Leseprobe

Wunderkammer Waldenburg

Herausgegeben von Fanny Stoye und Katja Margarethe Mieth Museum Naturalienkabinett Waldenburg Staatliche Kunstsammlungen Dresden – Sächsische Landesstelle für Museumswesen Sandstein Verlag, Dresden

Wunderkammer Waldenburg Die ganze Welt im Kleinen

8 Grußwort Michael Kretschmer Ministerpräsident des Freistaates Sachsen 9 Grußwort Jörg Götze Bürgermeister der Stadt Waldenburg 10 Das Naturalien-kabinett und ich Bernd Pohlers 14 Staunen und Entdecken Katja Margarethe Mieth Die älteste Spiritussammlung der Welt 104 Drei Fischpräparate und ihre wissen- schaftlich-historische Neubewertung Wolf-Eberhard Engelmann und Olaf Zinke 112 Frau Merian und die Sternfingerkröte Sandy Nagy 120 Eine »gelblichte Nater von Isebeck« Torsten K. D. Himmel und Sandy Nagy Das Meer in der Wunderkammer 128 Herr Linck und seine Sterne Sandy Nagy 136 Barocke Seesterne – Lincks Wissen als Erbe 138 Ein Schlangenstern aus der antiken Götterwelt Carsten Lüter 142 Kissenstern – Wunderwerk der Natur 20 – 49 126 – 155 72 – 101 102 – 125 50 – 71 »Mein kleines Cabinet kann allerhand Curieux« 52 Denken in Schubladen Christina Ludwig 60 Der Linck-Index – Eine dreibändige Bestandsaufnahme 62 Female Heritage Christina Ludwig Das fürstliche Naturalienkabinett 74 Der Museumsgründer Arnd-Rüdiger Grimmer 82 Ein Brief, der alles verändert Ronny Maik Leder, Henriette Joseph und Nadine Baum 88 Tagebuch-Einblicke Christina Ludwig 94 Fürstliches Sammeln im 20.Jahrhundert Robby Joachim Götze Phänomen Wunderkammer 22 Der Reiz von Naturalienkabinetten Mark Benecke 28 Wunderkammer Waldenburg Fanny Stoye 40 Gästebuch der Linck-Sammlung 42 Schätzbare Naturaliensammlungen Holger Zaunstöck

146 »Schnecken vom ersten und höchsten Range« Simon Rebohm und Andreas Stark 152 Conchylien aus der Linck-Sammlung Gekonnt präpariert für die Ewigkeit 158 Die Kolibris und die Suche nach dem Durchblick Sandy Nagy 166 Ein falscher Seeteufel – Präparat eines Dorschs 168 Ungeboren und Ausgestopft Alan S. Ross 174 Carl Ferdinand Oberländer Heike Karg 182 Trophäen – Aus Afrika an die Wand 184 Der Moluckische Krebs Willi Xylander 190 Wer ist Lulu? Fanny Stoye 196 Das doppel- köpfige Kalb Fanny Stoye Vom Experiment zur Erkenntnis 206 Sonnenuhren Jürgen Hamel 214 Das Waldenburger Tellurium Wolfram Dolz 222 Als Andreas Gärtner die Sonne bändigte Paul Küttner und Peter Plaßmeyer 228 Mikroskop – Kleines ganz groß 230 Spielerische Wissenschaft Thomas Stauss 238 Elektrischer Kanonier 240 Die Geistermaschine Bernd Scholze Von Herbaren und edlen Hölzern 248 Von Dejima nach Waldenburg Thilo Habel 254 Seychellennuss – in Gold aufgewogen 256 Fragile Schönheiten Roxana Naumann und Sandy Nagy 262 Linck-Herbar 264 Die frühbarocke Holzbibliothek Fanny Stoye 274 Das Heu der Wissenschaft Matthias Breitfeld Wunder der Alchemie und Medizin 284 Fluor Rubinicus Dedo von Kerssenbrock- Krosigk 292 Die Kunst der Naturnachahmung Rainer Richter, Michael Mäder und Fanny Stoye 204 – 245 156 – 203 246 – 281 282 – 327

302 Smalte aus Schneeberg 304 »Gleich einem Jaspis« Julia Weber 310 Stoßzähne von Narwalen 312 Medikament und Sammlungsobjekt Interview mit dem Mineralogen Prof. Dr. Gerhard Heide, TU Bergakademie Freiberg, geführt von Fanny Stoye 318 Das Waldenburger Drogenschränkchen Veit Hammer 326 Antilopenhorn mit Einhornbeschlag Artificialia oder edle Kunstsachen 330 Bist du mir treu, so werd‘ ich dein! Fanny Stoye 336 Holzdose mit 24 Gefäßen – winzig klein 338 Eine Spurensuche Jutta Kappel 346 Zwergenkarikaturen? Katja Margarethe Mieth 392 Der Waldenburger »Hühnermensch« als epistemisches Objekt Eberhard Wolff 398 Frühgeborener menschlicher Fötus 400 Schädel mit injizierten Arterien Jakob Fuchs 406 eine Säuglingsmumie aus Ägypten? 408 Sternenkinder Fanny Stoye Aus Paläontologie und Archäologie 420 Die Nichtigkeit im Totentopf Matthias Wöhrl 426 »Todtentöpfe« und »Aschenschalen« – Archäologische Kuriositäten 428 Protorosaurus speneri, die »Ureidechse« Silvio Brandt 434 Kupfersuhl, London, Waldenburg Helmut Möller und Dieter Mitschke 328 – 369 352 Asiatisches Original? 354 Mehrschichten- bilder mit Glimmer Simone Bretz 360 Wachsbild einer Landschaft 362 Zwei Geduldflaschen Igor A. Jenzen Unter die Haut. Objekte der Anatomie 372 Die Waldenburger Venus Franziska Gerloff 380 Zwei Anatomiemodelle aus luxuriösem Elfenbein 382 Die anatomische Sammlung der Lincks, der Fürsten und der Stadt Waldenburg Thilo Habel 390 Modell des mensch- lichen Ohres 370 – 417 418 – 445

438 Eine grüne Moment- aufnahme aus der Geschichte der Erde und des Lebens Ronny Rößler und Frank Löcse 444 Der Nager von Waltsch (Ge)Steine der Erde, Steine des Himmels 448 Einzigartiges Zeugnis der Mineralogiegechichte Klaus Thalheim 458 »Der Mann mit Perücke« Silvio Brandt 464 Beringers Lügensteine Anno 1726 Birgit Niebuhr 470 Totenköpfchen aus Bernstein – Edles Memento Mori 472 Frösche in Bernstein Alexander Gehler 478 Bernsteinamulett 480 Der Pallasit von Krasnojarsk Birgit Kreher-Hartmann 488 Farbige Glasflitter des 18.Jahrhunderts Anne Rannefeld Faszination des Fremden – Koloniale Perspektiven 496 Glanzstück des alten Ägypten Billy Böhm und Sabrina Herrmann 502 Chinesische Statuette 504 Imagine Fernost Fanny Stoye 512 Helu (Tongaischer Steckkamm) 514 Die »americanischen Printzen« Christina Ludwig 522 Asiatische Tuschen 524 Sinesische Spiele Fanny Stoye 532 NO – -Maske – Japanisches Theater 534 »Groß sind die Werke des Herrn« Thomas Ruhland 542 Mission, Glaube und Gewalt Fanny Stoye 552 Dornauszieher – Symbol der Emanzipation 554 Kleine Münze – Große Geschichte Lutz Mücke Anhang 564 Abkürzungsverzeichnis 565 Glossar 570 Objektauflistung 585 Personenverzeichnis 594 Literaturverzeichnis 615 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 620 Abbildungsnachweis 623 Dank 624 Impressum 446 – 493 494 – 561 562 – 624

Phänomen Wunder- kammer

Der Reiz von Naturalien- kabinetten Mark Benecke Was den Reiz von Naturalienkabinetten einmal ausmachte, lässt sich heute nicht mehr nachzeichnen. Außer in Waldenburg. Während in den Vereinigten Staaten das Franchiseunternehmen Ripley’s Believe It or Not! ab 1933 von Chicago ausgehend »Odditorien« erbaute – mein Lieblings-Irrsinns-Objekt darin: der abgeschlagene und aufgetrennte Kopf des Serienmörders Peter Kürten aus Düsseldorf; fragen Sie nicht, wie er nach Chicago kam –, dabei eher der modernen, das heißt bluttriefenden Sensation vor- oder nachjagte und daher das jeweils Größte, Kleinste und damit auch Wahlloseste zeigte, gingen die deutschsprachigen, viel älteren Sammelsurien in Kriegen unter, in Flammen auf oder interessierten keinen Menschen mehr. Aufnahmebecken für die sich so auflösenden Sammlungen waren wenn, dann bei wertvolleren oder seltsameren Einzelstücken Kunstmuseen oder Sammler:innen. Heißer Kandidat für einen

23 dort gesuchten Gegenstand wäre das heute waldenburgische wurmstichige Holz-Modell der auseinanderbaubaren Frau gewesen. Naturhistorische Sammlungen übernahmen Kästen und Kisten mit Pflanzen und Insekten, allerdings nur mit langen Zähnen, weil die Lebens- und Liebeswerke nicht nur oft kreuz und quer zusammengewürfelt waren, sondern Sammel-Orte und -Zeiten fehlten. Manches aus Naturalienkabinetten verschwand also im Archiv oder auf dem Markt der Liebhaber:innen. Hatten die sammelnden Großeltern, früher oft Lehrerinnen oder Lehrer, Hagestolze und Sonderlinge, ihren Erben nicht rechtzeitig den Wert des aus ihrem eigenen Naturalienkabinett oder dem diesem Abgekauften nahegebracht, dann landeten die damals teils noch leichter wieder beschaffbaren oder sonstwie schlicht wertlos gewordenen Dinge im Müll. Sie kennen das von Manschettenknöpfen oder Fabergé-Eiern (falls Sie wissen, was das mal war): Einst hochgeschätzte, teils teure Kleidungsbestandteile und Kunstobjekte, heute nicht einmal ein Gähnen wert. Dasselbe gilt für Comics, die seit wenigen Jahren in die Preußische Staatsbibliothek in Berlin aufgenommen werden. Es mussten drei Generationen vergehen, bis das vorstellbar wurde. Derweil verschwand sehr viel. Etwas einfacher hatten es medizinisch an- oder durchhauchte Sammlungen wie der Narrenturm in Wien. Dort sind bis heute anatomisch interessante Leichenteile ausgestellt, aber, wie in Waldenburg, auch ein vertrocknetes Kleinstkind in Gänze. Die Wiener Sammlung mit heute fast 50 000 Kabinettstücken entstand ab dem Jahr 1796 und wurde in den vergangenen Jahren frisch hergerichtet – wie auch das Medizinhistorische Museum in Berlin, das nach Erneuerung in diesem Jahr wieder geöffnet wurde. Immerhin blieb es erhalten; auch damit hatte vor zehn Jahren kaum noch jemand gerechnet. Im Jahr 2012 wurde die Sammlung des Narrenturms dem prächtigen Naturhistorischen Museum in Wien zugeschlagen, glücklicherweise nur formell und nicht räumlich. Andernfalls wäre dort mangels Ausstellungsfläche alles im Keller gelandet – ein Tanz auf der Messerschneide, bei dem meist kleine politische und geldliche Änderungen das verschwinden lassen oder erhalten, was zuvor in hunderttausenden von Arbeitsstunden zusammengetragen wurde. Die neuere elektro-pathologische Sammlung des Narrenturms aus dem Jahr 1936 wurde beispielsweise in den 1980er Jahren erst vom Elektrotechnischen Museum und nach dessen Schließung vom Technischen Museum übernommen. Das ist bemerkenswert, weil es am Gebäude des Narrenturms einen Blitzfänger gab, bei dem bis heute gerätselt wird, ob er der Stromerzeugung zur Behandlung ehemals dort einsitzender »Narren«, also geistig veränderter Menschen, gedient haben mag. Es könnte aber auch das Gegenteil, nämlich die Abwehr von Blitzen während Gewittern versucht worden sein. Beides, also die damals weiter nördlich sogenannten »Irren« mit Strom zu schocken, aber auch der Wunsch, das Wetter zu steuern, war damals en vogue, und beides interessiert heutige Kuriositätensucher:innen. Trotz des sinnvollen Bezugs zwischen elektrischer Sammlung und närrischem Gebäude fiel das Blitzkuriosum der Umformung anheim. Wie gesagt: Sammlungen zersplittern rasch. Schön, dass das in Waldenburg anders ist. Eine weitere, heute ebenfalls zu Unrecht als irgendwie schräg angesehene Sammlung ist das Mütter-Museum in Philadelphia. Es ist nicht nach weiblichen Eltern, sondern dem Arzt Thomas Mütter benannt, dessen Sammlung dort früh eingegliedert und schließlich auf ihn getauft wurde. Seit 1849 überlebt es die Zeiten, doch wenn ich auf das Museum hingewiesen werde, dann stets mit der augenzwinkernd schaurigen Anmerkung, es sei gruselig genug, um meine Aufmerksamkeit zu binden. Dabei liebe ich auch Motten und Flussbrücken, die findet sonst jeder langweilig. Trotzdem verstehe ich, dass Naturalienkabinette schnell Gedanken ans Seltsame auslösen. Mütter zeigt beispielsweise medizinische Geräte, die von frankensteinschen Horrorfilmen bis hin zur Kinohorrorserie stets in wunderliche Zusammenhänge gesetzt werden. Nur kamen zuerst die Geräte und dann die Filme ...

1 ZWEI MARMORVARIETÄTEN IN FORM EINES GEVIERTELTEN EIS Italien, um 1700; CarraraMarmor und Giallio Antico, gehauen, geschliffen und poliert; Linck-Sammlung, belegt im Linck-Index II (1786), S. 41, Nr.10; je Viertel: Länge: 7 cm, Breite: 4 cm, Höhe: 4 cm; Gewicht: 155 g; Inv.-Nr. NAT 333 Bei diesem Kunstkammerstück handelt es sich um ein in vier Spalten geteiltes rundes Marmorstück. Während das weiße Gestein echter CarraraMarmor ist, der das Eiweiß imitieren soll, mutet das gelbe Gestein im Inneren – sogenannter Marmor Giallio Antico – an wie Eidotter. Das Arrangement spielt gekonnt mit der Illusion, als sei soeben ein Ei in mundgerechte Stücke geteilt worden. In Italien und speziell in Florenz gab es mehrere Manufakturen, die aus Stein täuschend echte bildkünstlerische dreidimensionale Arbeiten wie diese schufen.

Dort, in Philadelphia, sind auch Kriegsverletzungen sowie ein Gipsabguss der Körper von Chang und Eng Bunker zu sehen, den bekanntesten aller sogenannten »siamesischen« Zwillinge. Die Leichen der miteinander verwachsenen Brüder waren im Mütter-Museum im Jahr 1874 untersucht worden. Dass nüchternen Menschen dies vor allem zur Anschauung, Lehre und neugierigen Freude diente, die wiederum anderen nützte, ist gefühlsbetonten Menschen schwer zu erklären. Es gibt ja sogar Großstädter, die den angeblichen »Lärm« von Spatzen und Nachtigallen anstrengend finden. Wem die bisher genannten Merkwürdigkeiten soweit erwartbar erschienen: Mütter zeigt auch das Nähset der Erfinderin der modernen Krankenpflege, Florence Nightingale aus England, sowie ein Spannungsmessgerät, das Nobelpreisträgerin Marie Curie gehörte, Teile des Brustkorbs von John Wilkes Booth, dem Mörder Abraham Lincolns (früherer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika) und Fotos der beiden ersten Patienten, die Dreifachamputationen überlebten. Die Grenzen zwischen Seltsamkeit und Sensation fließen erkennbar. Das ist Fluch und Segen, denn einerseits sichert so etwas Aufmerksamkeit, die wiederum vor Schließung schützen kann. Andererseits gelten Forschungsanträge, die sich angeblich abgelegenen Gebieten widmen, meist als nicht förderungswürdig. Denn selbst wenn die Sachbearbeiter:innen wohlgesonnen sind, fragen sie sich, ob das nun eher ins geschichtliche, medizinische, naturwissenschaftliche oder künstlerische Feld fällt. Wie schön also, dass die Gegenstände in Waldenburg in Frieden ruhen, und zwar in Frieden mit der örtlichen Bevölkerung, mit politischen Wendungen und auch untereinander. Kein Gegenstand jagt dem anderen Aufmerksamkeit ab, alles ist gleich berechtigt und gleich viel wert. Die Stadt Waldenburg besitzt weder eine Mumienshow noch ein Gruselmuseum noch ein pädagogisches Juwel – alles häufige Beschreibungen in diesen Zusammenhängen –, sondern ein gutes, altes Naturalienkabinett, das die Menschen lieben, die es kennen. Nachdem ich Fotos meines Besuchs in Waldenburg im Jahr 2020 ins Netz stellte, erhielt ich fast ausschließlich Mails und Kommentare in sozialen Medien, die beschrieben, wie sich Schüler:innengenerationen dort nicht an Skeletten und möglicherweise am Schaurigem erfreut hatten, sondern an den kleinen, feinen und verrückten Gegenständen, die sich unter jahrhundertelang schützenden Händen auffallend gut erhalten haben. Jedes andere Museum würde ein gebäudehohes Mumienposter an die Wand Richtung Straße hängen und damit den falschen Ton für das lichtdurchflutete Gebäude setzen. Doch in Waldenburg zählen die Kleinigkeiten – die oft genug gar keine sind. Naja, manchmal doch: Die seit Jahrzehnten an der Kasse erhältlichen Tonigelchen sind klein. Und fein. Und gehören genau dort hin. Wer den ausufernden Museumsshop im Londoner Naturkundemuseum gesehen hat, der gefühlt ein ganzes Stockwerk umfasst, weiß, warum ich die Waldenburger Tonigel schätze. Doch noch einmal zu den eigentlichen Ausstellungsstücken. Vielen dürfte nicht bewusst sein, dass beispielsweise die gefälschten Fossilien ein berühmtes Lehrstück schlechter Forschung sind, die uns heute weder ärgern oder erheitern sollten, sondern die zeigen, wie wichtig Störungen sind, um die Güte unserer Beobachtungen zu heben. Selbst das im Vergleich zur zweiköpfigen Kuh eher mager und unscheinbar wirkende Marmorei aus Waldenburg ist etwas Besonderes (Abb. 1). Mehrere beruflich mit Versteinertem arbeitende Kolleg:innen hatten Spaß daran, diese marmorne Nuss mit mir zu knacken. Hier kommt die Lösung. »Dieses Ei ist mir neu«, schrieb Kollege Achim Reisdorf, ehemals Mitarbeiter im unter anderem für seinen versteinerten Wald bekannten Naturkundemuseum Chemnitz, heute am Ruhr-Museum in Bochum tätig. Mit Achim habe ich die bisher einzige preisgekrönte Arbeit meines Œvres verfasst. Sie handelt von seit Jahrmillionen und bis 25

heute regelmäßig, aber nur scheinbar explodierenden Walen.1 Den Satz »Das ist mir neu« hatte ich von ihm zuvor noch nie gehört. Das Waldenburger Ei ist also merkwürdiger als es scheint. »Bei dem Ei«, so führte Kollege Reisdorf weiter aus, »handelt es sich um einen speziellen Kunstgegenstand, der wohl mit einem Augenzwinkern ersonnen worden ist. Es besteht nämlich aus zwei verschiedenen Marmorvarietäten, die aus zwei unterschiedlichen Marmorvorkommen stammen. Das ›Eiweiss‹ besteht aus ›Cararischem weissen Marmor‹, bei dem es sich wahrscheinlich um den weltberühmten Carrara-Marmor aus Italien handelt. Dieser Marmor zeichnet sich durch seinen hohen Weißegrad aus (andere metamorph überprägte Kalksteine – und nichts anderes ist Marmor – zeigen häufig schlierenartige Verunreinigungen durch andere Mineralien). Das ›Eigelb‹ besteht aus ›Marm. Gialio antico‹. Diese Marmorvarietät stammt aus den Steinbrüchen nahe der Stadt Simitthu in Tunesien. Das Gestein zeigt eine Färbung von gelb, rosa bis rot. Beim Ei hat man also die gelbe Varietät jeweils in die Form eines gekochten, geviertelten Eigelbes gebracht. Auch der weiße Carrara-Marmor wurde in Form gebracht, vermutlich zuerst in die Form eines Eis geschliffen, dann in vier Teile gesägt. Ein versteinertes Ei haben wir also nicht vorliegen, sondern ein menschengemachtes ›faules‹ Ei aus echten Gesteinen, so wie Marmorstatuen eben auch keine versteinerten Menschen sind.« Ist das nicht ein traumhaftes Rätsel für Kinder und Erwachsene? Vom Schildchen am Marmorei durch Nachforschung zu Wahrheit, Würde und Wikipedia, die auch Achim nutzt, und für die ich gerne schreibe. Nur muss man Interesse und Kenntnis haben, um zur richtigen Quelle zu gelangen. Das lernen Kinder in Waldenburg ganz nebenbei an jedem Gegenstand im Kabinett: Einer davon interessiert alle! Wie das Waldenburger Ei, als eines der einfacher zu entschlüsselnden Gegenstände – zumindest für jemanden, der genügend Mumien-, Schmetterlings-, Elektrizitäts- und Versteinerungskundler:innen kennt –, garantiert fast jedes Ausstellungsstück des sächsisch-ordentlichen und nahezu unberührten Naturalienkabinetts in Waldenburg Stunden des Staunens, Schauens und Schauderns. Wenn ich ein paar Nächte alleine in einem Museum verbringen dürfte, dann hier. Und das will etwas heißen, denn ich durfte mit meiner Mitarbeiterin Tina schon mehrere Nächte im größten Mumienkeller der Welt in Palermo verbringen. Natürlich haben auch andere Museen ihren Reiz. Das schon erwähnte Naturhistorische Museum in Wien darf beispielsweise seit wenigen Jahren wieder das Schoßhunderl der Kaiserin Maria Theresia ausstellen, nachdem der neue Direktor dies zunächst für wenig lehrreich hielt und entfernt hatte. Da aber Generationen von Menschen im herrschaftlichen Treppenhaus des Museums am zugegeben niedlichen und natürlich exzellent hergerichteten Hund vorbeiflaniert waren, beugte sich die neue Direktion dem Wunsch der Massen. Eine nebensächliche Kuriosität, gewiss, aber was für eine! Auch im derzeit in Renovierung befindlichen Museum für Naturkunde in Berlin, aus dem ich zur Wende noch einen Baum aus einem der zerschrotteten Stockwerke wachsen sah, stehen wunderschöne Geheimnisse en masse, beispielsweise der Papagei des Naturforschers Alexander von Humboldt. Das Tier ist ein bisschen angekokelt, aber das ist eine andere Geschichte. Ich durfte Jacob, so heißt der Vogel, fotografieren, bevor er wieder in seiner schönen Museumskiste verschwand. Ein Moment, den ich nicht vergessen werde. Im Museum für Naturkunde gibt es auch Einhornhörner und Millionen anderer Kostbarkeiten zu sehen – hinter den Kulissen. Nur in Magdeburg darf ein offensichtlich gefälschtes Einhorn gleich im Museumseingang stehen. Doch seit Naturalienausstellungen immer glatter, schöner und moderner werden, und seit Didaktik Einzug hält, wo vorher pure Verschwendung und Vielfalt herrschten, da verschwinden auch die Füllhörner des Überflüssigen und Überzähligen. Wenn überhaupt noch vielfältige Wahllosigkeit gezeigt wird, die doch den Kern aller kindlichen Forschungsbewegungen bildet, dann unter dem modischen Mantel der Artenvielfalt. Das ist schön, aber auch traurig, da wir uns im größten Artensterben befinden, das Menschen je erlebt haben. Anstatt einer Erinnerung daran, wie viel Leben es einst auf der Erde gab, ist mir die Mischung aus Motoren, Motten und Mumien schon lieber. Es fehlt zwar das eigentlich Überge­

ordnete oder ein Leitfaden, – mir zumindest ist er eh egal –, aber in Waldenburg kann ich wie ein Kind mit 1 000 Euro im Süßigkeitenladen stehen und Tatsachen erforschen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie sich in der Wirklichkeit niedergeschlagen haben. Wer würde beispielsweise eine alte Brille ausstellen, die nicht einer berühmten Person gehört hat, aber wilder aussieht als die William von Baskervilles im Film Der Name der Rose? Wo steht ein riesiger Globus und Sternenplan neben vielen sehr gut ausgestopften und einigen weniger gut gelungenen präparierten Tieren? Kaum noch irgendwo, denn es wird ja geordnet, geglättet, gelehrt und das allzu Schräge wie schon erwähnt in die Keller verbannt. Daher mein Loblied auf das tolle Naturalienkabinett in Waldenburg. Ich würde die Kugelschreiberschrift aus DDR-Zeiten an der wertvollen Sammlung von Holzstückchen genauso lassen, wie sie ist, den Topf mit Menschenknochen nicht groß ausschildern und die afrikanischen Speerspitzen im Treppenhaus sicherheitshalber nachformen lassen, bevor sie – das wird meiner Erfahrung nach geschehen – an die Nachkommen ihrer Besitzer:innen zurückgehen. Sie besitzen und beleben hier, am Ende der Welt oder mitten in Europa, ganz wie Sie wollen, eine geschichtlich und künstlerisch spannende Perle, aber vor allem das letzte Naturalienkabinett seiner Art. Wenn die beiden jetzigen Chefinnen durchhalten, die erkennbar der Himmel geschickt hat, denn sie wollen nichts antasten, nur digitalisieren und das Museum erweitern, werden Sie am Ende das Wertvollste besitzen, was Menschen besitzen können: Einen Ort, der neugierig macht, ohne kluge Stupser geben zu müssen, eine digitalisierte Sammlung, die wild und zufällig durch die Wissensgebiete reicht, und vor allem einen Raum, der wie bei Harry Potter nach dem Ausspruch »Capacious extremis« von außen klein erscheint, innen aber riesig ist. Anders gesagt: Wenn über Ihrem Museum kein Ausdehnungszauber liegt, dann will ich kein Erforscher des Merkwürdigen sein. Ich gratuliere dem Naturalienkabinett Waldenburg zu 180 Jahren Bestehen. Ad multos annos, wie meine Vorgänger:innen gesagt hätten, oder besser: Bleib, wie Du bist. Warum, das habe ich gerade dargelegt. 1 Reisdorf et al. 2012. 27

Der Prophet im eigenen Land ... Das bekannte Sprichwort »Der Prophet gilt nichts im eigenen Land« beschreibt treffend, wie leicht man die Besonderheit einer Sache aus dem Blick verlieren kann, wenn man sie von Klein auf kennt, während Außenstehende ihr Potenzial umso schneller erfassen. Im Kern trifft dies auch auf das Museum Naturalienkabinett in Waldenburg zu: Im Jahr 1981 besuchte der britische Kunsthistoriker Arthur MacGregor das Naturalienkabinett, der aufgrund seiner Forschungsarbeiten zu den europäischen Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten bis heute eine geachtete Koryphäe auf diesem Gebiet ist.1 Der spätere Direktor des Ashmolean Museum in Oxford, einem der ältesten Raritätenkabinette der Welt, erkannte mit seinem geschulten Blick im kleinen sächsischen Waldenburg sofort ein außergewöhnliches historisches Museum mit einer ebenso bemerkenswerten Sammlung. Selbstverständlich war das Wunderkammer Waldenburg Fanny Stoye Kleine Sammlungs- und Museumsgeschichte

nicht, führte das Waldenburger Museum doch seit 1948 den Namenszusatz »Heimatmuseum«, sodass es sich dem Namen nach vielmehr in die zahlreichen lokalgeschichtlichen, kleinen Museen einreihte. Während also zu DDR-Zeiten die bedeutsamen Sammlungsbestände des Naturalienkabinetts durch diesen Namen eher verschleiert wurden, war das Urteil MacGregors klar und eindeutig: Noch 1996 bekräftigte er in einem Schreiben an die damalige Museumsleiterin Ulrike Budig, dass er »most impressed« von der Waldenburger Sammlung gewesen sei.2 Eine fürstliche Museumsgründung Dass das Naturalienkabinett einmal einen solch besonderen Eindruck auf seine Besucher hinterlassen würde, verdankte sich den energischen Bemühungen seines Museumsgründers Fürst Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg. Seit den 1830er Jahren hatte er sich mit dem Aufbau einer eigenen Sammlung auseinandergesetzt, ließ seit 1838 systematisch Privatsammlungen für Waldenburg begutachten und ankaufen und konnte knapp acht Jahre später, nämlich 1845/46, die Einrichtung des uns heute vertrauten Naturalienkabinetts abschließen. Zwei Aktenbände bündeln diese spannenden Vorgänge,3 erklären aber nicht die Gründungsmotivation des Fürsten. Immer wieder wurden dessen Bildungsbestrebungen genannt, die unter anderem Neugründungen wie das Schönburgische Schullehrerseminar im Jahr 1844 nach sich zogen und in die sich ein Museum als öffentliche Bildungsstätte gut einfügte.4 Es spricht jedoch einiges dafür, das Naturalienkabinett eben nicht nur als von Anfang an öffentliche und bildungsbürgerliche Einrichtung, sondern auch als späten Vertreter fürstlicher Universal- und Kunstsammlungen privaten und repräsentativen Charakters anzusehen, die in einigen Punkten sogar frühneuzeitlichen Mustern folgt. So muss man festhalten, dass es bis zum Zeitpunkt der Erhebung Otto Carl Friedrichs von Schönburg-Waldenburg in den Fürstenstand im Jahr 1790 keine repräsentative Sammlung in Waldenburg gegeben hatte, wie man sie in vergleichbaren Fürstenhäusern, so etwa im benachbarten Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt mit einem eigenen Naturalienkabinett längst besaß.5 Auch der anfangs angedachte Ort für die neue Sammlung lässt aufhorchen: Für die neuen Sammlungen ließ Fürst Otto Victor bis September 1840 den Dachboden oberhalb der fürstlichen Reithalle als Museum herrichten und mit eigens angefertigten Vitrinen aus Eichenholz und Rauchglasscheiben bestücken (Abb. 1). Die obere Etage der fürstlichen Reithalle als Museumsräume zu nutzen, war schon seit dem 16. Jahrhundert etwa in den Residenzen in München oder in Hessen-­ Kassel Praxis, insbesondere da es zunächst an eigenen Sammlungsräumen mangelte.6 Es waren schlechte klimatische Verhältnisse und Schimmelbefall in der neu eingerichteten Sammlung, die in Waldenburg um 1844 zum Entschluss führten, die oberen Räume in der Reithalle aufzugeben und im rechten Winkel dazu ein neues Haus zu bauen, das 1845/46 vollendet wurde. Doch auch dieses Gebäude war ein fürstlicher Multifunktionsbau mit einer Remise für Wagen und fürstliche Prunkschlitten im Erdgeschoss, einer Lagerfläche für Theaterkulissen im ersten Obergeschoss und dem Naturalienkabinett im zweiten Obergeschoss. Auch wenn wiederholt auf die Zugänglichkeit des Naturalienkabinetts durch die Öffentlichkeit hingewiesen wurde,7 belegen die bei der Fürstlichen Kanzlei geführten Museumsakten zunächst eher einen privaten Umgang mit der Sammlung durch die Fürstenfamilie. Neben den jeweils amtierenden Museumswärtern und -aufsehern8 besaßen die Fürsten eigene Schlüssel zu den Ausstellungsräumen und -vitrinen und überwiesen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder Sammlungsstücke. Mitunter diente das Naturalienkabinett sogar als zeitweiliger Aufbewahrungsort kleinerer Privatkollektionen wie von Otto Sigismund, Prinz von Schönburg-Waldenburg oder Prinzessin Luise von Schönburg-Waldenburg.9 Obwohl Gästebücher oder einschlägige Berichte fehlen, 29

liegt es nahe, dass die Fürstenfamilie das Kabinett auch Gästen zeigte: In einer Kurzdarstellung über das Naturalienkabinett aus dem Jahr 1907, die eventuell für einen Führer durch Sachsens Museen gemacht worden war, wurde zur Frage der Zugänglichkeit für Publikum und Fachgelehrte vermerkt: »Jederzeit unentgeltlich zugänglich.«10 Erst für die 1920er Jahre belegen vereinzelte Annoncen im Schönburger Tageblatt nach 192011 und ein Besuchs-Buch des Fürstlichen Museums zu Waldenburg die öffentliche Zugänglichkeit des Naturalienkabinetts.12 Dieses 1913 angelegte Gästebuch weist in den Folgejahren gerade einmal ein Dutzend Einträge zu Gästen auf, bei denen es sich nahezu ausschließlich um Lehrer des Fürstlichen Seminars Waldenburgs mit ihren Schulklassen (»Quarta«) handelte. Wöchentliche Besuche von Schülern, Lehrern, Handwerkern und immer mehr Bauern setzten erst ab 1934 ein und wurden bis 1948 immer mehr. Dieser Befund legt nahe, dass sich das fürstliche Naturalienkabinett erst sukzessive für Besucher öffnete. Unzweifelhaft hing diese Entwicklung mit der 1928 erfolgten Gründung des Fürstlich Schönburg-Waldenburgischen Familienvereins zusammen, dessen Zweck die Bewahrung wertvoller Sammlungsgüter und die dauerhafte Gewährleistung ihrer öffentlichen Zugänglichkeit war, in dessen Eigentum das Naturalienkabinett übertragen worden war.13 Die Waldenburger Sammlungen Anders als bislang angenommen, wurden anfangs keineswegs nur naturkundliche Sammlungen für einen Ankauf in Erwägung gezogen: 1838 stand beispielsweise das »Kunstkabinett« eines Sammlers namens Ernst Arnoldi in Dresden zum Verkauf, für das der Fürst allerdings zu spät ein Gebot abgab.14 Auch im Waldenburger Archiv erhaltene

Zeitungsannoncen über zum Verkauf stehende »Raritätenkabinette«, die eher Universalsammlungen waren und in der Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Museen den Gründungsimpuls bildeten,15 weisen auf diese früheren Intentionen hin. Der späterhin zunehmend verfolgte Schwerpunkt auf naturkundliche Sammlungen verdankte sich sicher auch der wichtigsten helfenden Hand des Fürsten, dem Forstsekretär und späteren Oberförster Gustav Adolf Gieße. Ihm oblagen lange Zeit auch Aufbau und Pflege der Waldenburger Sammlung. Über ihn kam 1839 der Kontakt zum Apotheker Carl Ferdinand Reichel aus Hohenstein zustande, der eine kleine Mineraliensammlung ohne genau überlieferte Stückzahl an den Waldenburger Fürsten verkaufte. Nur kurze Zeit später folgte ebenfalls aus der Hand Reichels ein außergewöhnliches Herbar mit 7 843 Herbarbelegen in Papierbögen. Im gleichen Jahr erwarb der Fürst eine Insektensammlung von Karl Gerhardt aus Leipzig mit rund 10 000 Arten in etwas mehr als 18 000 Exemplaren. Kurz darauf folgte die umfängliche Vogelsammlung des Bäckermeisters und Hobbyornithologen Carl Ferdinand Oberländer aus Greiz mit über 1 000 Tieren einheimischer und exotischer Arten. Weitere Vogelpräparate exotischer Arten kamen durch den Dresdener Missionar Christian Gottlieb Teichelmann aus Australien in das Naturalienkabinett. Die aus heutiger Sicht mit Abstand wichtigste und umfangreichste Anschaffung war jedoch der Ankauf des barocken Naturalien- und Raritätenkabinetts der Leipziger Apothekerfamilie Linck mit über 13 000 Objekten, der nach über einjähriger Verhandlung zu äußerst günstigen Konditionen zustande kam.16 Diese Sammlung, die zwischen 1670 und 1807 über mehrere Generationen zusammengetragen wurde, fiel schon bei ihrer Begutachtung durch zahlreiche Einzelstücke auf, wie sie auch den Fachexperten dieser Zeit »noch nicht vorgekommen waren«.17 Und obwohl diese Sammlung mit Namen solch berühmter Sammler und Forscher der Wissenschaftsgeschichte wie Maria Sibylla Merian, Peter Simon Pallas, Andreas Gärtner, Johann Kunckel oder Georg Forster aufs Engste verbunden war, blieb der Umgang mit den Objekten von klarem Pragmatismus geprägt. Beispielhaft zeigt sich dies an den zahlreichen Umarbeitungen von in Alkohol konservierten Präparaten in Stopfpräparate oder auch in der Entsorgung von Stücken, die in einem äußerst vernachlässigten Zustand gewesen sein müssen. Einige wurden einfach durch neue Präparate ersetzt. Man könnte auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass die Waldenburger Sammlungen im Grunde von Laien zusammengetragen wurden, ja dass eher Glück und Verhandlungsgeist als gezielte fachliche Expertise und genaue Auswahl maßgeblich für den Sammlungsaufbau waren. Nicht unterschätzen sollte man dabei das große Netzwerk des Fürsten und seines Forstsekretärs Gieße zu einschlägigen Sammlern, Experten und anderen weltläufigen Personen, das eine hohe Qualität der fürstlichen Sammlung gewährleistete: So war der Apotheker Reichel nicht nur Mitglied Naturwissenschaftlicher Gesellschaften wie der zu Jena, sondern auch ein Fürstlicher Komplex aus Reithalle, Museum und Marstall aus der Vogelperspektive, Aufnahme vor 1945; Archiv Museum Naturalienkabinett Waldenburg 1 31

Günstling des russischen Generalskonsuls Robert von Bacheracht in Hamburg und des Mineralogen Heinrich von Struve gewesen. Über diese Kontakte können so manch rare Stücke in der Waldenburger Sammlung erklärt werden. Eng waren außerdem die Kontakte zur Universität Leipzig und hier insbesondere zum Konservator des Zoologischen Museums Moritz Gerhardt sowie zum berühmten Naturforscher Eduard Friedrich Poeppig.18 Vor dem Ankauf nahezu jeder Sammlung wurden einschlägige Experten um Gutachten gebeten, so wie der Naturforscher Johann Gottfried Zehler aus Bonn oder Johann Gottfried Apetz aus Altenburg. Auch noch beim späteren Erwerb von exzeptionellen Einzelstücken wie dem Sarg der Mumie Shep-en-Hor 1846 griff dieses Prinzip der angefragten Expertise, wie die Waldenburger Kontakte zum Ägyptologischen Institut der Universität Leipzig, später zum Museum für Asiatische Kunst in Berlin und zahlreiche andere bezeugen. Doch schon in den 1840er Jahren hatte sich die Qualität des Waldenburger Naturalienkabinetts in Sachsen herumgesprochen. Heinrich Ludwig Reichenbach, Direktor der Zoologischen Sammlungen am Zwinger in Dresden und Mitglied der Leopoldina, rühmte beispielsweise, der Fürst habe mit dem Naturalienkabinett in dem von ihm »segendreich (sic) regirtem Lande ein neues Mittel gewählt, seine Aufklärung und Intelligenz zu vermehren« und der Geschichte der Naturwissenschaften einen großen Dienst erwiesen.19 Ordnen, Sortieren, Präsentieren 1846 präsentierte sich das Naturalienkabinett als Museum mit über 10 000 ausgestellten Exponaten, die aus den Bereichen der Mineralogie und Paläontologie stammten, die verschiedene Herbare und eine stattliche Sammlung von Conchylien sowie Präparate von Fischen, Reptilien, Säugetieren und Vögeln umfasste. Hinzu kamen vor allem aus der Linck-Sammlung physikalische Geräte, kunsthandwerkliche Stücke und einige Ethnografica, die bis in das 20. Jahrhundert hinein vervollständigt werden sollten. In diesem Konglomerat von Sammlungen verschiedenster Provenienzen war nicht deren Herkunft oder die Epoche ihres (Auf-)Sammelns entscheidend, sondern das Sich-Einfügen in das Prinzip der sich immer schärfer voneinander abgrenzenden Wissenschaftsdisziplinen. Von Anfang an machte man sich Gedanken über eine möglichst schlüssige wie auch sparsame Präsentation all dieser Sammlungsgebiete auf kleinstem Raum, für die Gieße im Februar 1841 einen Lageplan vorlegte (Abb. 3). Er bildete die typischen Bereiche der naturkundlichen Fachgebiete seiner Zeit ab und gab das System für die Einordnung aller Sammlungsstücke vor, die in Form von sechs Enfiladen mit jeweils zwei Kabinetten links und rechts eines Mittelgangs realisiert werden sollten. Thematisch umfassten die Kabinetträume 1 und 2 Säugetiere und anatomische Präparate, die Kabinetträume 3 und 4 Vogelpräparate, der Kabinettraum 5 Amphibien und Fische, der Kabinettraum 7 Conchylien, Seeigel, Seesterne sowie Korallen auf den Vitrinen, der Kabinettraum 8 Insekten, die Kabinetträume 9 und 10 Mineralien und Petrefac-

Raumplan für die Einrichtung des fürstlichen Naturalienkabinetts im Obergeschoss der fürstlichen Reithalle, entworfen vom Forstsekretär Gieße, 1841; Archiv Museum Naturalienkabinett Waldenburg Blick in eine Vitrine des Naturalienkabinetts mit Fossilien aus der LinckSammlung und historischen Etiketten vor der umfassenden Neuordnung und Neubestimmung, Aufnahme frühe 1920er Jahre; Archiv Museum Naturalienkabinett Waldenburg ten und der Kabinettraum 11 in einer Raumhälfte Physikalische Instrumente sowie in der anderen Raumhälfte Kunstsachen. Dieses anfangs nur für die Räume der Reithalle gewählte Ordnungssystem blieb jedoch von Dauer – im heutigen Gebäude mit dem Naturalienkabinett im zweiten Obergeschoss wurde das Konzept nahezu eins zu eins aufgegriffen. Hier wie dort setzte man auf eine Präsentation der Objekte in reich und zum Teil überbordend gefüllten Vitrinen, vom untersten bis hin zum obersten Vitrinenboden, alle Stücke fast gleichrangig nebeneinander und durch handgeschriebene Objektschilder 2 3

Gästebuch der Linck-Sammlung Leipzig, geführt zwischen 1767 und 1822; geprägtes Leder, Papier mit Goldschnitt, Buntpapier, handschriftliche Eintragungen; Linck-Sammlung; Höhe: 4,5 cm; Breite: 21 cm; Tiefe: 24,5 cm; Archiv Museum Naturalienkabinett Waldenburg, Sign. B 922 Das kleine in Leder gebundene Büchlein mit Goldschnitt wurde 1767 unter Johann Heinrich Linck d. J. als Gästebuch eingeführt und dokumentiert als eines der letzten Zeugnisse seiner Art den Besucherverkehr in einem privaten barocken Naturalien- und Kuriositätenkabinett. Anlass war vermutlich der Besuch des Kurfürsten Friedrich August III., der die Linck-Sammlung am 12. Oktober 1767 besichtigt hatte. Seinem Eintrag als erster Gast folgten bis 1822 über 1 200 weitere. Neben zahlreichen Adligen aus dem Baltikum, Studenten der Medizin und Naturforschern finden sich auch berühmte Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts unter den Gästen: der Südseereisende Georg Forster, der Begründer der Homöopathie Christian Friedrich Samuel Hahnemann oder der klassizistische Architekt Friedrich Wilhelm Freiherr von Erdmannsdorff. 41

In der griechischen Mythologie ist Medusa die einzige Sterbliche der drei Gorgonen, ein geflügeltes Ungeheuer mit Schlangenhaaren, dessen Anblick die Menschen zu Stein erstarren lässt. Dem Mythos nach wird sie von Perseus mithilfe einer List enthauptet: Er nähert sich der schlafenden Medusa mit einem verspiegelten Schild, in dem er nur ihr Abbild sieht, und entgeht dadurch ihrem tödlichen Anblick. Betrachtet man die Anatomie des nach der berühmten Gorgo benannten Schlangensterns liegt die »Verwandtschaft« und damit der Grund für die Namensgebung auf der Hand: Von einer kopfartigen Zentralscheibe gehen fünf Arme aus, die bereits an der Basis verzweigt sind und bis zu den Spitzen in eine Vielzahl gewundener Einzeläste auslaufen. Im lebenden Tier winden sich diese Arme ausgestreckt in das umgebende Meerwasser. Auf der Suche nach Nahrung werden dabei feinste Planktonpartikel von dem Ein Schlangenstern aus der antiken Götterwelt Wie eine Medusa ins Linnésche System fand Carsten Lüter

reusenartigen Armgeflecht eingefangen und entlang einer Nahrungsrinne auf der Unterseite der Arme zur Mundöffnung in der Mitte der Zentralscheibe transportiert. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich das von Schlangen züngelnde Haupt der Medusa vorzustellen. Das im Naturalienkabinett Waldenburg gezeigte Stück (Abb. 1) ist Teil der Linckschen SeesternSammlung, die die Grundlage des 1733 von Johann Heinrich Linck d. Ä. veröffentlichten Werkes De stellis marinis bildete. Es ist die weltweit erste wissenschaftliche Monografie über sogenannte Seesterne, wobei die von den eigentlichen Seesternen (Asteroidea) zu unterscheidenden Haarsterne (Crinoidea) und Schlangensterne (Ophiuroidea) – zu denen das Gorgonenhaupt gehört – ebenfalls berücksichtigt werden.1 Lincks Beschreibung des Gorgonenhauptes Die in De stellis marinis abgedruckten Kupferstiche zeigen das Gorgonenhaupt lediglich im Detail, das gesamte Tier wird darin nicht abgebildet (Abb. 2, 3). Es gibt Ansichten der Zentralscheibe von beiden Seiten und die Zeichnung eines Armes mit seinen Verzweigungen.2 Die Beschreibung des Tieres erfolgt nach der damals bereits üblichen Klassifikation in Gattung (Genus) und Art (Spezies), aber erst 1735 erscheint mit Systema Naturae des schwedischen Botanikers Carl von Linné ein einheitliches Klassifikationssystem für Tiere, Pflanzen und Mineralien, das jeder Art einen eindeutigen lateinischen Doppelnamen (Binomen), bestehend aus Gattungs- und Artnamen, zuweist. Linné schuf damit ein einfaches und bis heute gültiges System für die Ordnung des Lebendigen, einen Meilenstein in der systematischen Biologie und eine entscheidende Grundlage für das, was wir heute Biodiversitätsforschung3 nennen. Johann Heinrich Linck d. Ä. hatte von alldem bei seiner Beschreibung noch keine Kenntnis. Seine Gattungs- und Artbenennung ist eine Ansammlung von Begrifflichkeiten, die möglichst typische Eigenschaften des Tieres inklusive der Herkunft bereits in dessen Namen abzubilden versucht, so auch für das hier besprochene Exemplar: Astrophyton scutatum scuto rotato ramis similaribus ex mari albo – ein Sternschild mit gleichförmigen, im Kreis angeordneten Strahlen aus dem weißen Meer. Wiewohl Linck die Oberseite der Zentralscheibe des Gorgonenhauptes begrifflich sehr gut erfasst, ist augenfällig, dass mit dieser Art der Namensgebung, die der wortreichen Charakterisierung eines Tieres gleicht, eine systematische oder verwandtschaftliche Einordnung kaum möglich ist. Auch der deutsche Name »Gorgonenhaupt« kommt bei Linck noch nicht vor. Er konzentriert sich auf das auffälligste Merkmal des Tieres: die strahlenförmigen Leisten auf der morphologischen Oberseite der Zentralscheibe. Lincks Namensgebung funktioniert wie eine Bestimmungshilfe, während bei Linné die Eigenschaftsbeschreibung der Art in nur einem einzigen Wort, dem Art-Epitheton, Platz findet. Das hat zur Folge, dass dem Namen zwingend eine weitere Beschreibung folgen muss, da charaktergebende Eigenschaften im Artnamen nur sehr allgemein untergebracht werden können, wie etwa pratensis für »auf einer Wiese vorkommend« oder silvestris für »im Wald vorkommend«. Da diese Beispiele auf mehrere Arten zutrafen, waren Dopplungen möglich, aber nur dann zulässig, wenn die Arten gleichen Namens unterschiedlichen Gattungen zugeordnet werden konnten. Dies mündete in einem hierarchischen, geschachtelten System, das man beliebig erweitern kann. 139

141 SCHLANGENSTERN (GORGONOCEPHALUS CAPUTMEDUSAE) Weißmeer, um 1700; Trockenpräparat (Kalk); Linck-Sammlung, belegt in De Stellis Marinis (1733), unter Asterias s. stella astrophyton scutatum scuto rotato ramis similaribus ex mari albo, Abb. XXI/ n.48t, XX/ n.4; Durchmesser: 31 cm; Inv.-Nr. NAT 252 Schlangensterne sind die nächsten Verwandten der Seesterne. Die stark verzweigten, filigranen Arme der Schlangensterne sind mit vielen kleinen Stacheln besetzt und auf Planktonfang spezialisiert. Das zerbrechliche Kalkskelett ist äußerst anfällig für Beschädigungen, da die Kalkstrukturen bisweilen sehr dünn sind. Die jahrelange Präsentation dieses Exemplars aus der barocken LinckSammlung in einer Vitrine – aufgeklebt und aufgestellt – hinterließ erhebliche Schäden. Dank aufwendiger konservatorischer Arbeiten ab dem Jahr 2007 erstrahlt dieses Objekt nun wieder und bereichert auch in Zukunft die außergewöhnlich reiche barocke SeesternSammlung. Linnés Systema Naturae in der zehnten Auflage In der Erstauflage seiner Systema Naturae hatte Linné mehr als 400 Tier-, Pflanzen- und Mineraliennamen aufgelistet. Mit jeder Neuauflage des Werkes wuchs diese Anzahl, bis 1758 mit der zehnten Auflage allein 4 378 Tierarten nach der Linnéschen Nomenklatur benannt waren, darunter auch das Gorgonenhaupt, Asterias caputmedusae (heute: Gorgonocephalus caputmedusae). Die Veröffentlichung dieser Auflage ist eine Zäsur in den biologischen Wissenschaften. Sie gilt als die Geburtsstunde der Taxonomie, der Wissenschaft von der Beschreibung der Arten. Alle darin enthaltenen Artnamen haben bis heute Gültigkeit, alle Publikationen vor der zehnten Auflage, auch die vorherigen Auflagen der Systema Naturae selbst, sind für die Taxonomie irrelevant. In seiner Beschreibung des Gorgonenhauptes gibt Linné in lediglich einem Satz die Verzweigung der Arme als artbestimmendes Merkmal an.4 Da Systema Naturae keine Abbildungen enthält, wird auf bereits bestehende Darstellungen der beschriebenen Tiere und Pflanzen in den reich bebilderten Monografien anderer Autoren verwiesen, unter anderem auf Lincks De stellis marinis und im speziellen Fall auf eben jene Tafeln 29 und 30, auf denen das heute in Waldenburg gezeigte Gorgonenhaupt abgebildet ist.5 Sind Lincks „Seesterne“ Typusexemplare von Linné? Der Verweis auf die Linckschen Seesterne in Linnés Werk birgt nicht nur für das Gorgonenhaupt, sondern auch für eine Reihe anderer Arten der Sammlung eine ungewöhnliche Perspektive: Allein durch die Tatsache, dass die bis zu 300 Jahre alten Objekte bis heute mehr oder weniger im Originalzustand erhalten sind, kommt ihnen nach 1

Kissenstern – Wunderwerk der Natur Fragil und zerbrechlich offenbart dieser Genetzte Kissenstern sein Innerstes. Das Endoskelett besteht aus Calcit, einem weichen Mineral mit Magnesiumoxidanteil, der die Verstärkung der chemischen Bindungen bewirkt. Die von Skelettbildungszellen angelegten Gebilde, die später zu Platten, den Ossikeln, verwachsen und sich zum Skelett zusammenfügen, ähneln in ihrer Struktur der Anordnung von Kohlenstoff in Diamanten. Auch die Ausrichtung und Anordnung der einzelnen Atome verstärkt das Calcit, wodurch das Skelett der Tiere beweglich, leicht und robust zugleich ist. Dies erklärt, warum trotz schwieriger Bedingungen die meisten Präparate des Konvoluts die Zeit ohne größere Schäden überdauert haben. Genetzter Kissenstern (Oreaster reticulatus) Atlantik, gesammelt vor 1733; Linck-Sammlung, belegt in De Stellis Marinis (1733): Asterias s. stella pentaceros gibbus reticulatus, Abb. XXII. XXIV / n.36; Durchmesser: 23 cm; Inv.-Nr. NAT 224 143

Zeitmesser für alle Gelegenheiten – und jeden Geldbeutel Wissenschaftliche und technische Instrumente hatten in vergangenen Jahrhunderten neben ihrem praktischen Nutzen auch Repräsentationszwecke. Künstlerisch ausgeführt in edlen Materialien wie Gold, Silber, Elfenbein und kostbaren Hölzern, waren sie Objekte, die das gesellschaftliche Ansehen vermehren konnten. Kunstkammern von Herrschern aller Ebenen, von Päpsten, Kaisern, Königen, Fürsten bis hin zu vermögenden Bürgern beinhalteten neben Naturalien aller Sonnenuhren Zeitmesser mit vielen Seiten Jürgen Hamel Arten auch Globen, Landkarten, Visier- und Zeicheninstrumente sowie aufwendig gestaltete Räderuhren und Sonnenuhren. All dies sollte den Reichtum, den Kunstsinn und, wenn auch wohl seltener, die wissenschaftliche und technische Bildung des Besitzers dokumentieren. Sonnenuhren durften dabei nicht fehlen. Sie waren schon den alten Griechen bekannt und blieben bis ins 18. Jahrhundert hinein die genauesten und deshalb die am weitesten verbreiteten Zeitmesser. Neben ihnen gab es andere Zeitmesser wie Wasser-, Öl- oder Kerzenuhren und später Räderuhren. Die Erstgenannten vermochten nur kurze Zeiträume mithilfe aus einer Düse auslaufenden Wassers, durch den sinkenden Stand verbrannten Öls oder durch das Abbrennen einer Kerze zu messen. Räderuhren hingegen waren bis ins 19. Jahrhundert hinein in privaten Haushalten nur wenig verbreitet und ließen es an Genauigkeit

207 fehlen. Auf Sonnenuhren dagegen war Verlass. Kirchturmuhren, die mit ihrem Glockengeläut einer ganzen Stadt die Zeit verkündeten, mussten möglichst oft mit einer Sonnenuhr korrigiert werden. Um ein populäres Bild zu gebrauchen: Selbst der Glöckner von Notre-Dame brauchte eine Sonnenuhr! Alle Sonnenuhren folgen einem einfachen Funktionsschema, welches im Detail – abhängig von den Ansprüchen bezüglich Genauigkeit und künstlerischer Gestaltung – auch komplizierter sein kann. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer horizontalen oder vertikalen Platte mit Linien zur Stundenanzeige und einem gemäß der geografischen Breite des Ortes oder der Region geneigten Stab. Der große Bedarf an Zeitbestimmung konnte deshalb leicht von qualifizierten Laien, die Sonnenuhren herstellten, gedeckt werden. Wandernde Handwerksburschen hatten hölzerne Sonnenuhren, um zu wissen, ob die nächste Herberge noch im Sonnenlicht erreichbar sei. Reiche Händler und Ratsherren hatten sie in Elfenbein oder vergoldetem Messing, um ihre teuren Räderuhren danach zu stellen und die Marktzeiten und Ratssitzungen nicht zu verpassen. Und schließlich fanden sie sich als Produkte großer Kunstfertigkeit in edlen Materialien in den Audienzräumen und Raritätenkammern von Fürsten, Kaisern und Bischöfen. Die vielfältige Verwendung führte zu einem Gestaltungsreichtum, den kaum ein anderes wissenschaftliches oder technisches Instrument aufweisen kann, die Bandbreite reicht von einfachen Horizontalsonnenuhren bis zu aufwendig gestalteten Polyedersonnenuhren mit einer Vielzahl von Anzeigeflächen aus verschiedenen hochwertigen Materialien.1 Sonnenuhren stellen wichtige Zeugnisse der Sozialgeschichte, Naturwissenschaft und Technik dar. Die acht Sonnenuhren des Naturalienkabinetts Waldenburg stehen stellvertretend für verschiedene Typen sowie verschiedene Herstellungsweisen dieser Zeitmesser (Abb. 1 bis 8). Drei Sonnenuhren sind die eher selten aufzufindenden Würfel- und Polyedersonnenuhren, die in ihrer Berechnung und Herstellung recht aufwendig sind; weitere drei Objekte sind Klappsonnenuhren, ein weit verbreiteter Typ der Taschen- oder Reisesonnenuhren; die übrigen zwei sind Horizontalsonnenuhren.2 Zeitmesser als Wegbegleiter Das bemerkenswerteste Objekt der Sammlung ist ohne Zweifel die Polyedersonnenuhr von Christoph Jacobi, doch verdienen gerade die einfachen, aus Holz gefertigten Sonnenuhren ebenfalls Aufmerksamkeit. Während die Sonnenuhr mit der Inventarnummer NAT V 167 M gemäß der darauf befindlichen Meistermarke in Form einer Hand von Leonhard Andreas Karners in Nürnberg stammt, wurde NAT V 168 M offenbar von einem örtlichen Handwerker gefertigt, wohl etwa zu derselben Zeit. Beide sind Klappsonnenuhren und bestehen aus zwei Holzplättchen von etwa 5 bis 6 cm Breite und 6 bis 8,5 cm Länge, die mittels Drahtscharnieren miteinander verbunden sind. Werden die Plättchen zusammengeklappt, lassen sich die Sonnenuhren geschützt in der Kleidung oder im Gepäck verstauen. Zur Zeitnahme werden sie geöffnet, woraufhin sich zwischen den Plättchen ein Faden aufspannt. Dessen Schatten fällt sowohl auf die Skala der horizontalen Sonnenuhr der Grundplatte als auch auf die der vertikalen Sonnenuhr des Deckplättchens. Sie zeigt die richtige Zeit an, wenn die Uhr mittels des Kompasses exakt nach Norden ausgerichtet wurde. Die Sonnenuhr NAT V 167 M (Abb. 7) entstand um 1720 und weist zusätzlich kleine Skalen zur Anzeige der Stunden nach Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergang auf, die sogenannten italienischen oder babylonischen Stunden. Die Skalen und Verzierungen wurden eingeritzt und mit schwarzer oder roter Farbe nachgezogen. Für die Ziffern wurden offenbar Stempel verwendet, was auf eine Werkstatt verweist, in der Sonnenuhren in größerer Stückzahl gefertigt wurden.

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