Jahr 1732, die dann, schon früh verwitwet, 1739 die Frau von Gregorio Barbarigo wurde. Das erste Bild gab sie selbst bei Rosalba in Auftrag – sie kam aus einer Familie von Sammlern und Mäzenen –, um ihren eigenen Ruhm zu fördern (Abb. 2).16 Gebildet, lebhaft und unternehmungslustig, wie man an der Pose unschwer erkennen kann, in der Rosalba sie porträtierte, war sie auch im Ausland für ihre Reisen bekannt; in Venedig wurde sie von den Ausländern bewundert, sodass sie beimErlernen der englischen Sprache sogar von Robert d’Arcy, IV. Graf von Holderness, dem britischen Botschafter in der Lagunenstadt, unterstützt wurde.17 Der französische Botschafter, François-Joachim de Bernis, hingegen erinnerte sich an sie als liebe Freundin, die ihm nach der Rückkehr in seine Heimat sehr fehlte.18 Lady Mary Wortley Montagu schrieb an Francesco Algarotti, der auch in Kontakt mit Carriera stand: »J’aime beaucoup Madame de Barbarigo. Elle a une bonté de Cœur qui m’enchante.« (Ich mag Madame Barbarigo sehr. Sie hat eine Herzensgüte, die mich entzückt.)19 Und er betonte ihre herausragende Fähigkeit als Dame des Hauses beim Empfang eleganter und raffinierter Gesellschaften; ihr Bekannten- und Freundeskreis war groß, sodass LadyMontagu in der Tat anmerkte: »gestern Abend in der Akademie bei Mme Barbarigo imBeisein von drei- oder vierhundert Personen«.20 Caterina fühlte sich bei diesen Empfängen ebenso wohl wie bei Zusammenkünften im kleineren Kreis, deren Hintergrund ihre Kasinos bildeten. Madame du Boccage berichtet, dass sie »au casin de M.me Barbarigo«21 in San Basso gegangen sei und dort ihre Übersetzerin Luisa Bergalli mit deren Ehemann Gasparo Gozzi getroffen habe, den sie bereits einige Tage zuvor im Haus von Filippo Farsetti kennengelernt hatte. Das Kasino, das Caterina Sagredo in Giudecca gemietet hatte, mit einem großen Garten, den sie in eine Anlage namens Cavallerizza umgewandelt hatte, damit sie ihrer großen Leidenschaft, demReiten, nachgehen konnte, wurde 1747 von den Inquisitori di Stato geschlossen, um den Umgang mit Ausländern, die diplomatische Posten innehatten, zu unterbinden.22 Welche Verbindungen bestanden zwischen Rosalba und diesen Patrizierinnen? Man beachte, dass Rosalba keine Besucherin aristokratischer Salons war, nicht einmal derjenigen, die von den von ihr dargestellten Damen besucht wurden. Wertschätzung verband sie mit einigen von ihnen, anderen verdankte sie Dienste oder auch Gefallen wie gemietete Häuser auf dem Land, oder aber sie erbat von ihnen Hilfe beim Versand ihrer Werke. Ungeachtet dessen fühlte sie sich nicht zu diesem Ambiente hingezogen, möglicherweise aufgrund des sozialen Unterschieds oder auch ihres Charakters und ihrer Geisteshaltung. Sie beabsichtigte, wie Pietro Del Negro schrieb, »eine bürgerliche Variante«23 des weiblichen Protagonismus zu verwirklichen, der in Venedig dank der erweiterten gemischten öffentlichen Szene Einzug gehalten hatte. Eine ganz und gar bürgerliche Gesellschaftlichkeit Wir können also davon ausgehen, dass Rosalba Carriera für ihre ausländischen Auftraggeber als Repräsentantin des venezianischen Lebensstils fungierte, den sie selbst in ihren Gewohnheiten, die sich größtenteils in ihrer Korrespondenz widerspiegeln, interpretierte: Sie teilte nicht nur Mittag- und Abendessen, Besuche von Ausstellungen und Galerien, sondern auch Spaziergänge und Amüsement in der Karnevalszeit mit ihren Freunden, Ausländern und sie umgebendenVenezianern, allen voran ihremguten Freund Tonino (Antonio Maria Zanetti). Die fröhliche Truppe mischte sich unter die Menschenmenge, um Regatten anzuschauen, ging ins Café und genoss die Feste und Veranstaltungen, die Venedig zu einem anerkannten Ort der Unterhaltung machten. »Gehen Sie am Dienstag wieder maskiert, für mich«,24 schrieb ihr am 21. September 1704 Tonino, als dieser außerhalb von Venedig verweilte. Der Freundeskreis, der sich um Rosalba, ihre Schwestern und ihre Mutter scharte, spiegelte vor allem das Bürgertum der Berufe wider, bestehend aus dem Arzt Marco Musalo, den Notaren Carlo und Gabriele Gabrieli, der Fa-

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93 Roland Enke Zur Geschichte der Dresdner Pastellsammlung DAS »KABINETT DER ROSALBA«

94 Abb. 1 (Kat. 132) Michael Keyl Plan de la galérie royale de Dresde vor 1753 · Kupferstich Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv.‑Nr. A 158316

95 Als der sächsische Kurprinz Friedrich August 1711 seine bis 1719 währende Bildungsreise durch Deutschland, die Schweiz, Frankreich und Italien antrat, führte diese ihn bereits im Februar 1712 erstmals nach Venedig. Wie sein Vater August der Starke entwickelte er eine große Vorliebe für die Kunst der Lagunenstadt, wovon die vielen Werke von Tizian, Tintoretto, Veronese, bis hin zu Tiepolo und Canaletto in der Galerie zeugen. Eine besondere Leidenschaft aber zeigte er für die Pastelle von Rosalba Carriera, die zu dieser Zeit der aufgehende Stern unter den Künstlern Venedigs war. Als glühendster Verehrer Carrieras scheute er keine Kosten, um Pastelle von ihr »um jeden Preis anzukaufen, wie er es mit jedem geschätzten Werk Rosalbas zu tun pflegte, wo auch immer es sich befand«.1 Obwohl die Provenienz und Erwerbungsgeschichte von vielen Bildern Carrieras oft unbekannt bleibt, sind Ankäufe ganzer Bildkonvolute mehrfach dokumentiert, auch wenn die teils unspezifischen Titel in den Dokumenten keine eindeutige Zuordnung erlauben. So hatte Francesco Graf Algarotti im Auftrag August III. die Folge der Vier Elemente bei Carriera bestellt, die sie 1744 bis 1746 ausführte (s. Kat. 78–81).2 1750 kamen über Giovanni Pietro Minelli zwölf Pastelle aus dem Nachlass des Gelehrten Giambattista Recanati nach Dresden, die seineWitwe Fioravanza Ravagnani verkaufte und dafür ein Meissener Porzellanservice erhielt.3 Auch der Cavaliere Andrea Diedo, der 1753 fünf Pastelle von Carriera lieferte, bekam als Gegenleistung ein Schokoladen- und ein Kaffeeservice.4 Schließlich soll August 1757 nach dem Tod Rosalbas alle in ihrer Werkstatt befindlichenWerke aufgekauft haben;5 dies bleibt jedoch fraglich, da einige Pastelle familiär vererbtwurden und imNachlassinventar keine Gemälde von ihrer Hand explizit erwähnt sind.6 Die Kollektion des britischen Konsuls Joseph Smith, Kunstförderer und enger Freund Carrieras sowie Besitzer von 38 ihrer Werke, ging nach England in den Besitz von König George III. über; 23 dieser Pastelle waren 1760 August III. angeboten worden,7 aufgrund des Siebenjährigen Krieges aber gelangten sie nicht nach Sachsen. InDresdenwurdemit insgesamt 157 Werken8 die größte Sammlung von Pastellen Rosalba Carrieras zusammengetragen, die es je gegeben hat. Diese außergewöhnliche, über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstandene Sammlung an Pastellgemälden allein von Rosalba Carriera dürfte der Ausgangspunkt gewesen sein, sie gemeinsam und separat von den Ölgemälden im »Kabinett der Rosalba« zu präsentieren. Hinzu kamen die vier Pastelle des europäischen Weltbürgers Jean-Étienne Liotard aus Genf, darunter das berühmte Schokoladenmädchen, zwei Werke des namhaftesten französischen Pastellisten Maurice Quentin de Latour sowie zehn Pastelle von Anton Raphael Mengs. Mit der Umgestaltung des ehemaligen Stallhofs zur Gemäldegalerie in den Jahren 1745/46 durch Johann Christoph Knöffel wurde ein besonderer Raum zur Präsentation der Pastelle eingerichtet. Im ersten Band des Galeriewerks Recueil d’Estampes d’après les plus célèbres Tableaux de la Galerie Royale de Dresde, das 1753 von Carl Heinrich von Heineken verlegt wurde, zeigt der beigefügte Grundriss von Michael Keyl den mit »C« bezeichneten Raum als »Cabinet de Pastel« (Abb. 1). Vom Residenzschloss aus konnte der Kurfürst über den Langen Gang (heute Gewehrgalerie) seine Gemäldegalerie besuchen und betrat sie so immer zuerst durch das Pastellkabinett. Bei dem Kabinett handelte es sich um einen langrechteckigen, etwa 55 Quadratmeter großen Raum im Obergeschoss mit einer Raumhöhe von knapp neunMetern. Er wurde durch zwei Fenster von Nordosten belichtet, die Wand zum Stallhof war geschlossen. Von Giovanni Lodovico Bianconi ist die erste Beschreibung der Innengestaltung überliefert, auch wenn sie mit einigem zeitlichen Abstand erst 1781 erschien: »Das Kabinett der Rosalba ist ein großes helles grün tapeziertes Zimmer, welches auf eine breite und schöne Straße sieht. Die lange den Fenstern gerad über stehendeWand ist von unten bis oben mit den schönsten Pastelgemählden bedekt, die aus den Händen dieser braven Mahlerin gekommen sind, und ihrer mögen vielleicht über hundert seyn. Mitten darunter, wie in ihrer Residenz, sieht man das selbst verfertigte Porträt dieser unsterblichen Venezianerin, welches vor allen übrigen hervor sticht. An den beyden Seiten-Wänden, wo zwey sich gegen überstehende vergoldete Thüren sind, durchwelche man hinein geht, findet man alle Pastelgemählde vonMengs, die von Liotard, von Mr. De la Tour, und von einigen andern, aber der allerbesten Pastelmahler unsers Jahrhunderts, aufgehängt. Die vierte und langeWand, der Rosalbischen gegen über, hat blos Fenster von breitem Spiegelglase, und in den dazwischen stehenden Mauern (negl’ interfenestri) sind von oben bis an den Boden große französische Spiegel angebracht, die, indem sie so lachende Gegenstände verdoppeln, den Zuschauer bezaubern. Die Pastelgemählde, so wie ihre hellen Gläser und vergoldeten Rahmen, sind alle von gleicher Größe. Der Fußboden ist von eingelegtem allerley ausländischemHolze; das Dekengewölbe ist weiß, aber in arabischemGeschmack verzieret und vergoldet.«9 Der Chronist Dresdens, Johann Christian Hasche, relativierte in seiner Umständlichen Beschreibung die üppige Gestaltung Bianconis mit den Worten: »Wenn uns gedruckte Nachrichten von einem ausgemahlten Sale, von Statuen, Gruppen aus Marmor und Metall, Porphyr und Serpentinstein vorschwatzen, so ist das ein gewisser Beweiß, daß sie sie niemals gesehn. Die Decke ist weiß, ungemahlt, die Wände mit gründamastenen Tapeten mit golde-

96 nen Leisten, und obenher dergl. Laubwerk bekleidet, und auf ihnen hängen die Bilder in prächtigen goldenen Rahmen von Bildhauerarbeit. Auf dem untern Schenkel des Rahmens steht das königlicheWappen, auf dem obern darüber die Krone, von Golde [. . .] Die eine Wand ist mit Bildern unter feinstem geschliffenem Glase behangen: die [gegen] überstehende ist mit prächtigen hohen Spiegeln garnirt, welches einen unumgrenzten Ausblick verschaft.«10 Zwei Zeichnungen aus der Umbauphase 1745/46 präzisieren diese Gestaltung:11 Der Längsschnitt (Abb. 2) zeigt zwei hohe Fenster mit rundbogigemAbschluss. DerWandsockel ist mit einer profilierten Täfelung (Lambris) verkleidet. Um das umlaufende Gesims über den Fenstern rankt sich ein Dekor aus vergoldeten Rocaillen, das in die gewölbte Decke übergeht und an den Längswändenmittig ein bekröntes »A« für August bildet. Zusammen mit den vergoldeten Rahmen der Pastellgemälde muss dies die gesamte Raumwirkung eindrücklich geprägt haben. Hinzu kam die Vervielfältigung der Motive durch die erwähnten Spiegel, die in dieser Ansicht allerdings nicht abgebildet sind. Unklar bleibt, ob die beiden Zeichnungen Entwürfe vor der Realisierung sind oder die Ausführung dokumentieren. Weiter ist ebenfalls nicht gesichert, ob die grüne Lavierung der Stirnwand in der Querschnittszeichnung (s. Kat. 137) die Farbe imKabinett wiedergibt. Leider existieren von diesemRaum keine Abbildungen oder Fotografien, und auch von seiner Ausstattung hat sich nichts erhalten: Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude stark zerstört, beimWiederaufbau von 1954 bis 1968 erhielt der Raum eine Zwischendecke. Während die unvergleichliche Pastellsammlung fraglos auf den persönlichen Geschmack des Kurfürsten-Königs zurückgeht, ist nicht überliefert, wer die Entscheidung getroffen hat, diese gesondert in einem eigenen Raum auszustellen. Die These, dass Algarotti hier Ideengeber gewesen sei, der die bestehende Sammlung Alter Abb. 2 (Kat. 136) Unbekannter Zeichner, nach Johann Christoph Knöffel Kurfürstliches Stallgebäude, Pastellkabinett, Längsschnitt 1745/46 · Feder, laviert Dresden, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Inv.-Nr. M 6.Vl.Bl. 9

97 Meister zugunsten zeitgenössischer Kunst in einem künftigen kurfürstlich-königlichenMuseum verschieben wollte,12 ist nicht ganz auszuschließen. Wenn aber der gleiche Algarotti in einem Brief an Brühl 1745 Carrieras Urteil übermittelt, dass mit dem jüngst erworbenen Schokoladenmädchen von Liotard eine stilistische Ablösung stattgefunden habe und die gesamte Pastellmalerei überholt sei, inklusive ihrer eigenen,13 so zeigt dies auch die Grenzen seines Projekts auf: Innerhalb kürzester Zeit kann aus moderner Kunst die »alte« werden. Was die Hängung des Pastellkabinetts im Stallgebäude angeht, liegt es nahe, als Verantwortlichen den Venezianer Pietro Maria Guarienti zu vermuten. Er war bereits maßgeblich am Ankauf der herzoglichen Sammlung aus Modena 1745/46 beteiligt gewesen, wurde schließlich zum Inspektor der Dresdner Galerie berufen und arrangierte die Neupräsentation der italienischen Ölgemälde in der Inneren Galerie im umgebauten Stallgebäude.14 Nach der Eröffnung der Gemäldegalerie 1746 muss es imPastellkabinett öfter zu Umhängungen gekommen sein, auch um die späteren Erwerbungen von Carriera in das Konzept zu integrieren. Hier gibt es keine Quellen: die beiden ersten Ausgaben des Galeriekatalogs von Johann Anton Riedel und Christian Friedrich Wenzel erschienen mit zeitlicher Distanz 1765 und 1771. Sie listen zudem die ausgestellten Werke nur nach Künstlern auf, sodass sich deren jeweilige Position an der Wand nicht lokalisieren lässt.15 Dies ändert sich schrittweise in den ab 1801 regelmäßig erscheinenden Katalogen, die die Pastelle in Gruppen nach ihrer Hängung aufzählen, allerdings auch hier nicht immer eindeutig nachvollziehbar.16 Trotz der Dominanz von Carrieras Werken entwickelte sich im 19. Jahrhundert Das Schokoladenmädchen von Liotard zumLieblingsbild vieler Besucher, und auch der Rahmenmit seinen aufwendigen Details hebt das Bild aus den in der Menge fast uniformwirkenden Porträts deutlich hervor (Abb. 3).17 Konkrete Vorbilder für ein Pastellkabinett gab es nicht, und es wurde selbst kein Modell für nachfolgende Sammlungen oder Museen. In Dresden gab es mit der Sammlung des sächsischen Ministers Heinrich Graf von Brühl eine Kollektion, die sich an der kurfürstlich-königlichen orientierte, auch wenn sie hinter dieser zurückzustehen hatte.18 Zumindest soll sein Arbeitszimmer mit Email- und Pastellmalereien ausgestattet gewesen sein.19 Berichtet wird weiter, dass der Dresdner Landschaftsmaler Johann Alexander Thiele für den Minister Brühl ein ganzes Pastellkabinett gemalt habe: »Überhaupt wollen ihn manche für den Ersten halten, der in Deutschland Landschaft in Pastell malte«,20 allerdings sind von ihmWerke in dieser Technik nicht dokumentiert. Auch besaß Brühl offensichtlich keine Bilder von Rosalba Carriera.21 Der Umzug der Dresdner Gemäldegalerie in den 1855 fertiggestellten Semperbau am Zwinger bedeutete für die Pastellgemälde eine schrittweise Zurücknahme ihrer prunkvollen Präsentation. Damit einher ging – nicht nur in Dresden – eine allgemein abnehmendeWertschätzung der Kunst des Rokoko. Die Pastellgemälde wurden nun in zwei Räumen des Erdgeschosses untergebracht, die sich nach Norden zumTheaterplatz hin orientierten.22 Daran schloss sich ein Kabinett für die Werke von Christian Wilhelm Ernst Dietrich an sowie vier Räume, die den Bildern Antonio Canalettos und Bernardo Bellottos vorbehalten waren. Dem Galerieverzeichnis nach, das erstmals nach der Neueinrichtung im Zwinger 1856 erschien, wurden dort insgesamt 178 Pastelle gezeigt.23 Als 1889 die Sammlung der Gipsabgüsse von Anton Raphael Mengs aus der Osthalle imErdgeschoss des Semperbaus ins Albertinumumzog, wurden »diese neuen Säle ganz dem 18. Jahrhundert gewidmet, dessen für die KunstAbb. 3 Jean-Étienne Liotard Das Schokoladenmädchen um 1744 · Pastell auf Pergament Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gal.-Nr. P 161

104 VENEDIG Venedig entstand durch die Besiedlung kleinerer Inseln imMündungsdelta verschiedener Flüsse. Die Lagune grenzte sich gegen die Adria ab, ein Arm der Brenta bildete den späteren Canal Grande. Dem erst imMittelalter entstandenen Mythos nach gründeten Flüchtlinge am 25. März 421 die Stadt, wobei auf den Inseln Siedlungen schon seit etruskischer und römischer Zeit existierten. Bis ins 8. Jahrhundert stand die Stadt unter byzantinischer Verwaltung. Es zeichnete sich ein nach politischer Autarkie strebender Prozess ab, der ein komplexes – und kompliziertes – Regierungssystem zur Folge hatte. Die großen und namhaften Patrizierfamilien teilten die Macht unter sich auf, immer bedacht, dass nicht ein Doge oder eine Familie die Geschicke der Stadt dominierte. Die ideale Lage Venedigs an sich kreuzenden Handelsrouten sowie der starke Schiffsbau mündeten in der Serenissima Repubblica di San Marco (Durchlauchtigsten Republik des Heiligen Markus), die als koloniale Handels- und Seemacht bis 1797weite Teile der Adria, Griechenlands sowie küstennaher Gebiete am Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer beherrschte. Dies beförderte den Reichtum in Venedig, das sich als kulturelles Zentrum in Oberitalien, zwischen »Orient« und »Okzident«, entwickelte. Repräsentatives Machtzentrumwar der nach demStadtpatron benannteMarkusplatz mit Dom, Dogenpalast und den Prokuratien.

105 Die hier zusammenströmenden Einflüsse, auch in der Architektur, prägten das äußere Erscheinungsbild Venedigs mit den großen Palazzi und ihren gotisierenden Fassaden. Die Stadt war auch ein intellektuelles Zentrum, ablesbar an den zeitweise hunderten von Buch- und Grafikverlagen. In der bildenden Kunst waren auch hier Renaissance und Barock tonangebend, obwohl sich die venezianische Malerei von der in Rom oder Florenz, vor allem durch Betonung der Farbe, unterschied. Internationale Gäste gehörten zum Alltag, und es bildete sich eine Festkultur heraus, die die einzigartige Stadt als Kulisse einbezog. Dies wird besonders an der eindrucksvollen Vedutenmalerei des 18. Jahrhunderts deutlich, die in Luca Carlevarijs und vor allem Antonio Canal, genannt Canaletto, ihre bekanntesten Vertreter fand. In diesen grandiosen Panoramabildern, die oft die klassischen Motive wie den Dogenpalast oder die Lebensader des Canal Grande zumThema haben, sind auch immer die Bewohner und ihre alltäglichen Beschäftigungen darstellungswürdig. Die oft von adligen oder fürstlichen Reisenden in Auftrag gegebenen Gemälde führen die Stadt vor Augen, wie sie sich in Teilen auch heute noch darbietet. Andere Maler wie Sebastiano Ricci, Giambattista Piazzetta oder Giovanni Antonio Pellegrini, der mit Carrieras Schwester Angela verheiratet war, zählen zu den Protagonisten der venezianischen Rokokomalerei. Giovanni Battista Tiepolo schließlich ragt nicht nur aus den venezianischen, sondern auch den italienischen Malern dieser Zeit heraus. Seine Fresken und Altarbilder waren hoch gerühmt, und sein erfolgreicher Werdegang führte ihn auch nach Deutschland und Spanien. Die Künstler der Stadt kannten einander und arbeiteten oft – gerade imBereich der Grafik – erfolgreich Hand in Hand. Rosalba Carriera zählt zu diesem Kreis der bekanntesten Künstler Venedigs. Sie war die herausragende Porträtistin der Stadt, eine Institution, zu der man ging, um sich malen zu lassen. Sie wohnte mit ihrer Familie in einem kleinen Palast am Canal Grande, in dem sie wohl auch ein Atelier eingerichtet hatte. Diese Lage hatte Carriera sicher bewusst gewählt, war die Ca’Biondetti doch leicht mit einer Gondel über das Wasser erreichbar, ideal für angesehene Persönlichkeiten, die unerkannt bleibenwollten. Unter ihnenwaren nicht nur hohe Beamte Venedigs, sondern auch Bildungsreisende aus England, Frankreich, Deutschland und Dänemark. Obwohl die Stadt und die Republik Venedig im 18. Jahrhundert als politische Macht und Handelszentrum in hohem Maß an Bedeutung verloren, blühte das Kulturleben umso mehr. Die Gäste kamen aber nicht nur wegen Carriera, sondern auch für die vielen Feste, die Musik und die Kunst. Sie bereicherten ihre Sammlungen mit hier erworbenen Kunstwerken, und sie alle genossen die Freizügigkeit, die ihnen die Stadt gewährte. RE

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