Leseprobe

Denkmalpflege in Sachsen Jahrbuch 2021 Mitteilungen des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen

 Herausgeber © 2023 Landesamt für Denkmalpflege Sachsen Schloßplatz 1, 01067 Dresden Telefon: (03 51) 48 43 04 00 Telefax: (03 51) 48 43 04 99 1. Auflage, 2023 Konzept Ulrike Hübner-Grötzsch Redaktion Konstantin Hermann Ulrike Hübner-Grötzsch Sabine Webersinke Für den Inhalt der Beiträge zeichnen die Autoren verantwortlich. Alle Rechte vorbehalten. Genderhinweis Wenngleich zugunsten der besseren Lesbarkeit der Texte teilweise die männliche Sprachform gewählt wurde, beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter. Es wird darauf hingewiesen, dass dies keinesfalls eine Benachteiligung anderer Geschlechter darstellt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung und Vertrieb Sandstein Verlag, Dresden 978-3-95498-753-5 Titelseite: Moritzburg, die westliche der beiden kursächsischen Distanzsäulen, 1730 zur prunkvollen Ausschmückung der Schlossauffahrt errichtet, Wappenteil und Spitze nach Unfällen nachgebildet, seit der Restaurierung 2007 wieder am originalen Standort, Foto 2023, LfD Sachsen, Sven Köhler. Rückseite: Radeberg, Detail der nachgebildeten Distanzsäule, 2021 (wie S. 74, Abb. 16). Seite 4: Paul Wolff, Moritzburg, Hoftafel mit Tafelsilber im Geweihsaal des Schlosses während der Ausstellung »August der Starke und seine Zeit« anlässlich des 200. Todestages des Kurfürsten, 1933, LfD Sachsen, Bildsammlung, Nachlass Paul Wolff, Neg.-Nr. PW 2912. Seite 5: Foto: Christine Starke, Dresden.

3 Inhalt Alf Furkert Vorwort 5 BEITRÄGE Torsten Nimoth Die Entdeckung mittelalterlicher Wandmalereien in den Kirchen der Oberlausitz in Folge der Kriegsschäden von 1945 6 Lia Bertram, Andreas Schulze, Tino Simon Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien 22 Jitka Šrejberová Transferregion Erzgebirge Grenzübergreifendes Forschungsprojekt »Spätmittelalterliche Kunst in der Montanregion Krušnohoří/Erzgebirge« 46 Rolf Schmalfuß Zum dreihundertjährigen Jubiläum der kursächsischen Postmeilensäulen Augusts des Starken Die ehrenamtliche Arbeit der Forschungsgruppe Kursächsische Postmeilensäulen e.V. 65 Anja Simonsen Über die Sorgen eines Gärtners Oder von den Herausforderungen der Nischwitzer Gartenanlagen vom 18. bis in das 21. Jahrhundert 76 Jörg Möser Die Restaurierung des historischen Waldschlößchens in Dresden Gestaltungsintentionen des Bauherrn Camillo Graf Marcolini und seines Architekten Gottlob Friedrich Thormeyer 93 Silke Epple Der Hermann-Seidel-Park in Dresden-Striesen Zur Geschichte eines Stadtteilparks 112 Christine Kelm Die schwierige Suche nach der Wahrheit Die Wiederherstellung der spätbarocken Raumschale der Stadtkirche St. Marien in Werdau 124 Kristina Holl, Paul Bellendorf, Anne Karl, Thomas Löther Auswirkungen des Klimawandels auf Kulturgut in Deutschland Umfrage-Auswertung im Rahmen eines DBU-Forschungsprojektes 128 VERANSTALTUNGEN UND BERICHTE Michael Müller Das Kulturdenkmal Neustädter Markt in Dresden 135 Mandy Fischer, Dorit Gühne Abschluss des Pilotprojektes »Digitale Denkmaltopografie« 138 Nils M. Schinker, Nora Wiedemann Länderübergreifendes Erfassungsprojekt »Zeugnisse der Braunkohleindustrie in den sächsischen Revieren« 140 Martin Schuster, Markus Wacker Kooperation Dreidimensionale digitale Modellierung nach historischen Plänen 141 Matteo Burioni, Martin Schuster Kooperation Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland 142 Caspar Stärk Das Freiwillige Soziale Jahr in der Denkmalpflege – Einsatzstelle Landesamt für Denkmalpflege Sachsen 144 Maren May Jahresausstellung: Der Fotograf Paul Wolff (1876–1947) 145 Sabine Webersinke, Barbara Leibnitz Tag des offenen Denkmals 2021 146 Carolin Hottmann, Sabine Webersinke Sächsisches Landesprogramm »PEGASUS Schulen adoptieren Denkmale« 148 Julia Maitschke 30 Jahre Zwingerbauhütte in Dresden 150 Kristin Hiemann 25-jähriges Bestehen des Institutes für Diagnostik und Konservierung an Denkmalen in Sachsen und Sachsen-Anhalt (IDK e.V.) 151 Udo Frenschkowski, Sabine Webersinke Deutscher Preis für Denkmalschutz 2021 für die Evangelische Kulturstiftung Görlitz 152 PERSONALIA 153 AUTOREN 160

22 Lia Bertram, Andreas Schulze, Tino Simon Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien einen und der Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung auf der anderen Seite bisher eher selten und erst in jüngster Zeit verstärkt zeitgleich und auf Augenhöhe direkt am Objekt zusammenarbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse im interdisziplinären Diskurs gemeinsam analysieren, zueinander in Beziehung setzen und bewerten. Der Forschungsansatz des hier vorgestellten Projektes hatte deshalb, wie bereits erwähnt, die systematische und objektive Erfassung der Objekte nach kunsttechnologischen und kunsthistorischen Gesichtspunkten zum Ziel, nicht jedoch das Bestätigen oder Widerlegen bereits existierender Thesen etwa zur Urheberschaft einzelner Stücke. Nur so lassen sich nach übereinstimmender Auffassung aller an diesem Projekt Beteiligten Schwächen anderer, ähnlich gelagerter Forschungsprojekte vermeiden und eine wissenschaftlich wirklich fundierte Basis für zukünftige vergleichende Untersuchungen des Bestandes legen. Das Fernziel besteht in der Erarbeitung eines Korpuswerkes zu dieser Objektgruppe für Sachsen, welches neben einem Gesamtüberblick unter anderem auch detaillierte Quervergleiche zwischen den einzelnen Kunstwerken und letztendlich, über die Identifizierung individueller künstlerischer und handwerklicher Schaffensgewohnheiten, auch zuverlässigere Schlussfolgerungen zu Werkstattzusammenhängen oder gar Zuschreibungen an einzelne Meister, zu den organisatorischen Details sowie den engen wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen mit benachbarten Regionen im Spätmittelalter erlauben würde. Für die Realisierung des ersten kleinen Schrittes auf dem Weg zu einer flächendeckenden Erfassung im Freistaat Sachsen war es nach vergeblichen Projektanträgen auf nationaler Ebene ein außerordentlich glücklicher Umstand, dass der stellvertretende Landeskonservator Michael Kirsten im Januar 2015 eine Anfrage tschechischer Kollegen von der Regionsbehörde Usti nad Labem (Aussig/Tschechien) weiterleitete, die nach einer sächsischen Partnerinstitution für ein grenzüberschreitendes Forschungsprojekt zur spätmittelalterlichen Retabelkunst im Rahmen des vom »Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE« ins Leben gerufenen »Kooperationsprogramms zur Förderung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zwischen dem Freistaat Sachsen und der Tschechischen Republik 2014–2020« suchten. Daraus entwickelte sich in der Folgezeit eine intensive, vertrauensvolle und auch äußerst angenehme Zusammenarbeit mit den tschechischen Projektpartnern, die als sogenannter Leadpartner dankenswerter Weise auch die administrative Hauptlast bei der Beantragung und Umsetzung des Projektes übernahmen. Angesichts des regionalen Förderschwerpunktes dieses Kooperationsprogrammes lag es nahe, für die Untersuchungen die Einführung Am 30. Juni 2021 konnte das sächsisch-tschechische Forschungsprojekt »Spätmittelalterliche Kunst in der Montanregion Erzgebirge« erfolgreich abgeschlossen werden, in welchem die Regionsbehörde Usti nad Labem (Aussig/Tschechien) und das Regionalmuseum und die Galerie in Most (Brüx/ Tschechien) über mehr als drei Jahre lang sehr intensiv mit dem Studiengang für Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (HfBK Dresden) kooperierten.1 Die Grundidee für ein solches Forschungsprojekt wurde bereits vor vielen Jahren unter Ulrich Schießl2 gemeinsam mit Wissenschaftlern des damaligen Geisteswissenschaftlichen Zentrums für die Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig3 und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) sowie weiteren Fachkolleginnen und -kollegen geboren, im Sommer 2013 wieder aufgenommen und in der Folgezeit in enger Zusammenarbeit vieler Beteiligter inhaltlich und organisatorisch weiter fortentwickelt und konkretisiert. Ziel ist dabei die systematische und interdisziplinär angelegte Erfassung, Untersuchung und Dokumentation des Gesamtbestandes an vorreformatorischen Retabeln, Skulpturenzyklen und Einzelskulpturen aus Holz sowie Tafelbildern in Sachsen, sowohl unter kunsthistorischen als auch kunsttechnologischen Blickwinkeln. Denn obwohl die Reformation lutherischer Prägung 1527 zunächst im ernestinischen und 1539 auch im albertinischen Sachsen offiziell eingeführt wurde, haben sich auf deren ehemaligem Territorium besonders viele Kunstwerke aus katholischer Zeit erhalten. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Martin Luther – im Gegensatz zu anderen Reformatoren – den Bildersturm, also die gezielte Vernichtung sakralen Kunstgutes aus religiösen Gründen, ausdrücklich ablehnte. Aber trotz dieses Reichtums an noch erhaltenen materiellen Sachzeugen jener Epoche in unserem Land hat sich die kunsthistorische Forschung bislang noch nie systematisch diesem Bestand in seiner Gesamtheit und Vollständigkeit angenommen, auch wenn etwa von Kunsthistorikern oder Restauratoren wie Eduard Flechsig, Wilhelm Junius, Walter Hentschel, Ingo Sandner und Arndt Kiesewetter umfangreiche und wichtige Untersuchungsergebnisse zu Teilbereichen dieser Objektgruppe und darüber hinaus auch zahlreiche Publikationen4 zu Einzelobjekten oder Künstlerpersönlichkeiten vorliegen. Zudem konzentrierten sich die Forschungen bislang vorrangig auf stilkritische Aspekte und Archivstudien, während kunsttechnologische und objektgeschichtliche Befunde seltener Berücksichtigung fanden. Dies liegt sicherlich daran, dass die beiden Wissenschaftsdisziplinen der Kunstgeschichte auf der

Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien 23 mittlerweile zum Weltkulturerbe gehörende böhmisch-sächsische Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří und dabei konkret die Stadt Freiberg als das sicher bedeutendste Zentrum spätmittelalterlicher Kunstproduktion im sächsischen Teil des östlichen Erzgebirges und des künstlerisch-kulturellen Austausches mit Nordböhmen auszuwählen. Der Antrag für das Forschungsprojekt konnte im Mai 2016 fertiggestellt und eingereicht werden und erhielt auch eine sehr positive Beurteilung seitens des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen und des Tourismusverbandes Erzgebirge e.V. Die Bewilligung wurde anderthalb Jahre später Mitte Oktober 2017 erteilt, so dass die Arbeiten endlich im März 2018 starten konnten. Das gesamte Projekt wurde von einem wissenschaftlichen Fachbeirat begleitet, in welchem unter anderem Kolleginnen und Kollegen aus sächsischen Institutionen, aber auch aus internationalen Partnereinrichtungen sowie freiberuflich tätige oder inzwischen im Ruhestand befindliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitwirkten.5 Als erster Schritt musste ein möglichst kompletter Überblick über den Gesamtbestand der zu betrachtenden Objektgruppe für das Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen sowie grenzübergreifend für die Region Nordböhmen gewonnen werden. Hierzu wurden alle verfügbaren schriftlichen und bildlichen Quellen ausgewertet, neben der einschlägigen Fachliteratur unter anderem auch die historischen und aktuellen Bestandskataloge der Museen, die Alte und die Neue Sächsische Kirchengalerie, die verschiedenen Inventarwerke zu sächsischen Denkmalen, Bild- und Forschungsdatenbanken, Objektakten und Fotos des Landesamtes für Denkmalpflege, aber auch umfangreiche Archivalien aus dem Sächsischen Staatsarchiv bis hin zu Internetseiten von Kirchgemeinden und Museen.6 Alle gewonnenen Informationen wurden in ein entsprechendes Objektverzeichnis und – als ein erstes wichtiges Arbeitsmittel – in eine interaktive Landkarte übertragen, wobei auch Werke berücksichtigt wurden, die heute zwar nicht mehr existieren, zu denen es aber zuverlässige Informationen, wie zum Beispiel historische Fotoaufnahmen, gibt. Bei der Verortung auf der Landkarte wurden die Kunstwerke jeweils an ihrem frühesten nachweisbaren Aufbewahrungsort eingetragen (Abb. 1). Inzwischen umfassen die Liste und die Karte insgesamt 2 031 Positionen, wobei die Retabel und die Skulpturengruppen unabhängig von ihrem Umfang jeweils nur als ein einzelner Eintrag verzeichnet sind. Bislang konnten 348 Retabel oder Retabelteile, 1 230 Holzskulpturen sowie 152 Tafelbilder als noch existent nachgewiesen werden. Den schriftlichen Erwähnungen weiterer 48 Retabel, 523 Skulpturen und 53 Tafelbilder ist bezüglich ihres Erhalts und ihrer heutigen Aufbewahrungsorte noch nachzugehen.7 Insgesamt Abb. 1 Interaktive Landkarte spätmittelalterlicher Holzbildwerke und Tafelmalereien in Sachsen, Visualisierung des Objektbestandes, Arbeitsstand 19. 9. 2021.  Retabel oder Retabelbestandteile  Skulptur oder Skulpturengruppen  Tafelgemälde K nicht erhalten K erhalten K Status noch unklar K Herkunft unbekannt, erhalten K Herkunft unbekannt, Status unbekannt

24 Lia Bertram, Andreas Schulze, Tino Simon Abb. 2 Interaktive Landkarte spätmittelalterlicher Holzbildwerke und Tafelmalereien in Sachsen, Detailansicht mit dem Grundriss der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz, Lokalisierung der Objekte am derzeitigen Standort, Beispiel für zwei Popup-Fenster mit hinterlegten Objektinformationen, Arbeitsstand 19. 9. 2021. Abb. 3 Startseite der Datenbank »arsligni« zur Erfassung spätmittelalterlicher Holzbildwerke und Tafelmalereien in Sachsen mit Kachelansicht der Objekte aus dem Dom St. Marien in Freiberg, Arbeitsstand 19. 9. 2021. 76 Altäre oder Altarbestandteile, 120 Skulpturen und 6 Tafelbilder, von denen es schriftliche oder bildliche Überlieferungen gibt, müssen heute als verloren gegangen betrachtet werden. Kriegsverluste haben daran den größten Anteil. Bei etwa 50 Objekten sind Teilverluste zu verzeichnen. Die für die Eintragung in die Karte gewählten Signets kennzeichnen sowohl die Objektgattung – also Retabel, Einzelskulpturen und Tafelbilder – als auch den jeweiligen Status ihrer Existenz. Je nach Detaillierungsgrad der verwendeten Open-Source-Karte ist es vielfach sogar möglich, wie hier am Beispiel der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz illustriert, die Standorte der einzelnen Kunstwerke in den jeweiligen Gebäuden zu verorten (Abb. 2). Jede Objektmarkierung auf der Karte ist mit einer Kurzbeschreibung und in den meisten Fällen auch mit einer Abbildung hinterlegt, die sich beim Anklicken der Symbole öffnen. Die Datenfelder enthalten Angaben zur Bezeichnung der Kunstwerke, zu ihrer ursprünglichen Herkunft und den derzeitigen Standorten, zur Datierung und Zuschreibung einschließlich der diesbezüglichen Quellen, ob und in welchem Umfang sie sich bis heute erhalten haben, zu eventuell vorhandenen Inventarnummern und zu Jahreszahlen belegter Restaurierungen oder Überarbeitungen. Ebenso sind knappe Anmerkungen möglich. Ein Verweis auf den Urheber der angefügten Abbildung schließt die Kurzbeschreibungen ab. Ein zweiter wesentlicher Schritt war die Erarbeitung eines Erfassungssystems, mit dem alle relevanten Informationen und Untersuchungsdetails sowohl kunsthistorischer als auch kunsttechnologischer Natur sowie wesentliche Angaben zum aktuellen konservatorischen Erhaltungszustand der Objekte in einheitlicher Form – und damit für vergleichende Betrachtungen nutzbar – dokumentiert werden. Hierfür dienten zunächst einzelne Formulare im Word-Format, um die Anzahl

Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien 25 und Art der notwendigen Datenfelder festzulegen und zu testen. Auch wenn bereits vorhandene Datenblätter und Dokumentationssysteme, wie das Thüringer Erfassungsschema,8 als Anregungen mit herangezogen wurden, geht die nun erreichte Informationstiefe und -dichte weit über bisherige Beispiele hinaus. Nach der Erprobung der Praxistauglichkeit dieses Erfassungssystems an ausgewählten Kunstwerken entstand daraus eine speziell hierfür entwickelte Forschungsdatenbank namens »arsligni«, ohne die eine Bewältigung der erhobenen Datenmengen bereits jetzt nahezu unmöglich wäre (Abb. 3). Zurzeit nur auf Deutsch ausgelegt, ist die zukünftige Erweiterung der Datenbank um zwei weitere Sprachen – Tschechisch und Englisch – von vornherein vorbereitet. Es erscheint sinnvoll, sie perspektivisch an das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen zu überführen und dort mit der existierenden Denkmaldatenbank zu verknüpfen. Sie soll zukünftig kontinuierlich weiter gefüllt werden und der Fachöffentlichkeit auf Antrag und bei Nachweis eines berechtigten Interesses für wissenschaftliche Forschungen zur Verfügung stehen.9 Selbstverständlich werden allen Eigentümern die vollständigen Datensätze und Forschungsergebnisse zu ihren Objekten zur Verfügung gestellt. Zudem erhalten sie und die Fachbehörden detaillierte Beurteilungen des konservatorischen Zustandes und Hinweise auf einen eventuell vorhandenen konservatorisch-restauratorischen Handlungsbedarf. Wegen der bereits erwähnten besonderen Rolle Freibergs für die Entwicklung der gesamten Montanregion Erzgebirge/ Krušnohoří stand die Stadt mit dem Dom St. Marien und dem Stadt- und Bergbaumuseum bereits von Anfang an als Mittel- beziehungsweise Ausgangspunkt des dritten und letzten Teils des Projektes fest, für den die Aufgabe stand, die zahlreichen, hier noch vorhandenen Werke sakraler Schnitzkunst und Tafelmalerei der Spätgotik zu erforschen. Dies beinhaltete – neben den visuellen makro- und mikroskopischen Untersuchungen der Kunstwerke selbst – auch umfassende archivalische Forschungen in Staats-, Stadt- und Kirchenarchiven sowie materialtechnische Untersuchungen, wobei hier vor allem moderne nichtinvasive Analyseverfahren und strahlendiagnostische Methoden zum Einsatz kamen. In diesem Zusammenhang war auch die territoriale Gliederung der einzelnen Untersuchungsgebiete und damit die geographische Struktur des zukünftigen Korpuswerkes zu klären. Prinzipiell stünden dafür mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, so die Orientierung an historischen Gebiets- oder Herrschaftsgrenzen, an früheren oder heutigen kirchlichen Verwaltungsgrenzen oder an den aktuellen Kreis- und Gemeindegrenzen. Nach intensiver Diskussion und Abwägung innerhalb der Projektgruppe und des Fachbeirates fiel die Entscheidung, den Untersuchungen die Kreisgrenzen vor der letzten Gebietsreform und damit eine vergleichsweise nur kurz zurückliegende, jedoch abgeschlossene und sich damit zukünftig nicht mehr verändernde Grenzziehung zu Grunde zu legen, in diesem Falle also den bis 2008 bestehenden Landkreis Freiberg. Für dieses Gebiet fanden sich bislang Hinweise zu 124 Objekten aus dem Zeitraum zwischen 1450 und 1550. Es handelt sich hierbei um 19 Retabel oder Retabelbestandteile, 101 Skulpturen oder Skulpturengruppen und vier Tafelbilder. Von diesen 124 Objekten können heute 97 als sicher erhalten gelten. Betrachtet man die Retabelteile einzeln, erhöht sich die Anzahl der bewahrten Skulpturen auf 185 und die der Tafelgemälde auf 35. Davon entfallen allein 51 Skulpturen – ohne die außerhalb des Untersuchungszeitraumes liegende romanische Triumphkreuzgruppe – auf den Freiberger Dom, sowie insgesamt acht Skulpturen und zwei Tafelbilder auf andere Abb. 4 Interaktive Landkarte spätmittelalterlicher Holzbildwerke und Tafelmalereien in Sachsen, Detailansicht der Bergstadt Freiberg mit verzeichneten Objekten, Arbeitsstand 19. 9. 2021.

26 Lia Bertram, Andreas Schulze, Tino Simon Kirchen im Freiberger Stadtgebiet (Abb. 4). Im Stadt- und Bergbaumuseum waren vor allem diejenigen Objekte von Interesse, die nachweislich aus Freiberger Kirchen oder denen des Landkreises stammen,10 sowie 27 Skulpturen, deren ursprüngliche Herkunft noch ungeklärt ist. Bis jetzt konnten insgesamt 73 Kunstwerke aus dem Dom und dem Museum eingehend untersucht und auch zahlreiche neue Erkenntnisse zu ihrem ursprünglichen Kontext, ihrer Objektgeschichte und ihren kunsttechnologischen Besonderheiten gewonnen werden.11 Da sich in Freiberg kein vollständiges Retabel der Spätgotik erhalten hat, wurde auch der äußerst qualitätsvolle und kunsthistorisch bedeutsame Flügelaltar in der Kirche St. Nikolai in Oberbobritzsch in das Untersuchungsprogramm einbezogen (Abb. 5). Inschriftlich auf das Jahr 1521 datiert, steht das Retabel – nur mit einer kleinen Unterbrechung von Mai 1916 bis Februar 1917 zwecks seiner Restaurierung auf Initiative der Königlichen Kommission zur Erhaltung der Kunstdenkmäler – seit nunmehr genau einem halben Jahrtausend an seinem Platz in der Kirche.12 Wenngleich noch einzelne Untersuchungsschritte wie Röntgen- und Infrarot-Reflektografie-Aufnahmen der Demontage des Retabels im Zuge der kommenden Konservierungs- und Restaurierungskampagne vorbehalten bleiben müssen, so konnten doch zahlreiche kunsttechnologisch wie kunsthistorisch bedeutsame Erkenntnisse gewonnen und dokumentiert werden. Dies betrifft unter anderem das Aufmessen und die zeichnerische Erfassung konstruktiver Details der Retabelbauteile, Umzeichnungen von Ornamenten und Schriftbändern, Kartierungen zur ursprünglichen Verwendung der verschiedenen Blattmetalle und Ziertechniken sowie die Lokalisierung und Dokumentation früherer Überarbeitungen. Besonders interessant hinsichtlich grenzübergreifender Geschäftsbeziehungen zwischen den Auftraggebern und den Künstlern beziehungsweise Werkstätten ist der Nachweis der Verwendung ein- und derselben Vorlage beziehungsweise Pause für das Brokatmuster auf dem Kleid der Heiligen Katharina auf dem Gemälde ihres Martyriums in Oberbobritzsch und auf einer Tafel aus der Dekanatskirche zu Most (Brüx/Tschechien). Da die gewonnenen Forschungsergebnisse nicht nur den einschlägigen Fachkreisen, sondern auch den Eigentümern und der interessierten Öffentlichkeit in entsprechend aufbereiteter Form zugänglich gemacht werden sollen, wurde im Rahmen des Projektes eine kleine Publikation zum Oberbobritzscher Altar verfasst und herausgegeben.13 Zudem fließen alle Untersuchungsergebnisse in die denkmalpflegerisch-restauratorische Zielstellung für die in allernächster Zeit anstehenden Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen mit ein. Dem Aspekt der grenzübergreifenden Zusammenarbeit mit den tschechischen Projektpartnern dienten, neben zahlreichen gegenseitigen Besuchen und Beratungen, unter anderem die Untersuchung, Konservierung und Restaurierung eines spätgotischen Reliefs aus der Dekanatskirche in Most (Brüx/Tschechien) im Rahmen einer Diplomarbeit,14 eine Exkursion von Studierenden und Lehrenden des gesamten Studienganges Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut der HfBK Dresden im Jahr 2019 durch Nordböhmen sowie die Beteiligung an Fachveranstaltungen und Ausstellungen mit Vorträgen und der Anfertigung museumsdidaktischer Modelle zu historischen Fassungs- und Maltechniken durch Studierende im Rahmen der kunsttechnologischen Lehre von Ivo Mohrmann. Einige der geplanten Aktivitäten blieben leider pandemiebedingt auf der Strecke, so die Exkursion der tschechischen Fachkolleginnen und -kollegen zu sächsischen Objekten. Gleiches trifft auf die Übernahme der in Chomutov (Komotau/Tschechien) vorbereiteten, dort aber leider nur virtuell zu erlebenden Begleitausstellung zu den Arbeitsergebnissen der tschechischen Projektpartner durch das Freiberger Museum zu.15 Rückblickend kann bilanziert werden, dass die Projektziele trotz der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie erfolgreich verwirklicht werden konnten. Auch wenn die Anzahl der untersuchten und dokumentierten Kunstwerke im Vergleich zur Zahl aller Objekte in Sachsen recht klein erscheinen mag, so konnte mit den Recherchen zu diesem Gesamtbestand, mit der Entwicklung einer geeigneten Untersuchungssystematik, dem Aufbau einer Forschungsdatenbank sowie der Untersuchung und Dokumentation von ca. 65 Prozent aller relevanten Kunstwerke im Landkreis beziehungsweise von fast 90 Prozent aller Objekte in der Stadt Freiberg ein allererster, aber doch wohl nicht unwesentlicher Schritt auf dem noch sehr weiten Weg zu einem Korpuswerk spätgotischer Schnitzkunst und Tafelmalerei in Sachsen zurückgelegt werden. Abb. 5 Oberbobritzsch, Kirche St. Nikolai, Flügelaltar von 1521, Gerüststellung während der Untersuchungen am Retabel, Foto März 2020.

Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien 27 Zur zeitnahen Fortführung der Arbeiten ist die Beantragung eines Nachfolgeprojektes vorgesehen. In dessen Rahmen sollten dann die Untersuchung und Dokumentation der spätgotischen Kunstwerke weitergeführt und zumindest für den ehemaligen Landkreis Freiberg ein erster Band des Korpus-Werkes erarbeitet werden. Für die Erweiterung der Datenbank um die tschechische Sprache wären die Erstellung eines deutsch-tschechischen Fachthesaurus vor allem zu kunsttechnologischen Begriffen und nachfolgend die schrittweise Erfassung der nordböhmischen Kunstwerke sinnvoll. Faltblätter in beiden Sprachen sollen die wesentlichen Erkenntnisse zu den untersuchten Kunstwerken vorstellen und damit den Kulturtourismus fördern. Und natürlich soll auch die weitere Vernetzung und Kooperation mit all denjenigen Institutionen und gesellschaftlichen Kräften vorangetrieben werden, die an der Erforschung und Erhaltung des reichen kulturellen und künstlerischen Erbes in der Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří in seiner Gesamtheit und Vielfalt beteiligt sind. Ausgewählte Projektergebnisse Aus der Fülle der bisher im Rahmen des Forschungsprojektes kunsthistorisch wie kunsttechnologisch erfassten Objekte sollen an dieser Stelle drei Fallbeispiele vorgestellt werden, bei denen die Untersuchungsergebnisse eine neue Sichtweise auf die Kunstwerke eröffneten. Es ergaben sich sowohl gattungsspezifische Neubewertungen als auch bisher unbekannte Erkenntnisse zu ursprünglichen Aufstellungskontexten, die perspektivisch zu einer neuen Präsentationsweise der Objekte führen könnten. Im Freiberger Dom St. Marien werden in den Seitenschiffen zwei schmale, hochrechteckige Tafeln präsentiert, auf denen jeweils eine geschnitzte Skulptur im Relief abgebildet ist: eine unbekannte weibliche Heilige und die Heilige Margarethe mit einer Stifterdarstellung der Familie Alnpeck (Abb. 6). Bereits beim ersten eingehenden Betrachten lässt sich erkennen, dass die Tafeln keinen gemeinsamen Ursprung haben. Sie unterscheiden sich kompositorisch und auch stilistisch und scheinen vielmehr die erhaltenen Überreste zweier verschiedener Präsentationskontexte zu sein. Beide Objekte werden von der Forschung bislang als Seitenflügel kleinerer ehemaliger Domaltäre interpretiert.16 Diese Angabe findet sich sowohl in älterer als auch in der jüngsten Literatur zur spätgotischen Ausstattung des Freiberger Doms.17 Für eine eingehende kunsttechnologische Untersuchung war es nötig, beide Tafeln kurzzeitig von ihrem angestammten Platz abzunehmen, um auch die Rückseiten erfassen und dokumentieren zu können. So war das Projektteam außerordentlich gespannt, erwartete man doch dort immerhin mehr oder weniger umfangreiche Reste von Tafelmalereien zu finden, wie für Retabel dieser Zeit üblich. Mit Erstaunen war festzustellen, dass die Rückseiten nicht nur vollständig holzsichtig sind, sondern zudem in ihrer Bearbeitung auch recht grob erscheinen und damit nicht für eine Tafelmalerei geeignet sind. Dies führte zu einem intensiven Denkprozess über den ursprünglichen Kontext und letztlich zu einer neuen Zuordnung beider Objekte. • Fallbeispiel 1: Tafel mit Heiliger Margarethe und Stiftern, um 1520 Die hochrechteckige Tafel mit der im Relief gestalteten Skulptur der Heiligen Margarethe befindet sich, von den Besuchern und Touristen meist unbemerkt, in einer Kapelle des nördlichen Seitenschiffs des Doms (Abb. 7). Die ungerahmte Tafel teilt sich in drei Bereiche. Im oberen Drittel, hinter dem Kopf der Schnitzfigur, erscheinen ein ornamentierter Nimbus und umgebendes Rankenmuster auf Goldgrund. Der Hintergrund des restlichen Körpers darunter ist in einem dunklen Blau gehalten. Das untere Drittel der Tafel zeigt zwei kniende, männliche Stifterfiguren mit dem Wappen der Freiberger Patrizierfamilie Alnpeck vor gemaltem rotem Mauerwerk. Die ältere Stifterfigur trägt einen langen, schwarzen Mantel mit braunem Pelzbesatz und ein helles Untergewand. Ihre Hände sind zum Gebet gefaltet und auf dem Kopf ist ein goldgewirktes Netz mit Edelsteinen erkennbar, welches die Haare zusammenhält (Abb. 8). Die kleinere Gestalt kniet mit der gleichen Handhaltung dahinter, bekleidet mit einem rötlichen Mantel mit hellem Pelzbesatz. Ihr Haupt ist unbedeckt und die dunkelblonden Haare fallen bis auf die Schultern. Das Wappen zeigt im Schild einen gelben Adler mit offenem Schnabel und Abb. 6 Dresden, Sächsischer Altertumsverein, Museum im Palais im Großen Garten, Bildwerke mit unbekannter Heiliger und Heiliger Margarethe aus dem Dom St. Marien in Freiberg, LfD Sachsen, Bildsammlung, Negativ-Nr. 3/175, Foto 1930.

76 Anja Simonsen Über die Sorgen eines Gärtners Oder von den Herausforderungen der Nischwitzer Gartenanlagen vom 18. bis in das 21. Jahrhundert weise, offenbarte sich das vergilbte Schriftstück aus dem Jahr 1765 als Dokument eines Menschenlebens außerhalb des historischen Rampenlichtes, als sehr seltener Beleg für das Leben und Wirken hinter den Kulissen eines herrschaftlichen Gartens. Vor diesem Hintergrund erscheint der vollständige Abdruck an dieser Stelle unbedingt gerechtfertigt. Schloss und Park Nischwitz befanden sich als Teil des Brühlschen Vermögens und im Zuge des langjährigen gerichtlichen Prozesses um die Brühlsche Finanzpolitik in Zwangsverwaltung,4 als folgende Zeilen voller Verzweiflung aufs Papier gekratzt wurden:5 Ein archivalisches Fundstück als Wegweiser in die Zukunft Zwischen den unzähligen im Hauptstaatsarchiv Dresden verwahrten Dokumenten aus dem Nachlass des sächsischen Premierministers Heinrich Graf von Brühl (1700–1763)1 kam im Frühjahr 2020, während intensiver gartenhistorischer Aufarbeitung, der Brief des herrschaftlichen Nischwitzer Lustgärtners Johann Heinrich Fülcke (1714/15–1795)2 an seinen Freund und Gärtnerkollegen Johann Heinrich Möller3 in Dresden zum Vorschein. Authentisch in Handschrift und Sprach- »Hoch Edler Insonders Hochgeehrtester Herr: Herzens werthgeschäzter Freundt Eu. HochEdlen geehrtestes Schreiben habe richtig erhalten; und bey meinen betäubten Umständen hat er mich erfreuet; daß Sie als ein treuer Freundt meiner mit erwehnet haben; bitte meine Freiheit nicht ungütig zu nehmen daß ich meinen lieben Hr. Möller mit beygehenden Promemoria zu überreichen beschwerlich falle; und nochmals meine Noth klage; da es nunmehro an Johanna6 Zwey Jähricht ist als der Herr Cammerath von Heinicken7 hier war […] und darbey verortnete er von Johanne bis Migaelis8 800 Thaler daß ich gleich sollte Leuthe mit Macht annehmen; und den untersten Garten mit Hecken und Linden zu Schneiten wie auch die Proterie des Poligrains9 und Gänge in Reinlichkeit zu bringen; und ist mir gar Gerichtlich anbefohlen worden bey Verlust meiner Dienste selbiges zu forschiren10 und den Garten in Ordnung zu bringen da ich sogleich Leuthe und Soltaten zusammen nahm so viel ich kriegen konnte, und hoffte von einer Zeit zur andern um Gelt Hülffe; da ich nun die Leuthe auf dem Halse hatte so fände ich mich genöthiget 100 Thaler auf einen Wechsel bey einem Guthen Freunde zu borgen; vorn Jahre an Johanna so that selbiger in hiesigen Gerichten beym Herrn Doctor Kölau mich verklagen; und traute gar daß er mich wollte Arretiren laßen; so habe ich den Wechsel Prologiren11 müßen bis auf daß heurichte Jahr den 20. Juli: und daß andere bey underschiedlichen guthen Freunden auf Scheine erborget habe; und auch unterschiedliche Belege noch Schuldig bin; an daß 1763ste Jahr kann ich gedencken; der Diebstal des Jungens12 Schadet mir auch auf 460 Thaler was ich noch bey der Plünderung in Stücken gehabt, und des Nachts geholet und errettet habe; der Junge wäre an Galgen gekommen wenn ich es getrieben hätte, durch Zuredung verständiger Leuthe wegen seiner Jugend sich zu bekehren so hat er in Leipzig den Staubesen13 und ewige Landt-Verweisung bekommen; vor Zwey Jahren im Früh Jahre hat mich auch die vatalität mit denen Paumshulen14 wegen des Frostes betroffen daß mir auf 300 Schock wilte und gute Bäume erfroren; so habe mich vorm Jahre und heuer benöthiget verstanden wieder wilte Stämme zu kauffen und Junge anzuziehen; sogar die Spargelstöcke in der Erde seyn Erfrohren wie ich ihn HerbstZeit nicht mit Miste bedeken kann; 40 Fuder15 seyn mir wohl ausgemachet worden; aber ich habe selbige die Ersten 2 Jahr nur erhalten; nunmehro daß heurichte Jahr bin ich an die Wirthschafft gewiesen worden um da Gelt zu bekommen; weil der Herr Graf Carl16 nicht zugegen gewesen ist; welches aber auch nicht geschehen; also bin ich denen Leuthen auf daß heurichte Jahr auf 98 Thaler schuldig; und die Plünderung17 gleich daß Jahr darauf als ich herkam, schadet mir auf über 700 Thaler welches ich auch bey denen Gerichten habe eingeben müßen, bin mit vortgeschleppet worden darbey viele Schläge erlitten; was ich von Möbles als die Turm-Uhr und andern Sachen eingelöset und wieder erkauffet; habe ich dem hiesigen Pettmeister18 eingehändiget; aber daß Gelt darvor zu fordern welches in der 2 Jährichten Rechnung zu finden ist also habe weiter nichts mehr übrich als mein Gut Gewissen; also kann mein Herzens aufRichtiger Guther Freundt leichte dencken daß mir manchesmahl Muth, Sinn und Gedanken vergehen; und ich mir manchesmahl die Grillen mit der Arbeit vertreibe; die Orangerie habe bey Obersten Meyer bey der Plünderung noch errettet unter dem Vorwande daß sie meiner gehörte; und ich es ihm auf Schrifftlich geben musste daß ich es zu allen Zeiten beschwören wolle wenn es erfordert würde; daß diejenigen so der Herrschafft gehörten abgesaeget und Ruiniret worden; und was noch gut wäre meiner gehörte; alsdann befahl er den Quartier Meister er sollte mit mir gehen weil sie im Garten Ruiniren thaten; und eine Schiltwache mit geben; unter währender Zeit thaten sie mir in meinem Lochire19 alles ausschlagen und Plündern; was ich dazumahl den Quartier Meister und Schiltwache gegeben habe auch noch nichts darvor erhalten; Indessen will ich fleißig beten daß der liebe Gott mag Große Herzen Regieren daß er zum besten ausschlagen möge und ich die Schuldleuthe bezahlen kann; Hiermit Empfehle Sie in Göttliche Protection, und bin mit schönsten Compliment an deßen Hochgeehrte Frau Liebste verbleibe jederzeit, Eu. Hoch Edlen Ihr Aufrichtiger und getreuer Freundt Johann Heinrich Fülcke Nischwiz den 26. Jun. 1765.«20

Über die Sorgen eines Gärtners 77 Diesem Brief und weiteren erhaltenen Aufzeichnungen des Nischwitzer Obergärtners Johann Heinrich Fülcke sind bislang unbekannte, detaillierte Einblicke in die Gartengestaltung und den gärtnerischen Alltag unter Heinrich Graf von Brühl zu verdanken. Mehr noch, sie untermauern den breitgefächerten Aufgaben- und Verantwortungsbereich, das Selbstverständnis und Ansehen, aber auch die Sorgen eines Gärtners des 18. Jahrhunderts. Die im Brief beklagten finanziellen Rückstände, die sich in den zwei Jahren nach Brühls Tod beim Gärtner angehäuft hatten, spiegeln zwar vordergründig das desaströse Erbe des einstigen Premierministers und engsten Vertrauten Kurfürst Friedrich Augusts II. von Sachsen (1696–1763), belegen aber zwischen den Zeilen auch den hohen Stellenwert des herrschaftlichen Gartens, den Abb. 1 Wohl Johann Christoph Knöffel, Entwurf für den Untergarten im Schlosspark Nischwitz, Lageplan, nach Norden gedreht (Original gesüdet), Ober-/Küchengarten nur angerissen, um 1750, Feder-/Tuschezeichnung, laviert, LfD Sachsen, Plansammlung, Inv.-Nr. M 36. II. Bl. 1.

78 Anja Simonsen Fülcke selbst unter der Zwangsverwaltung des Brühlschen Vermögens durch die Sequestrationskommission in gewohnter Manier beizubehalten suchte. Die intensive Aufarbeitung gartenhistorischer Quellen21 war wesentlicher Bestandteil der im Jahr 2020 erstmals als Arbeitsprojekt des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen erarbeiteten gartendenkmalpflegerischen Zielstellung für die Gartenanlagen von Nischwitz, nordöstlich von Leipzig im Muldental gelegen. Mithilfe ihrer Ergebnisse, verbunden mit paralleler Bestandsanalyse, konnte nun der Seltenheitswert der in ihrer Fläche vollumfänglich erhaltenen Anlagen herausgestellt, der beträchtliche Umfang an Gehölzschäden bewertet und eine Entwicklungskonzeption erarbeitet werden. Gerade im Hinblick auf die gärtnerische Kontinuität und Überlieferung, im Falle von Nischwitz nachweisbar über einen Zeitraum von über 265 Jahren, zeigt sich die verantwortungsvolle Aufgabe, der wir uns aktuell in zahlreichen historischen Gärten stellen müssen: Es gilt, das Werk ganzer Gärtnergenerationen vor Zergliederung und den Folgen des Klimawandels zu bewahren. Ausbau und Bedeutung der Nischwitzer Gartenanlagen unter Heinrich Graf von Brühl und Maria Anna Franziska Gräfin von Brühl Heinrich Graf von Brühl, 1737 zum Reichsgrafen ernannt, hatte das Rittergut Nischwitz inklusive vier zugehöriger Bauerngüter im Jahr 1743 erworben22 und ließ das bestehende Herrenhaus verstärkt ab 1746 nach Plänen des kursächsischen Oberlandbaumeisters Johann Christoph Knöffel (1686–1752) und unter Leitung von Ludwig August Hoffmann und Christoph Friedrich Sparing23 im Stil eines Maison de plaisance umbauen. Der nördlich an das Corps de logis anschließende Trakt wurde als Orangerie mit südlich ausgerichteter Vollverglasung ausgebaut, während der südliche Nebenflügel als Küchentrakt diente, rückseitig ergänzt durch einen kleinen Wirtschaftshof mit Pferdeställen.24 Der vormalige Wirtschaftshof wurde auf das nördlich angrenzende Grundstück mit Schäferei verlegt, wodurch Platz für die genannte Dreiflügelanlage mit doppelarmiger Freitreppe und vorgelagertem Ehrenhof wurde und die Funktionen fortan räumlich klar getrennt waren. Die sich westlich des Schlosses erstreckende Fläche wurde zum Lustgarten (Untergarten) ausgebaut, während sich nördlich ein Küchengarten (Obergarten) angliederte. Eine im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen aufbewahrte, Johann Christoph Knöffel zugeschriebene Entwurfszeichnung dokumentiert das vertiefte, zwischen Schloss und halbkreisförmiger Treillagearchitektur aufgespannte Boulingrin mit angeschlossenen Boskettbereichen als zentrales Element der Gartengestaltung (Abb. 1). Erste Hinweise zur Anlage dieses neuen, repräsentativen Lustgartens im Stil des Rokoko auf dem sich bis an die Muldenaue hinziehenden Gelände gibt ein Brief der Gräfin von Brühl (1717–1762) an Carl Heinrich von Heineken (1707– 1791) vom Juli 1750, in dem sie Gedanken zur Nischwitzer Abb. 2 Lageplan des Schlossparkes Nischwitz, Umzeichnung von Hugo Koch nach der Flurkarte von Feldmesser Christian Conrad Francke aus dem Jahr 1753, aus: Koch, Hugo: Sächsische Gartenkunst, Berlin 1910 (Reprint Beucha 1999), S. 259, Abb. 206; Legende der Gartenbereiche von Anja Simonsen, 2020. A Ehrenhof mit Brusthecken und Linden B Küchengarten/Obergarten mit Spaliermauern und Hecken C Lustgarten/Untergarten mit Boskettbereichen D Wirtschaftshof mit Schäferei a »Point de vue« b Pavillon c Lusthaus mit Lindengang d Wasserbecken e Kaskade mit halbkreisförmigem Orangerieparterre f Abgesenktes Boulingrin mit Broderie h Berceau/Treillage mit Aussichtspavillon i Gartenpavillons mit Aussichtsterrasse in die Muldeaue j »Saal ohne Dach«, Lattenwerksarchitektur k Spieleanlage, evtl. Kegelbahn l Spieleanlage, evtl. Scheibenschießen

Über die Sorgen eines Gärtners 79 Gartengestaltung und ihren Wunsch nach einem neuen Gärtner als Ersatz für den betagten Christoph George Meerkatz (Merkatz) äußerte.25 Während sich der mit der Planung und Ausführung beauftragte Architekt bzw. Gartenkünstler weiterhin nicht abschließend bestimmen lässt,26 belegt die Korrespondenz zwischen Maria Anna Franziska von Brühl und dem Sächsisch Geheimen Kammerrat Carl Heinrich von Heineken den Prozess der Gestaltungsfindung. Die Gräfin nahm an den verschiedenen, zeitgleich laufenden Bauprojekten ihres Mannes, und insbesondere an der Gartenplanung, stets regen Anteil, was Briefstellen detailliert dokumentieren.27 Ausgeführte Gartenarbeiten lassen sich anhand der vorhandenen Quellen ab 1751 nachvollziehen.28 Die Rechnungsbücher zum Jahr 1753 listen den Ankauf von Linden »zu den neuen Linden Plaz«, Ausgaben in Höhe von 97 Talern »vor Bluhmen Zwiebel« aus Holland, weiterhin 27 Taler »dem Gärtner Bock29 in Leipzig, vor gelieferte CastanienBäume« und weitere 50 Taler »vor erkauffte Birn und LindenBäume«.30 Linden im Gesamtwert von 111 Talern 12 Groschen wurden »von Genanndstein, nach Nischwiz geholet«.31 Eine 1753 erstellte Flurkarte32 legt nahe, dass der Garten zu dieser Zeit in großen Zügen fertiggestellt war (vgl. Abb. 2). Vereinzelte Arbeiten lassen sich anhand der Rechnungsbücher noch bis 1756 nachweisen, darunter im Jahr 1754 die Fertigstellung der Kaskade durch Hofbildhauer Johann Gottfried Knöffler (1715–1779) im Untergarten,33 1755 die Pflanzung von Bäumen aus Hubertusburg,34 die Lieferungen von steinernen »Bankfüßgen« 175535 und von Vasen 175636 sowie das Anlegen einer Baumschule im Obergarten.37 Innerhalb der zahlreichen Brühlschen Besitzungen und auch im Vergleich zu anderen zeittypischen Gartenanlagen nimmt Nischwitz eine Sonderstellung ein. Heinrich Graf von Brühl besaß neben Nischwitz 23 weitere kursächsische Güter, von denen er die meisten im Zeitraum von 1740 bis 1749 erworben hatte.38 Carl Heinrich von Heineken zufolge sind »sonderlich aber in Nischwitz gewaltige Summen Geldes verbauet worden«.39 Ausschlaggebend für den Kauf war offenbar die günstige Verkehrsanbindung, insbesondere die Nähe zu Dresden und zur Leipziger Messe. Der kostenintensive Ausbau und die in mehreren Briefen erhaltene Korrespondenz über Gestaltungsfragen, vor allem des Gartens, sprechen dafür, dass Nischwitz Brühls Stellung bei Hofe als angemessener Landsitz zu repräsentieren hatte und zu Recht als »Lieblingsschöpfung«40 der Gräfin von Brühl bezeichnet werden darf. Auch Heinrich Graf von Brühl muss Nischwitz persönlich sehr am Herzen gelegen haben, denn im Sommer 1763, wenige Monate vor seinem Tod, schickte er Geld zur Wiederherstellung, u. a. für Pförten und Nischwitz, an seinen Vertrauten von Heineken und sprach dabei ausdrücklich auch den Schlosspark an: »[…] je vous prie instamment de ne point oublier le pauvre Nischwitz tant la maison que le jardin.«41 Das Gut Nischwitz wurde trotz starker, mutwilliger Beschädigungen im Siebenjährigen Krieg und folgender Besitzerwechsel mitsamt allen zugehörigen Bestandteilen – Ehrenhof, Obergarten, Untergarten und Wirtschaftshof – weitergeführt, wovon neben dem Schloss die bis in die Brühlsche Zeit zurückreichenden Parkarchitekturen, pflanzliche Relikte und der in seiner Fläche vollständig erhaltene Ober-/Küchengarten mit seinen Spaliermauern bis heute eindrucksvoll zeugen. Die Gartenanlagen sind in ihrer überkommenen Größenordnung ein herausragendes Zeugnis Brühlscher Wirtschafts- und Gartenkultur mit Seltenheitswert. Die Aufgaben und Sorgen des herrschaftlichen Lustgärtners Johann Heinrich Fülcke Seit 1756 war Johann Heinrich Fülcke zur Pflege der umfangreichen Nischwitzer Gartenanlagen, bestehend aus Ehrenhof, Lustgarten (Untergarten) und Küchengarten (Obergarten), angestellt. Er war der einzige Sohn des gleichnamigen Johann Heinrich Fülcke (Filcke), des »Hochfürstl. Weimarischen Kunst wohlerfahrenen Lust und Orangen Gärtner«.42 Bemerkenswert ist sein Gehalt, das die Zahlungen an das übrige Personal, darunter Bettmeister, Hegereiter, Schäfer, Gutsverwalter und Gerichtsdirektor, übertraf.43 Statt der laut Bestallungsbrief ohnehin zugesprochenen 150 Taler jährlich erhielt er nach eigenen Angaben 200 Taler, die »ihm vom ersten Antritt an seines Dienstes sogleich […] gereichet worden […], weil die Größe des Gartens, und die darinnen befindlichen vielen Hecken und Espaliers große Arbeit und einen unermüdeten Fleiß erforderten«.44 Fülcke zählte im Gegensatz zu den beim Wirtschaftshof beschäftigten Personen zu den »herrschafftlichen Officianten«.45 Freie Wohnung im Obergeschoss der Orangerie,46 acht Klafter Feuerungsholz sowie ein Geselle und ein Lehrjunge zur regelmäßigen Gartenarbeit waren ihm zugesprochen.47 Nach Bedarf angeheuerte Tagelöhner und sogenannte »Jäteweiber« komplettierten die Gartenmannschaft.48 • Umfang und Pflegeerfordernis der Nischwitzer Gartenanlagen Mitte des 18. Jahrhunderts Vom Umfang der Nischwitzer Gartenanlagen in der Mitte des 18. Jahrhunderts und deren Pflegeerfordernis vermitteln die überlieferten Pläne, die Aufzeichnungen Fülckes wie auch der überkommene Bestand einen hervorragenden Eindruck (vgl. Abb. 1, 2). Die Gesamtanlage gliederte sich, wie noch heute, in die vier räumlich, funktional und gestalterisch unterscheidbaren Kompartimente Schloss mit Ehrenhof, Ober- und Untergarten und den separat gelegenen Wirtschaftshof. Eingang und Empfang bildete der Ehrenhof, sich aufspannend zwischen Schloss, den im Halbkreis durch Bogengänge angebundenen Nebengebäuden und einer dem Schloss als Point de vue entgegengesetzten Kleinarchitektur, in der Entwurfszeichnung als »Prospect«49 bezeichnet. Nördlich schloss sich, bis zum Wirtschaftshof reichend, ebenerdig der als Küchengarten genutzte Obergarten mit zwei Lusthäusern an. Die größte Fläche nahm mit 14 ½ Acker und sechs Ruthen50 der westlich an Schloss und Obergarten anschließende, tiefer gelegene Untergarten ein. An seiner westlichen Außengrenze reichte er bis an das Ufer des Wurzener Mühlgrabens, wo er seinen Abschluss in einem als Halbkreis geführten Laubengang mit einem achteckigen Pavillon im Zentrum fand. Geschickte Achsenführung und die Positionierung von Aussichtspunkten untermalten und steigerten die Wirkung der weitläufigen Muldenaue und des vorüberziehenden Wassers. Der Untergarten war durch vier Freitreppen an den Obergarten und den Ehrenhof angeschlossen und auch optisch – durch eine Balustrade sowie die Durchblicke gewährenden Bogengänge – mit jenen verbunden. Neben dem großzügigen, dem Schloss vorgelagerten Boulingrin umfasste er mehrere kleinteilige, in sich geschlossene, geo-

80 Anja Simonsen metrische Gartenräume, ausgestattet mit Gartenskulptur, Treillagewerk, Spieleanlagen sowie »allerhand Garten Häußergen von Lattenwerck«,51 dem Repertoire zeitgenössischer Gartenanlagen entsprechend. Hecken- und Baumschnitt sowie die Pflege der Wege und Platzflächen zählten zu den größten Posten der jährlichen Gartenaufwendungen, umfassten sie doch Schlosshof sowie Ober- und Untergarten gleichermaßen. So schrieb Fülcke 1765 an die Sequestrationskommission: »Weiter sind in den Obern Garten 604 Ruthen 8 und 9 Ellen hohe Hecken welche zu schneiden und zu hefften, von jeder Ruthe, wenn es veraccordiret wird, 2 gr [Groschen] gerechnet 50 rthlr [Reichstaler] 8 gr [Groschen] austrägt, Hierüber sind mehr als 1 000 Stück Linden und Castanien Bäume vorhanden, welche ebenfalls im Schnitte zu erhalten, nöthig wäre, ohne des Untern Gartens zu gedenken, welcher viele hohe Hecken, Linden und Castanien Bäume hat, so voriges Jahr in Ermangelung des Geldes nicht geschnitten worden. Ferner ist nöthig, daß die sehr breiten und langen Gänge in den obern Garten, mit dem Garten Pfluge umgemachet werden, worzu aber dann und wann ein paar Ochßen erforderlich sind, dahero dem Verwalter anzubefehlen wäre, daß er ein paar Ochßen auf mein Verlangen einige mahl verabfolgen laßen solle. Es wird dadurch ein vieles an Tage-Lohne erspahret, wenn die Ochßen mit dem Garten Pfluge die Gänge umbringen, die Arbeiter aber nur das Graß ausharcken dürffen.«52 Der Vorschlag, die Wege mittels Ochsenpflug zu pflegen, deutet bereits auf erste Überlegungen des Obergärtners zu mehr Effizienz in der Gartenarbeit hin, wohingegen »bey der verstorbenen Premier-Ministers Zeiten lediglich auf das Plaisir und gar keinen Nutzen gesehen worden müssen«.53 • Küchengarten Zu den Aufgaben Fülckes zählte, neben der täglichen Gartenpflege, saisonal der Ankauf von Pflanzen und Sämereien und der Verkauf überschüssiger Erzeugnisse aus dem Küchengarten. Dieser insgesamt 6 ¼ Acker54 messende Küchen- oder Obergarten war durch die rechtwinklig verlaufenden, »sehr breiten und langen Gänge«, »Mauern« sowie geschnittene »Buch-Hecken« von ca. 4,5 bis 5,1 Meter Höhe mit einer Gesamtlänge von ca. zwei bis 2,7 Kilometern untergliedert.55 Der Flurplan aus dem Jahr 1753 und das Meilenblatt von 1807 zeigen die erwähnten, bis heute vorhandenen Spaliermauern als in west-östlicher Richtung verlaufende Linien im Obergarten (Abb. 2, 3, 18). Zwischen den Mauern und Hecken ergaben sich unterschiedlich genutzte Räume: Ein Teilbereich war mit »mehr als 1 000. Stück Linden und Castanien Bäumenn« (!) bestanden, ein anderer mit »guten Obst Bäumen, so en Spalier gezogen, zum Theil aber hochstämmig Alleenweise gesetzet«.56 Belegt sind Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäume.57 Auf den wärmespeichernden, windgeschützten Flächen wurde »Krätzerey«58 betrieben, d. h. es wurden Küchengewächse angebaut, darunter nachweislich Erdbeeren, Salat, Schoten,59 Abb. 4 Die Nischwitzer Gartenanlagen nach der Verlandschaftlichung mit sich weiterhin klar abzeichnendem, als »Gemüsegarten« benanntem Ober-/Küchengarten, Meilenblätter von Sachsen, Dresdner Exemplar, Blatt 45, Ausschnitt, nach Nordwesten ausgerichtet, 1792 mit Nachträgen bis Ende des 19. Jahrhunderts, SächsStA-D, 12884 Karten und Risse, Schr R, F 010, Nr 045 (MF 00052). Abb. 3 Zustand der Nischwitzer Gartenanlagen vor der Verlandschaftlichung mit Spaliermauern des Ober-/Küchengartens (rote Linien), Brühlschem Lusthaus und zwei Gartenpavillons am Mühlgraben, Meilenblätter von Sachsen, Berliner Exemplar, Blatt 46, Ausschnitt, nach Nordwesten ausgerichtet, 1807, Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kartensammlung, Inventar-Nr.: SBB-PK Kart. M 14433.

Über die Sorgen eines Gärtners 81 Spargel, Artischocken und Schnittblumen. Ausgelaugter Boden und kalte Winter erforderten regelmäßige Düngergaben und Nachpflanzungen, und auch die Jagd auf Maulwürfe schlug mit wiederkehrenden Lohnausgaben zu Buche.60 • Baumschule und Obstbaumzucht Weiterhin existierte seit 1756 eine von Fülcke wieder eingerichtete Baumschule, in der Bäume angezogen, veredelt und gehandelt wurden.61 Heinrich Graf von Brühl scheint hier eine Tradition fortgeführt zu haben, denn im Nischwitzer Gutsareal wurden, wie nun nachgewiesen werden konnte, bereits Anfang des 18. Jahrhunderts unter Friederike Charlotte von Wendt (1684/86–1762) begehrte Obstbäume gezogen und verkauft. Die im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen verwahrte »Specification derer zu Holtzhausen 1737 im April gepflanzten Jungen Obst Böhme« belegt den Ankauf von 124 Jungbäumen aus Nischwitz zur Pflanzung auf Rittergut Holzhausen bei Nieheim in Ostwestfalen, Stammsitz des westfälischen Adelsgeschlechts Von der Borch.62 Mit einem weiteren Dokument aus dem Jahr 1741, der »Specification Derer Sorten von OculirReißern, welche der Gärtner Rößig am 4. April 1741 aus dem Garten zu Nischwitz geholet haben will«,63 ist zudem ein Handel mit dem Rittergut Rötha belegt, nur wenige Jahre vor dessen Übernahme durch Heinrich Graf von Brühl. Die Listen benennen insgesamt rund 60 verschiedene Obstgehölzsorten – neben hochstämmigen Apfel-, Kirsch- und Birnensorten niedrigstämmiges Franzobst, Pfirsiche sowie »Frantzösche Pflaumen«, darunter Aprikosen und Mirabellen. Sie bezeugen den zu dieser Zeit in Nischwitz hohen Stand der Pomologie und sind insbesondere Beleg dafür, dass hier ein fachkundiger Baumgärtner mit dem Wissen um die Techniken der Veredelung angestellt war. Offenbar wurde die Obstbaumzucht so erfolgreich betrieben, dass ein nennenswerter Überschuss an Gehölzen zum Verkauf angeboten werden konnte. • Orangerie Besondere Aufmerksamkeit erforderte die Pflege der Nischwitzer Orangerie. Das fächerförmig gestaltete Orangerieparterre, Präsentationsort der etwa 195 Pflanzen umfassenden Sammlung,64 befand sich am Geländesprung zwischen Ober- und Untergarten (Abb. 1, 2). Es war wirkungsvoll durch eine Brüstungsmauer mit Treppen und die Wasserkaskade von Knöffler inszeniert.65 Das Inventar aus dem Jahr 1765 listet Zitronen-, Pampelmusen-, Pomesinen-, Pomeranzen- und Feigenbäume sowie Lorbeerbäume in Pyramiden- und Kugelform. Die Überwinterung der kostbaren, empfindlichen Gewächse bereitete dem Schlossgärtner Fülcke alljährlich Sorgen, insbesondere seit die Fenster des Orangeriegebäudes in Folge der preußischen Plünderungen im Jahre 1758 beschädigt und nur notdürftig repariert waren,66 sodass der ohnehin zu große Bestand teils »ineinander gepfropfft« überwintert werden musste »und keine Frucht zur reiffe käme«.67 • Sonderaufgaben Eile und Sorgfalt waren geboten, sobald sich der Graf von Brühl in Nischwitz ankündigen ließ. Er besuchte Leipzig mindestens zweimal im Jahr während der Messen und nutzte für seinen Aufenthalt mit Vorliebe sein so verkehrsgünstig vor den Toren der Stadt gelegenes Landschloss.68 Die Rechnungsbücher vermerken »der Herrschafft Anweßenheit bey der Leipziger OsterMeßReise hin und zurück in Nischwiz« erstmals im Mai 1754.69 Die Anwesenheit des Kurfürsten Friedrich August II. ist nicht belegt, wohl aber besuchten zwei leider nicht näher benannte »Hof Dames« Nischwitz im Februar 1755.70 Wie der eingangs zitierte Brief des Gärtners Fülcke widerspiegelt, galt der Landsitz Nischwitz als höfischer Repräsentationsort. Hintergrund der von Carl Heinrich von Heineken mit Nachdruck geforderten Gartenpflege war der geplante Aufenthalt des Grafen von Brühl in Nischwitz anlässlich der Michaelismesse in Leipzig im Jahr 1763.71 Die angegebene Summe zur Gartenpflege in Höhe von 800 Talern gibt einen Eindruck, was in den verbleibenden drei Monaten bis zu Brühls Ankunft in den Gartenanlagen zu leisten war, wenn jährlich für die Pflege des Untergartens regulär »4[00] bis 500 [Thaler] erforderl[ich] seyn, um solchen ordentlich und reinlich zu erhalten«.72 Dass das Amt des Obergärtners kein reiner Pflichtposten war, sondern dass dieser sich dem ihm anvertrauten Boden eng verbunden fühlte, bezeugt besonders eindrucksvoll die im Brief erwähnte Begebenheit aus dem Jahr 1758. Unter Einsatz seines Lebens war es Johann Heinrich Fülcke gelungen, die etwa 200 Nischwitzer Orangeriepflanzen73 vor den plündernden preußischen Truppen zu bewahren. Darüber hinaus bestückte er die Gartenanlagen noch nach Brühls Tod mit wertvollen Artischockenpflanzen, ließ Bäume liefern und neue Kübel für die Orangeriepflanzen anfertigen.74 Nach Brühls Tod 1763 und zeitweiser Verwaltung durch die Sequestrationskommission wurde Nischwitz im Jahre 1777 an den Leipziger Juristen Dr. Philipp Heinrich Lastrop (1750–1801) verkauft, der insbesondere umfangreiche Wiederherstellungsarbeiten am vom Siebenjährigen Krieg gezeichneten Schloss realisieren konnte. Spätestens 1772 war der Schlossgärtner Johann Heinrich Fülcke in das benachbarte Thallwitz gewechselt, wo er als »hochgräfl. Kunst: wohlerfahrner Lust und Orangen Gärtner«75 wirkte. Das Kirchenbuch von Thallwitz verzeichnet seinen Tod im hohen Alter von fast 81 Jahren am 19. Juni 1795.76 Die landschaftliche Umgestaltung im 19. Jahrhundert Unter der Familie von Ritzenberg, Eigentümer seit 1817, erlebten die Nischwitzer Gartenanlagen eine zweite Blüte. Ferdinand Eduard Theodor von Ritzenberg (1792–1849) und seine Frau Amalie Caroline Jacobine (1809–1878), beide rege und begeisterte Kunstsammler und -förderer, machten das Schloss um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Anziehungspunkt für zahlreiche namhafte Künstler, darunter die renommierten Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777–1857) und Ernst Rietschel (1804–1861), der Maler Louis Gurlitt (1812– 1897) sowie der Architekt und Maler Gustav Adolf Boenisch (1802–1887). Der regelmäßige Austausch mit den beiden zeitweise in Nischwitz lebenden Künstlern Gurlitt77 und Bönisch78 in der Zeit von 1848 bis 1851 und die stets reiche Gästeschar müssen Inspiration und Anlass für die Umgestaltung des Untergartens im landschaftlichen Stil gewesen sein (Abb. 4).79 Bönisch wirkte nach dem Tod Ferdinand von Ritzenbergs im Jahr 1849 als Generalbevollmächtigter80 und wird in der Sekundärliteratur als federführender Gartenarchitekt genannt.81 In umgekehrter Richtung wirkten die Nischwitzer Gartenanlagen auf die Künstler, wie Tagebucheinträge und

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