Leseprobe

Dort, in Philadelphia, sind auch Kriegsverletzungen sowie ein Gipsabguss der Körper von Chang und Eng Bunker zu sehen, den bekanntesten aller sogenannten »siamesischen« Zwillinge. Die Leichen der miteinander verwachsenen Brüder waren im Mütter-Museum im Jahr 1874 untersucht worden. Dass nüchternen Menschen dies vor allem zur Anschauung, Lehre und neugierigen Freude diente, die wiederum anderen nützte, ist gefühlsbetonten Menschen schwer zu erklären. Es gibt ja sogar Großstädter, die den angeblichen »Lärm« von Spatzen und Nachtigallen anstrengend finden. Wem die bisher genannten Merkwürdigkeiten soweit erwartbar erschienen: Mütter zeigt auch das Nähset der Erfinderin der modernen Krankenpflege, Florence Nightingale aus England, sowie ein Spannungsmessgerät, das Nobelpreisträgerin Marie Curie gehörte, Teile des Brustkorbs von John Wilkes Booth, dem Mörder Abraham Lincolns (früherer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika) und Fotos der beiden ersten Patienten, die Dreifachamputationen überlebten. Die Grenzen zwischen Seltsamkeit und Sensation fließen erkennbar. Das ist Fluch und Segen, denn einerseits sichert so etwas Aufmerksamkeit, die wiederum vor Schließung schützen kann. Andererseits gelten Forschungsanträge, die sich angeblich abgelegenen Gebieten widmen, meist als nicht förderungswürdig. Denn selbst wenn die Sachbearbeiter:innen wohlgesonnen sind, fragen sie sich, ob das nun eher ins geschichtliche, medizinische, naturwissenschaftliche oder künstlerische Feld fällt. Wie schön also, dass die Gegenstände in Waldenburg in Frieden ruhen, und zwar in Frieden mit der örtlichen Bevölkerung, mit politischen Wendungen und auch untereinander. Kein Gegenstand jagt dem anderen Aufmerksamkeit ab, alles ist gleich berechtigt und gleich viel wert. Die Stadt Waldenburg besitzt weder eine Mumienshow noch ein Gruselmuseum noch ein pädagogisches Juwel – alles häufige Beschreibungen in diesen Zusammenhängen –, sondern ein gutes, altes Naturalienkabinett, das die Menschen lieben, die es kennen. Nachdem ich Fotos meines Besuchs in Waldenburg im Jahr 2020 ins Netz stellte, erhielt ich fast ausschließlich Mails und Kommentare in sozialen Medien, die beschrieben, wie sich Schüler:innengenerationen dort nicht an Skeletten und möglicherweise am Schaurigem erfreut hatten, sondern an den kleinen, feinen und verrückten Gegenständen, die sich unter jahrhundertelang schützenden Händen auffallend gut erhalten haben. Jedes andere Museum würde ein gebäudehohes Mumienposter an die Wand Richtung Straße hängen und damit den falschen Ton für das lichtdurchflutete Gebäude setzen. Doch in Waldenburg zählen die Kleinigkeiten – die oft genug gar keine sind. Naja, manchmal doch: Die seit Jahrzehnten an der Kasse erhältlichen Tonigelchen sind klein. Und fein. Und gehören genau dort hin. Wer den ausufernden Museumsshop im Londoner Naturkundemuseum gesehen hat, der gefühlt ein ganzes Stockwerk umfasst, weiß, warum ich die Waldenburger Tonigel schätze. Doch noch einmal zu den eigentlichen Ausstellungsstücken. Vielen dürfte nicht bewusst sein, dass beispielsweise die gefälschten Fossilien ein berühmtes Lehrstück schlechter Forschung sind, die uns heute weder ärgern oder erheitern sollten, sondern die zeigen, wie wichtig Störungen sind, um die Güte unserer Beobachtungen zu heben. Selbst das im Vergleich zur zweiköpfigen Kuh eher mager und unscheinbar wirkende Marmorei aus Waldenburg ist etwas Besonderes (Abb. 1). Mehrere beruflich mit Versteinertem arbeitende Kolleg:innen hatten Spaß daran, diese marmorne Nuss mit mir zu knacken. Hier kommt die Lösung. »Dieses Ei ist mir neu«, schrieb Kollege Achim Reisdorf, ehemals Mitarbeiter im unter anderem für seinen versteinerten Wald bekannten Naturkundemuseum Chemnitz, heute am Ruhr-Museum in Bochum tätig. Mit Achim habe ich die bisher einzige preisgekrönte Arbeit meines Œvres verfasst. Sie handelt von seit Jahrmillionen und bis 25

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