Leseprobe

vermitteln sollten und so möglicherweise Medizinern als Anschauungsmaterial dienten, anhand dessen sie Laien aufklärten.9 Die Waldenburger Venus ist ihrer Funktion nach ebenfalls als Manikin zu sehen, nimmt allerdings auf beeindruckende Weise die realitätsgetreue Ästhetik der medizinischen Modelle aus Wachs des späten 18. Jahrhunderts vorweg. Diese Wachsmodelle mündeten in den Typus der »anatomischen Venus«. In Florenz spielt ein lebensgroßes, aus Wachs und mit menschlichem Haar gearbeitetes Modell noch heute eine Rolle bei der Vermittlung anatomischer Kenntnisse. Als Prunkstück des von Leopold II. 1771 gegründeten Museums La Specola ist das von Clemente Susini geschaffene Objekt faszinierend und verstörend zugleich. Menschliche Anatomie und die Ästhetik des Körpers Der Grenzgang zwischen ästhetischer Erfahrung und anatomischer Lehre manifestiert sich auch in der Waldenburger Venus. Was diese von anderen medizinischen Modellen unterscheidet, ist ihre ästhetische Erscheinung. Sie rekurriert, wie es ihrem Typus entspricht, auf die Liebesgöttin Venus. Die üppigen Formen und das leichte Doppelkinn entsprechen den SchönheitsvorANATOMISCHES MODELL EINER SCHWANGEREN FRAU Sachsen (?), um 1700; Birnbaumholz (?), Elfenbein, geschnitzt; Linck-Sammlung, belegt im Linck-Index III (1787), S. 110 f., Nr. 169; Länge: 30 cm; Inv.-Nr. NAT X 140 V M Diese Statuette wurde um 1700 gefertigt und stammt aus der Leipziger Linck-Sammlung. Sie ist eines der ungewöhnlichsten anatomischen Modelle aus Holz. Die nackte, schwangere Frau ruht auf einem mit Tuch überzogenen Untergrund und scheint wie unter Schmerzen ihren Körper leicht zu krümmen. Unter der gewölbten, abnehmbaren Bauchdecke verbirgt sich das menschliche Innenleben in Form leicht schematisierter Organe, die alle einzeln entnehmbar sind. Die Vorbilder für die dramatisch gekrümmte Frauendarstellung dürften in den italienischen Skulpturen der Renaissance zu finden sein. Eine Zuschreibung des gekonnt ausgeführten Modells an einen sicher geübten Bildhauer gelang bisher nicht. 1 375

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