Leseprobe

MENSCHEN an SCHAUEN Selbst- und Fremdinszenierungen in Dresdner Menschenausstellungen

MENSCHEN an SCHAUEN Herausgegeben von Christina Ludwig, Andrea Rudolph, Thomas Steller, Volker Strähle für das Stadtmuseum Dresden Sandstein Verlag Selbst- und Fremdinszenierungen in Dresdner Menschenausstellungen

INHALT 6 Christina Ludwig Wer erinnert an die Menschenschauen in Dresden – und wie? 12 PERSPEKTIVEN – REFLEXIONEN – FORDERUNGEN 14 Hilke Thode-Arora Völkerschauen in Deutschland. Eine Einführung 24 Sybilla Nikolow Erkenne dich selbst im Körper der Anderen. »Menschenschauen« als Orte der Körperinszenierung 32 Dresden Postkolonial Der Zoo verdrängt seine koloniale Geschichte 36 Johanna Gehring und Thomas Steller Mit Sehgewohnheiten brechen 38 UNTERHALTUNG – DIENERSCHAFT – VORFÜHRUNG 40 Matthias Donath Exotische Berufsgruppen am Dresdner Hof 48 Christina Ludwig »Eine sehenswürdige Sache«. Die zwei »Americanischen Printzen« Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki in Dresden 50 Eva Seemann Kleinwüchsige als »Hofzwerge« und im frühen Schaustellungsgewerbe. Ein Vorläufer für spätere Menschenschauen? 58 Catharina Helena Stöber 60 Stefan Dornheim »Lebend, nicht aus Wachs!« Schaustellungen von Menschen im Dresden des 17. bis 19. Jahrhunderts 70 George Niakunêtok 72 VERGNÜGEN – GESCHÄFTE – BÜHNEN 74 Volker Strähle Eine »Völkerwiese« am Großen Garten. Der Dresdner Zoo als Ort kommerzieller Menschenschauen 82 Volker Strähle Übersicht: Menschenschauen im Dresdner Zoo 90 Pichocho 92 Andrea Rudolph Name gesucht, Geschichte gefunden. Eine Puppe als Zeugnis Dresdner Völkerschauen 94 Julia Bienholz-Radtke und Kathryn Holihan »Ostasien will ausrücken«. Völkerschauen auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911

102 Sabine Hanke Sarrasanis Völker: Menschenschauen im Zirkus 110 Nayo Bruce 112 Sophie Döring Das Kino als Erbe der Menschenschauen? Zwei frühe Weimarer Filme und ihre Zensur 120 »Die Grundbotschaften werden bleiben«. Uwe Hänchen über die Frage, wie sich die Karl-May-Spiele in Bischofswerda ändern sollen 122 BEGEGNUNGEN – AUSTAUSCH – MISSBRAUCH 124 Bodhari Warsame Somali-Völkerschauen in Dresden: ein Überblick 134 »Für Hersi war es eine gute Erfahrung«. Samatar Hirsi über seinen Urgroßvater, den Völkerschau-Unternehmer Hersi Egeh Gorseh 136 Te’o Tuvale 138 Andrea Rudolph Hingeschaut. Das Afrikanische Restaurant in Dresden 140 Hartmut Rietschel Indianer und »Indianer« im Raum Dresden 150 Hartmut Rietschel Ein Indianer in sächsischer Erde: Gedenken an Chief Edward Two-Two 154 Katharina Steins und Andrea Rudolph Die zwei Pastranas. Bühnenkünstlerinnen und Anschauungsobjekte 162 »Krao Farini« 164 KUNST – MUSEEN – WISSENSCHAFT 166 Silvia Dolz Fremd und vertraut. Die Faszination von Menschen und Dingen aus ferner Welt im Werk der Künstlervereinigung »Brücke« 174 Petra Martin Der »Nubier Jacob«. Porträt eines uns Unbekannten 176 Christina Ludwig »Völkerschauen« aus Wachs. Die Dresdner Werkstätten Zeiller/Pohl 184 Steffen Förster »Indianerfreund mit orientalischer Schwärmerei«. Der sächsische Bildhauer Erich Hösel 192 Petra Martin Völkerschauobjekte im Museum für Völkerkunde Dresden. Eine Spurensuche 202 Clemens Radauer Ein Gelong im Museum. Wie ein Priester einer »Kalmücken-Schau« im Dresdner Zoo zum »Experten« wurde 210 Petra Martin Ein mysteriöses Holzschuhpaar 212 Esther White Deer 214 Robin Leipold »Indianer« in Radebeul. Indigene Besuche aus Nordamerika im Karl-May-Museum 222 »Unsere Kultur ist lebendig«. Kevin Manygoats über seine Bildungsarbeit und die »Indianer«-Bilder in Deutschland 224 Autor:innen 226 Bildnachweis 228 Impressum

Wer ERINNERT an die MENSCHEN- SCHAUEN in DRESDEN – und WIE? Christina Ludwig für die Herausgeber:innen

7 KULTUR DES ERINNERNS IN DRESDEN In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden hat die Erinnerungskultur mit all ihren Facetten eine besondere Bedeutung. Besonders deswegen, weil nicht nur Politik, Wissenschaft und Forschung an die Vergangenheit erinnern, sondern auch eine lebendige Zivilgesellschaft. Nicht wenige der Erinnerungs- und Gedenkanlässe sind allerdings unbequem. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat Dresden es geschafft, vielfältige Anlässe zum gemeinsamen Gedenken, Erinnern und Mahnen zu etablieren. Ein jüngeres Beispiel ist der Gedenktag für Marwa El-Sherbini (1977– 2009), die aus rassistischem und islamfeindlichem Hass ermordet wurde.1 Menschenfeindlichkeit und Rassismus haben viele verschiedene Wurzeln, aber nicht alle sind im öffentlichen Bewusstsein. Erinnerungsarbeit ist nie final oder abgeschlossen. Auch in Dresden gibt es Ereignisse und Bezüge zur Vergangenheit, die im kollektiven Gedächtnis weitestgehend fehlen, obwohl die authentischen Orte des Geschehens sowie ernstzunehmende Nachwirkungen in der Gegenwart vorhanden sind. DER AUSGANGS- UND MITTELPUNKT Ein solcher Ort mit schwierigem Erbe ist der Dresdner Zoo. Der heutige Besuch dort ist in der Regel geprägt von schönen Familienerlebnissen: Lachende Kinder, stolze Eltern und Großeltern tummeln sich vor den Gehegen und Käfigen mit Tieren. Dahinter blicken die präsentierten Tiere zurück. Nicht sichtbar ist, dass es eine Zeit gab, in der lebende Menschen von einem Aufführungsplatz auf das Zoopublikum zurückblickten. Es waren von den Dresdner:innen als »fremd« wahrgenommene Menschen, die der Zoo gegen ein Eintrittsgeld präsentierte. Dresden war ein bedeutender Ort dieser sogenannten Völkerschauen. Sie entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum beliebten und hoch professionalisierten Unterhaltungsgeschäft mit teils widersprüchlichen Dynamiken, denn die Motivation der Teilnehmenden sowie die Rahmenbedingungen der Schauen waren jeweils sehr unterschiedlich (siehe den einführenden Beitrag von Hilke Thode-Arora). Dass ihre Konjunktur ab 1870 so rasch zunahm, steht im Zusammenhang mit der stark beschleunigten Großstadtentwicklung. Die dort lebenden Menschen interessierten sich für neue und andere Formen der Unterhaltung, um den Alltag hinter sich zu lassen. Besonders anschaulich wird dieses Entfliehen in eine »exotische Traumwelt« bei verschiedenen Künstler:innen, die die Völkerschauen als Inspirationsquelle nutzten (siehe Beiträge von Silvia Dolz und Steffen Förster). Als das Stadtmuseum 2021 begann, sich dieser Leerstelle in der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur Dresdens zu widmen, waren die Einzelheiten zu den regionalen Menschenschauen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.2 Das ist bemerkenswert, denn die Zurschaustellungen fanden seit dem 17. Jahrhundert bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts an unterschiedlichen Dresdner Orten statt. Neben dem Zoologischen Garten wurden Menschen- und Völkerschauen auch in Gaststätten und Hotels, Zirkussen (siehe Beitrag von Sabine Hanke), auf Jahrmärkten und Volksfesten wie der Dresdner Vogelwiese, dem städtischen Ausstellungsgelände mit Großveranstaltungen, etwa anlässlich der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 (siehe Beitrag von Kathryn Holihan/

8 Julia Radtke), und in Panoptiken (siehe Beitrag von Christina Ludwig) gezeigt. Das Phänomen ist eng verwoben mit der menschlichen Lust, etwas Sensationelles, oft als »andersartig« Wahrgenommenes zu beobachten. Nicht nur ein »exotisches«, zumeist außereuropäisches Aussehen verleitete zum Schauen, sondern auch Anomalien des menschlichen Körpers (siehe Beiträge von Sybilla Nikolov und Andrea Rudolph/Katharina Steins). Das Publikum bewegte sich dabei allerdings in einem künstlich hergestellten Setting: Die Darbietungen, etwa auf der »Völkerwiese« des Dresdner Zoos, waren nach einem Drehbuch inszeniert worden, genau kalkulierte Spektakel sollten Authentizitätsmomente erzeugen. Obwohl der Dresdner Zoo seit den 1870er-Jahren einer der wichtigsten Veranstaltungsorte im Deutschen Kaiserreich war, gibt es zu den dort veranstalteten Menschen- und Völkerschauen bislang nur wenige und begrenzte Forschungsbeiträge. Auch die postkoloniale Kontextualisierung des Ortes und der dort stattgefundenen Menschenschauen steht noch aus. Um den Umgang mit diesem Erbe sowie weitere Forschungsarbeiten anzuregen, wurden seit 2021 durch das Stadtmuseum umfangreiche Recherchen durchgeführt. Einen Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen kann die von Volker Strähle erarbeitete tabellarische Gesamtübersicht der im Dresdner Zoo präsentierten 76 Völker- und Menschenschauen für den Zeitraum von 1878 bis 1934 bilden. Mit etwa 65 nachgewiesenen Völkerschauen sind damit deutlich mehr solcher Schaustellungen dokumentiert als für Leipzig.3 Detailliertere Studien zu einzelnen Schauen bieten einen Einblick in Rekrutierungspraktiken der Unternehmer sowie in die Handlungsmacht der indigenen Akteur:innen (siehe Beiträge von Bodhari Warsame und Clemens Radauer). Besonders interessant ist die Tatsache, dass ethnografische Objekte in Zusammenhang mit den Völkerschauen nach Dresden gelangten und sich heute in den Sammlungen des Museums für Völkerkunde Dresden (siehe Beitrag von Petra Martin) und im Stadtarchiv Dresden befinden. Warum waren die Dresdner:innen aller Bevölkerungsschichten so fasziniert von den Menschenschauen, dass die Zahl der Besuche in die Hunderttausende ging? Es war unter anderem der niedrigschwellige Zugang, denn Menschen- und Völkerschauen funktionierten ohne Sprache. Die Besucher:innen mussten nur Menschen anschauen. Das Visuelle und zugleich Körperliche bestimmte das Phänomen. Wahrgenommen wurden primär körperliche Merkmale, Ausstattung und Eigenarten sowie kulturelle Unterschiede. Parallel nutzte die sich gerade ausformende Wissenschaftsdisziplin der Anthropologie Völkerschauen für ihre »vergleichende Rassenkunde«. Die Menschen- und Völkerschauen prägten ein koloniales Blickregime: Die sich als überlegen empfindenden weißen »Herrenmenschen« blickten dabei auf die von ihnen kolonisierten Subjekte herab. Dass die Völkerschauen im Dresdner Zoo eine Vorgeschichte, Randereignisse und eine Nachgeschichte besitzen, wird in den unterschiedlichen Beiträgen der Autor:innen sichtbar. Kommerzielle Schauen mit dem Fokus auf »exotische Völker« stellten etwa nicht die ersten Begegnungsmomente mit »Fremden« dar. Bereits ab dem 17. Jahrhundert beschäftigte der Dresdner Hof »andersartig« aussehende Menschen (siehe Beiträge von Matthias Donath und Eva Seemann). Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert entwickelten sich die Menschenschauen dann zu einem Teil der bürgerlichen Vergnügungskultur (siehe Beitrag von Stefan Dornheim). 1 Völkerschau-Teilnehmender vor einem Zaun und dem Hinweisschild »Achtung! alle Tiere beissen«, wahrscheinlich zur Schau »Das Sudanesendorf« im Dresdner Zoo. Unbekannte:r Fotograf:in, um 1909

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10 BLICKWINKEL Wie alle historischen gesellschaftlichen Ereignisse müssen auch die Menschenschauen vielfältig kontextualisiert werden. Dieser Sammelband bietet deshalb verschiedene historiografische und gegenwärtige Zugänge. Er zeigt in Bezug auf die Stadt Dresden und ihre Umgebung auf, welche konkreten historischen Phänome als Menschenschauen behandelt werden können und wie diese einzuordnen sind. Dieses Themenfeld wird aus unterschiedlichen theoretischen und normativen Blickwinkeln betrachtet: So kann es für eine Auseinandersetzung fruchtbar sein, die Menschenschauen sowohl im Kontext von Urbanisierung und Industrialisierung mit einer sich herausbildenden Dresdner Vergnügungskultur zu betrachten als auch primär im Zusammenhang mit einer kolonialen Weltordnung, die für die Teilnehmenden der Menschenschauen Entwürdigung, Misshandlung und mitunter gar den Tod bringen konnte. Um diese Vielfalt an Perspektiven abzubilden, gibt es im vorliegenden Band neben Beiträgen aus der kritischen Zivilgesellschaft (siehe Beitrag von Dresden Postkolonial) und von privaten Sammlern (siehe Beiträge von Hartmut Rietschel), ebenso solche aus dem Umfeld verschiedener wissenschaftlicher Institutionen wie Universitäten, Museen und Archiven. Die Herausgeber:innen haben sich nicht nur aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der Blickwinkel, sondern auch wegen der Forschungslücken dafür entschieden, den am Thema Interessierten verschiedene Beitragsformate anzubieten: Die bebilderten Essays verschiedener Autor:innen setzen sich mit den Themenkomplexen »Perspektiven – Reflexionen – Forderungen«, »Unterhaltung – Dienerschaft – Vorführung«, »Vergnügen – Geschäfte – Bühnen«, »Begegnungen – Austausch – Missbrauch« und »Kunst – Museen – Wissenschaft« auseinander. Dazwischen sind Objektgeschichten eingestreut. Da zu allen (unbelebten) Objekten auch Subjekte, also handelnde Menschen, gehören, gibt es im Sammelband zudem Interviews mit Menschen, die in unterschiedlicher Form vom Thema betroffen sind. Hinzu kommen biografische Skizzen von Menschenschau-Teilnehmenden aus verschiedenen Weltregionen. Die durch Illustrationen von Johanna Gehring gerahmten Einblicke zeichnen ambivalente Lebenswege nach. Diese changieren oft zwischen Missbrauch und Selbstermächtigung. Die ausgewählten »biografischen Skizzen« stellen einen exemplarischen Ansatz dar, wie das Thema der Menschenschauen aus neuen Blickwinkeln betrachtet und künstlerisch gefasst werden kann. Das Herausgeber:innen-Team setzte sich zudem mit den kontroversen Fragen zum sensiblen Umgang mit Sprache und Bildern auseinander. Kontrovers deshalb, weil das Thema »Menschenschauen« inzwischen vor allem im Kontext der Debatten um Kolonialismus und Rassismus verhandelt wird. Die Konstruktion des »Anderen« im Medium von Völkerschauen spiegelt sich in den überlieferten Bildern und Textquellen wider. Da es nicht die eine optimale Lösung im Umgang mit diesen Problematiken gibt, finden sich im Sammelband verschiedene Ansätze zum Umgang mit schwierigen Begriffen (zum Beispiel durch Durchstreichungen von diskriminierenden Begriffen) und zur Praxis der diskriminierungssensiblen Sprache (zum Beispiel durch die Verwendung von Selbstbezeichnungen wie Schwarz). In einigen Fällen steht ein unterschiedlicher Umgang mit problematischen Begriffen nebeneinander – etwa beim »Indianer«-Begriff für indigene Amerikaner:innen. Genauso lag die Verwendung einer geschlechtersensiblen Sprache in der Hand der einzelnen Autor:innen. Auch beim Einsatz von

11 1 Opferberatung des RAA Sachsen e.V. (Hrsg.): Tödliche Realitäten. Der rassistische Mord an Marwa El-Sherbini. Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen, Hoyerswerda 2011; https://www.dresden.de/de/rathaus/politik/demokratie-respekt/marwa-el-sherbini.php (Zugriffsdatum: 30.11. 2022). 2 Vgl. Hoffmann, Klaus: Circensische Völkerschauen und Abenteurerliteratur in Dresden, in: Dresdner Hefte 20 (1989), 68–76; Haikal, Mustafa/Gensch, Winfried: Der Gesang des Orang-Utans. Die Geschichte des Dresdner Zoos, Dresden 2009, 40–43; Hanke, Sabine: »Wir wollten sie echt und leibhaftig haben«. American Indians im Zirkus Sarrasani 1906 bis 1945, in: Dresdner Hefte 126 (2016), 51–58; Ludwig, Christina: Völker-an-schauen. Zur unsichtbaren Geschichte des zoologischen Gartens Dresden, in: Dresdner Hefte 146 (2021), 53–59. 3 Vgl. Baleshzar, Lydia: Völkerschauen im Zoologischen Garten Leipzig 1879–1931, in: Deimel, Claus/Lentz, Sebastian/ Streck, Bernhard (Hrsg): Auf der Suche nach Vielfalt, Leipzig 2009, 427–448, hier 445–447; Leipzig Postkolonial: Zoo Leipzig, https://leipzig-postkolonial.de/themen/zoo-leipzig/ (Zugriffsdatum: 30.11. 2022). 4 Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019, 89. historischem Bildmaterial wählt der Band verschiedene Ansätze. Es wurden beispielsweise illustrierte Biografien integriert, die in reflektierter Weise und mittels Leerstellen mit überlieferten Bildquellen umgehen. An anderer Stelle wurde bewusst problematisches Bildmaterial nicht gezeigt. Dieser Sammelband ist kein finales und abgeschlossenes Ergebnis, sondern ein Zwischenschritt. Er möchte erste Antworten darauf geben, wie Dresden mit dem Thema der Menschenschauen umgehen kann. Der Kolonialismus stellt für das Stadtmuseum den zentralen Bezugsrahmen dar, da die Völkerschauen im imperialen Deutschen Kaiserreich ihren Höhepunkt erreichten und die europäische Kolonialherrschaft intensiv in der heutigen Gesellschaft nachwirkt. Der Kolonialismus prägte das Wissen über »fremde« Menschen und Territorien – über medial zirkulierende Bilder, einseitige Texte, mündliche Berichte aller Art, museale Präsentationen und nicht zuletzt über Menschen- und Völkerschauen.4 Diese sowohl mit Bildungs- als auch Unterhaltungsaspekten durchzogenen Medien waren Teil des Vergnügungsgewerbes der Großstadt, etwa im aufkommenden Kino (siehe Beitrag von Sophie Döring). Die Begegnungen mit indigenen Menschen haben zudem Spuren in Dresden und seiner Umgebung hinterlassen (siehe die Beiträge von Robin Leipold über indigene Besuche im Karl-MayMuseum und von Hartmut Rietschel über das Grab Edward Two-Twos). AUSBLICK Dieser Band sammelt und versammelt nicht nur Themen, sondern ganz bewusst ebenso unterschiedliche Positionen und Zugänge. Diese mehrdimensionalen und vielstimmigen sowie teilweise widersprüchlichen und streitbaren Ansätze sollen somit in die Öffentlichkeit getragen werden. Als Stadtmuseum verstehen wir uns auch als ein Ort der Positionsaushandlung. Daher bringen wir nicht nur regionale Diskurse und Forschungen zusammen, sondern nehmen zudem Perspektiven und Ansätze anderer überregionaler Akteur:innen auf. Den vorliegenden Band sehen wir – wie eine derzeit in Planung befindliche Ausstellung – als Schritt in diesem Aushandlungsprozess, der in Dresden und anderswo mit zunehmender Intensität geführt wird. Welchen Stellenwert Menschen- und Völkerschauen sowie der damit verknüpfte (Post-)Kolonialismus in der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Dresden haben sollen, ist eine offene Frage. Je nach politischem Standpunkt, Rassismuserfahrungen, historischem Interesse und kulturellem Hintergrund werden auch Dresdner:innen diese Frage ganz unterschiedlich beantworten.

Wer blickt hier auf wen? Das Dresdner Zoo-Publikum mustert auf diesem Bild von 1906 die Darsteller:innen eines »afrikanischen Dorfes« – und diese schauen zurück. Aus unterschiedlichen Perspektiven lässt sich auch das Phänomen der Menschenschauen betrachten. Im folgenden Abschnitt finden sich wissenschaftliche Beiträge, eine künstlerische Reflexion und Forderungen von Dresden Postkolonial.

PERSPEKTIVEN REFLEXIONEN FORDERUNGEN

Hilke Thode-Arora VÖLKER- SCHAUEN in DEUTSCHLAND Eine Einführung

15 Zurschaustellungen, welche Menschen in ihrer kulturellen und physischen Andersartigkeit inszenierten, sind in Europa mindestens seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten sie sich in Schaubuden, auf Jahrmärkten, später auch in Zirkussen und Wild-West-Shows, zunehmend zum Genre. Diese Völkerschauen waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in Europa und Nordamerika eine weit verbreitete Form des Unterhaltungsgeschäfts. Menschen meist außereuropäischer Herkunft wurden für die Dauer von mehreren Monaten oder gar Jahren rekrutiert, manchmal auch unter unwürdigen Bedingungen entführt, um vor zahlendem Publikum Dinge zu zeigen, die als »typisch« für ihre Herkunftskultur erachtet wurden.1 Das unterschied Völkerschauen von anderen Menschenschauen, in denen primär die physische Andersartigkeit der Protagonist:innen, etwa Behinderungen, körperliche Besonderheiten oder Körpermodifikationen, als Attraktionen vermarktet wurden. Zwar handelte es sich bei Letzteren ebenfalls um eine Form der Zurschaustellung von Alterität, teilweise auch mit als kulturspezifisch inszenierten Darstellungen. Bei Völkerschauen hingegen gab es immer eine auf kulturelle Besonderheiten zielende Inszenierung und somit ein ethnic othering, ein Betonen der ethnischkulturellen Andersartigkeit. In diesem Beitrag soll ein kurzer Überblick gegeben werden über die Organisation von Völkerschauen, die Auswahlkriterien für die Rekrutierung der Teilnehmer:innen, die Art der Inszenierung, Publikumsreaktionen und das Interesse zeitgenössischer Wissenschaftler, aber auch über die Erfahrungen der Teilnehmer:innen und ihre Motive, sich für eine Schau zu verpflichten. 1851 fand in Großbritannien die erste Weltausstellung statt, welche wie auch alle späteren unter Beteiligung verschiedenster Nationen technische, industrielle, kunstgewerbliche und künstlerische Neuerungen, Methoden und Errungenschaften präsentierte. Bereits ab 1855 etablierten sich Völkerschauen auf Weltausstellungen; 1883 in Amsterdam wurden zum ersten Mal mit bewusster 1 Werbepostkarte von Sarrasani mit dem Motiv einer »DahomeyAmazonen«-Völkerschau. Postkarte gelaufen 1921

16 kolonialpropagandistischer Agenda Bewohner:innen der Kolonien zur Schau gestellt, um ethnische Vielfalt, aber auch Gewerbefleiß, Ausbeutung natürlicher Ressourcen und nicht zuletzt den vermeintlich zivilisatorischen Fortschritt im Dienste der Kolonialherren zu präsentieren.2 In Deutschland erlebten die Völkerschauen ihre Hochzeit zwischen 1880 und 1914, also in der Periode des deutschen Kolonialreichs. Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren weiterhin gängig. Allerdings erwuchs ihnen mit den in fernen Ländern spielenden, opulent ausgestatteten Stummfilmen der 1920er ein Konkurrent, der offenbar die Illusion exotischer Traumwelten zusehends besser vermittelte als selbst die bestausgestattete Schau.3 Da persönliche und sexuelle Kontakte zwischen Besucher:innen und VölkerschauTeilnehmer:innen nicht effektiv unterbunden werden konnten, setzte der Nationalsozialismus dieser Form des Unterhaltungsgeschäfts schließlich ein Ende.4 KOMMERZIELLE VÖLKERSCHAUEN DOMINIERTEN DIE DEUTSCHE SZENE Im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich, wo Völkerschauen von offiziellen Stellen sehr viel geplanter kolonialpropagandistisch eingesetzt wurden, war die deutschsprachige Szene von kommerziellen Völkerschau-Organisator:innen dominiert. Diese warben zwar mit der Förderung des kolonialen Gedankens. Eine Analyse der Vorführungen und als »Völkerschau-Dorf« inszenierten Attraktionen zeigt jedoch, dass hauptsächlich Spannung, Ethnografisch-Dokumentarisches und zuweilen der erotische Appeal der Teilnehmer:innen im Mittelpunkt der Darbietungen standen. So folgten ab den 1890er-Jahren die meisten Vorführungen einer festen Szenenfolge in einem dramaturgischen Ablauf mit friedlichem Anfang (etwa einer idyllischen Dorfszene), dramatischem Höhepunkt (zum Beispiel einem Überfall) und Happy End (Friedensschluss mit Hochzeit oder gemeinsamem Fest). Einzig für die Kolonialausstellung der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 wurden ausdrücklich Menschen aus den deutschen Kolonien angeworben. In der langen Reihe der kommerziellen Schauen in Deutschland zwischen 1875 und 1932 waren sie sonst mit einigen wenigen Schauen zum Thema Samoa, Kamerun, Togo oder Ostafrika eher die Ausnahme. Allerdings wären Völkerschauen ohne die durch globalen Handel und Kolonialismus geschaffene Infrastruktur nicht möglich gewesen. VölkerschauTeilnehmer:innen wurden meist aus den Kolonialgebieten anderer Staaten bzw. unter deren indigenen Minderheiten angeworben. Gute Schiffs- und Eisenbahnverbindungen machten die reibungslose Anreise nach Deutschland möglich. Sie garantierten ein weiteres Spezifikum der kommerziellen Schauen: Wie Zirkusse, die teilweise ebenfalls Völkerschauen zeigten, waren diese mobil und gingen auf ausgedehnte Tourneen durch ganz Europa – darunter auch immer wieder nach Dresden – oder sogar Amerika. Viele Schauen bereisten kleinere Orte, gerade in Sachsen. Im Gegensatz zu den stationären Kolonial- und Weltausstellungen erreichten die kommerziellen Völkerschauen so ein Millionenpublikum, wovon beeindruckende Besucherzahlen an den einzelnen Gastspielorten zeugen, die sich an einem einzigen Sonntag oft im vier- bis fünfstelligen Bereich bewegten. Obwohl »nur« eine Form des Unterhaltungsgeschäfts, sollte die Rolle von Völkerschauen bei der Verstärkung (seltener wohl auch Prägung) von Stereotypen über Menschen fremder Kulturen daher keinesfalls unterschätzt werden.

17 Kommerzielle Betreiber wollten mit den logistisch aufwendigen Schauen Gewinne erwirtschaften. Die Kriterien für die Auswahl einer ethnischen Einheit und dann der Individuen für eine Schau waren daher von immenser Bedeutung; sie spiegeln wider, was als publikumswirksam und kassenträchtig eingeschätzt wurde. ANWERBEKRITERIEN UND INSZENIERUNG ALS »REISE« Eines der wichtigsten Auswahlkriterien bestand in einer möglichst spektakulären physischen Andersartigkeit. Dies konnte sich auf körperliche Merkmale wie Pigmentierung, Wuchs, Haarform beziehen. Aber auch auf kulturelle Charakteristika, die versprachen, das Publikumsinteresse zu wecken – etwa von Mitteleuropäer:innen als pittoresk empfundene Kleidungsstile und Hausformen oder 2 Bambusartisten vor Verkaufsständen und einem nachgebauten indischen Tempel. An einem der Stände hängt wohl eine ceylonesische Tanzmaske. Koloriertes Titelblatt der Programmbroschüre zu »Gebrüder Hagenbeck’s Indische Carawane. Die Malabaren«, mit Grafik von Adolph Friedländer, Hamburg, 1900

36 In dem Sammelband dominieren wissenschaftliche Beiträge aus einer europäischen Perspektive. Ergänzend erzählen insgesamt sieben über den Band verteilte Kurzbiografien die Lebensgeschichten von Teilnehmenden von Menschenschauen. Die häufig anonymisierten oder mit Kunstnamen versehenen Darsteller:innen sollen dadurch wieder mit ihrer individuellen Geschichte sichtbar werden. Die Erzählungen stellen die Personen nicht in erster Linie als Opfer dar, sondern als handelnde und selbstbewusste Akteur:innen. Die Illustrationen der biografischen Skizzen stammen von Johanna Gehring. In einem Gespräch mit Thomas Steller reflektierte sie ihre Arbeit, hier werden Auszüge wiedergegeben. Ihre Illustration auf dieser Doppelseite zeigt den Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Biografien. Mit SEHGEWOHNHEITEN BRECHEN »Illustration ist für mich immer forschende Auseinandersetzung. Ich stelle mir Fragen nach Sehgewohnheiten: Wer sieht, wer wird gesehen? Ich frage nach stigmatisierenden, stereotypisierenden, gewaltvollen Darstellungsformen und wie sie zu brechen sein könnten. Wichtigste Grundlage ist dabei Respekt vor den Menschen, vor ihren Geschichten und Kämpfen.« »Die Quellen und Abbildungen, mit denen ich gearbeitet habe, stammen überwiegend aus kolonialrassistischem Kontext und geben die Perspektive der Kolonisatoren wieder. Sie sind teilweise gewaltvoll, sie produzieren eindimensionale und klischeehafte Darstellungen. Die Abbildungen und Beschreibungen der Personen dienten der Abgrenzung und Aufwertung ihrer europäischen Betrachter:innen. Der Südamerikaner Pichocho z.B. wird auf seine vermeintliche minderwertige Andersartigkeit reduziert, ebenso das Kind bzw. später die junge Frau ›Krao Farini‹, deren tatsächlicher Name nicht einmal bekannt ist. Diese Blickregime und Sehgewohnheiten wollte ich auf keinen Fall reproduzieren, weil sie nach wie vor koloniale und gewaltvolle Blickpraktiken stärken und fortschreiben. Die Erkenntnis, dass dieser Wunsch in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen noch immer utopisch ist, kann vielleicht ein hilfreicher erster Schritt sein.«

37 »Der Vorteil von einem zeichnerischen oder künstlerischen Annähern an eine Thematik ist, dass dabei durch Auslassung ein Fokus gesetzt werden kann und sich so eine Geschichte erzählen lässt. Ich wollte auf die problematischen Quellen und die Leerstellen in der Geschichte hinweisen und den Personen mit ihren uneindeutigen, lückenhaften Biografien Raum geben. Und es ist mir wichtig, dass Betrachter:innen diese Uneindeutigkeit und Unabgeschlossenheit auch aushalten.« »Die Uneindeutigkeiten wollte ich auch visuell in den Vordergrund stellen. Indem ich teilweise nicht die Person selbst, sondern nur ein Bild, aus dem sie herausgeschnitten ist, also eine Lücke zeige. Oder indem ich mehrere Bilder sich überlagern lasse und skizzenhaft zeichne, um zu verdeutlichen, dass es zwar verschiedene Überlieferungen zu den Personen gibt, sie alle aber aus kolonialistischer Perspektive stammen und auch nicht deckungsgleich sind. Die skizzenhafte Darstellungsweise drückt den Prozess des Suchens und die Unmöglichkeit einer exakten oder zutreffenden Darstellung aus.« Johanna Gehring und Thomas Steller »Ich habe versucht, auch meine eigene weiße Perspektive zu reflektieren und den Fakt, dass meine eigene Wahrnehmung der Welt von den Spuren der Kolonisierung und anderen Machtstrukturen geprägt ist. Ich musste mit zum Teil sehr unterschiedlichen und subtilen Gewaltstrukturen umgehen, in denen ich selbst verhaftet bin; aber ohne in eine Betroffenheitsperspektive zu rutschen. Insofern war klar, ich werde auch scheitern, aber der Prozess der Auseinandersetzung ist wichtig. Meine Hoffnung ist, diese Selbstreflexion auch bei den Betrachter:innen der Bilder anregen zu können. Aus dem Grund habe ich einen Collage-artigen Stil gewählt, mit Unterbrechungen und teilweise auch irritierenden Elementen, die Impulse zum Nachdenken geben sollen.«

Volker Strähle Eine »VÖLKER- WIESE« am GROSSEN GARTEN Der Dresdner Zoo als Ort kommerzieller Menschenschauen

75 Nach seiner Gründung 1861 entwickelte sich Dresdens Zoologischer Garten schnell zum zentralen Vergnügungsort der Stadt.1 In dem Zoogelände am Rande des Großen Gartens trafen das ganze Jahr über alle sozialen Schichten aus Stadt und Umgebung aufeinander. An den Wochenenden flanierten die Besucher:innen zu Tausenden durch die Anlagen. Die andauernden Baumaßnahmen und der Kauf attraktiver Tiere verschlangen hohe Geldsummen, weshalb der Aktienverein des Zoos immer neue Kredite aufnehmen musste.2 Um die finanziellen Verluste auszugleichen, setzte der Verwaltungsrat auf publikumswirksame Veranstaltungen. Die »naturkundliche Bildung«, das Anliegen der Gründerväter, geriet zusehends in den Hintergrund. Spektakuläre Tierdressuren begeisterten das Publikum mehr als die Aufreihung unterschiedlicher Nagetierarten. Abendliche Feuerwerke wurden gezündet, seit 1875 traten regelmäßig Militärkapellen im Zoo auf.3 17 Jahre nach seiner Gründung präsentierte der Zoo 1878 erstmals Menschen, die als Angehörige einer »exotischen« Völkerschaft vermarktet wurden: Eine Familie aus Grönland hatte der aufstrebende Völkerschau-Unternehmer Carl Hagenbeck (1844–1913) angeheuert. Von einem Jahr auf das andere wurde der Zoo zum wichtigsten Dresdner Veranstaltungsort von Menschenschauen. Für die Zeit zwischen 1878 und 1934 konnten 76 Menschenschauen dokumentiert werden, darunter 65 »Völkerschauen«.4 Die Publikumszahlen lassen sich zwar nicht ermitteln, sicher ist aber, dass die Menschenschauen im Zoo viele Hunderttausende Besuche zählten.5 Dieser Beitrag geht zunächst der Frage nach, wer die zentralen Akteure der Schaustellungen von Menschen im Dresdner Zoo waren: Welche Verbindungen zu Völkerschau-Unternehmern unterhielt der Zoo? Anschließend wird dargestellt, 1 Postkarte »Gruss von der Völkerwiese. Zoologischer Garten Dresden«. Wilhelm Hoffmann – Kunstanstalt auf Aktien, Dresden 1901

76 wie die Teilnehmenden im Dresdner Zoo untergebracht und präsentiert wurden. Was lässt sich über Begegnungen zwischen Schauteilnehmer:innen und Zuschauer:innen sagen? Schließlich wird die Frage erörtert, inwiefern die Völkerschauen im Zoo als koloniales Unternehmen gelten können. Welche Schauen repräsentierten dabei Gruppen aus deutschen Kolonien? Abschließend wird das Ende der Menschenschauen im Dresdner Zoo behandelt. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern deren Tradition bis nach 1945 fortwirkte. DIE VERBINDUNG ZU HAGENBECK Auf wen die Initiative zurückging, Menschenschauen in den Dresdner Zoo zu holen, ist unklar. Der seit 1861 amtierende Direktor Albin Schoepf (1823–1881) war dem Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft unterstellt, weshalb er eine solche Entscheidung nicht allein fällen konnte. Damit unterschied sich seine Position grundlegend von derjenigen des Leipziger Zoogründers und Direktors Ernst Pinkert (1844–1909).6 Sicherlich spielten die persönlichen Verbindungen von Albin Schoepf zu dem Hamburger Unternehmer Carl Hagenbeck eine zentrale Rolle. Der global operierende Tierhändler hatte sich seit 1874 mit seinen Völkerschauen einen neuen Geschäftszweig erschlossen und diese als Veranstalter an Zoos vermittelt. Einer seiner Mitarbeiter wurde Adolph Schoepf (1851–1909), der Sohn des Dresdner Zoodirektors. Nach dessen kaufmännischer Ausbildung hatte er bei Hagenbeck in Hamburg angefangen, zunächst als Tiereinkäufer und später in der Betriebsleitung.7 Adolph Schoepf war sowohl mit dem internationalen 2 Eduard Müller: Das Affenhaus im zoologischen Garten. Lithografie, gestochen von Hans Anton Williard, um 1860

77 Tierhandel als auch mit dem neuen Geschäft von Menschenschauen vertraut. Er war es, der im Sommer 1878 Hagenbecks »Nubier« begleitete und dabei auch nach Dresden brachte. Auch an späteren Völkerschauen war Schoepf beteiligt.8 Unter anderem begleitete er 1880/81 einige Inuit, nachdem der Impresario Johan Adrian Jacobsen (1853–1947) krankheitsbedingt ausgefallen war.9 Der Tour-Teilnehmer Abraham Ulrikab (1845–1881) erwähnte ihn in seinem Tagebuch,10 das als eines der wenigen Selbstzeugnisse eines Völkerschau-Teilnehmers gilt. Ulrikab starb wie alle anderen Inuit während der Tournee an Pocken, weil Jacobsen und Schoepf es unterlassen hatten, sie rechtzeitig zu impfen. Zu Johan Adrian Jacobsen pflegte Schoepf fortan über viele Jahre eine Freundschaft. 1893 holte er ihn in den Dresdner Zoo, wo Jacobsen zwölf Jahre lang das Gesellschaftshaus betrieb – gemeinsam mit seiner in Dresden geborenen Ehefrau, Alma Hedwig Jacobsen, geb. Klopfer (1862–1937).11 Adolph Schoepf hatte 1881 die Leitung des Dresdner Zoos von seinem Vater übernommen. Neben der Verbindung zu Hagenbeck etablierte er Geschäftsbeziehungen mit weiteren Völkerschau-Unternehmern: Nach der Jahrhundertwende waren die Gebrüder Carl Marquardt (1860–1916) und Fritz Marquardt (1862– nach 1912) die wichtigsten Vertragspartner. DER SCHAUSTELLUNGSPLATZ UND DIE TEILNEHMENDEN Der erste Schaustellungsplatz mit Tribüne (auch »Völkerwiese« genannt) befand sich hinter dem Elefantenhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des großen Platzes am Zoo-Restaurant. Der Platz war von einem Holzzaun umgeben, der eine Barriere für das Publikum darstellte. Die Zäune markierten wie anderswo ein »Innen« und ein »Außen«, stellten Zuschauende und zur Schau Gestellte einander gegenüber. Auch das inszenierte »Alltagsleben« in nachgebauten »Dörfern« spielte sich jenseits eines Zauns ab. Direkte Begegnungen zwischen Zoobesucher:innen und Angehörigen der Schauen waren so kaum möglich. Sie waren von Seiten der Veranstalter auch gar nicht gewollt. Weitgehend beschränkten sich die Begegnungen auf kurze Wortwechsel in Fremdsprachen, während Völkerschau-Teilnehmende Ansichtskarten und Fotografien verkauften und anschließend signierten. Dieses Recht stand ihnen häufig vertraglich zu. Der Rahmen für einen möglichen Austausch war also genau vorgegeben. Dies galt auch für vermeintlich spontane Ereignisse wie die gemeinsame Singstunde von Angehörigen der »nubischen Karawane« und der »Dresdner Liedertafel«, die 1879 im großen Saal des Zoo-­ Restaurants zustande kam.12 Die angereisten Teilnehmer:innen wurden seit 1883 meist in einem langgestreckten Holzbau untergebracht, der als »Hotel zum wilden Mann« bezeichnet wurde. Der Bau diente zugleich als Stallgebäude für die mitgeführten Tiere. Über die Lebensverhältnisse der Darsteller:innen ist wenig bekannt – gleiches gilt für die Arbeitsbedingungen. Die zur Schau gestellten Menschen standen in einem Vertragsverhältnis mit dem Unternehmer, der wiederum einen Vertrag mit dem Zoo abgeschlossen hatte. Der sogenannte Impresario bestimmte in der Regel das Programm, beaufsichtigte die Darsteller:innen, sorgte für ihre Verpflegung und zahlte den Lohn aus. Auch wenn die Teilnehmenden sich vertraglich verpflichtet hatten, konnten viele nicht erahnen, wie es ihnen monate-, manchmal jahrelang fernab ihrer Heimat ergehen würde. Es gibt zahlreiche Berichte über Völkerschau-Teilnehmende, die während der Tournee erkrankten und starben.13 Für die Schauen im Dresdner Zoo ist allerdings kein Todesfall bekannt. 3 Adolph Schoepf. Unbekannte:r Fotograf:in, um 1900/1905

78 DER KOLONIALE RAHMEN Die im Dresdner Zoo gezeigten Menschenschauen sollten »Völker« und Kulturen aus allen Kontinenten repräsentieren. Darunter waren allerdings kaum Menschen aus europäischen Regionen, wie die »Kalmücken«.14 Die von den Schaugruppen vorgeführte »ursprüngliche Lebensweise« wurde mal wehmütig verklärt, mal als Kuriosum betrachtet. Kennzeichnend für die Schaustellungen war eine koloniale »Rassen«-Hierarchie, mit den weißen15 Europäer:innen an der Spitze: Während »zivilisierten Kulturvölkern« Respekt und Bewunderung entgegengebracht wurde, wurden die als »wilde Naturvölker« inszenierten Gruppen teils romantisiert, teils dem Spott und der Verachtung des Publikums preisgegeben. Rund die Hälfte der Völkerschauen im Dresdner Zoo waren »afrikanische« Schauen, wobei unterschiedliche rassistische Klischees aufgerufen wurden: So wurden etwa nordafrikanische »Beduinen« als stolze »geborene Krieger« präsentiert,16 während aus der Kalahari-Wüste stammende Menschen als »Überreste einer primitiven Zwergrace« angekündigt wurden.17 4 Teilnehmer der Völkerschau »Samoa« vom August/September 1910 im Dresdner Zoo. Josef Krauss, Dresden, 1910 5 Aufstellung der Teilnehmenden der Völkerschau »Das Sudanesendorf« für fotografische Aufnahmen im Dresdner Zoo. Unbekannte:r Fotograf:in, 1909

79 Die kommerziellen Völkerschauen waren ein Produkt des europäischen Kolonialismus und der zunehmenden globalen Verflechtungen unter westlicher Vorherrschaft. Auch wenn die Menschenschauen die Vorstellung einer weißen Überlegenheit beförderten, dienten nur einzelne im Dresdner Zoo vorgeführte Schauen der direkten Kolonialpropaganda. Eher wurde die Kolonialbegeisterung aufgegriffen, um Völkerschauen zu vermarkten. Die 1886 im Zoo gezeigte »Kamerun-Expedition« mit Samson Dido (Mambingo Eyum) nutzte das Interesse für das zwei Jahre zuvor unter deutsche Kolonialherrschaft geratene Kamerun. Die Dresdner Nachrichten behaupteten gar, es ginge dem Organisator Hagenbeck nicht um den geschäftlichen Gewinn, sondern darum, »seinen Landsleuten eine richtige Vorstellung von den Eingeborenen in Kamerun zu verschaffen.«18 Als der Zoo 1893 Angehörige der Hehe aus »Deutsch-Ostafrika« präsentierte, warb er in einer Zeitungsannonce damit, dass diese 1891 »durch den Überfall des Leutnant von Zelewsky« »bekannt« geworden seien.19 Hehe-Kämpfer hatten damals die deutsche »Schutztruppe« besiegt, Kommandeur Emil von Zelewski (1854–1891) war in den Kämpfen gestorben. Der Propagierung des deutschen Einflusses in der »Südsee« dienten die Samoa-Schauen: 1901, ein Jahr, nachdem Samoa offiziell dem deutschen Kolonialreich einverleibt worden war, wurden die Samoaner:innen als »unsere neuen deutschen Landsleute« beworben.20 Neben sogenannten ethnologischen Schauen stellte der Dresdner Zoo allerdings auch »Körpersensationen« aus. Wiederholt trat eine »Colibri-Truppe« mit kleingewachsenen Menschen im Dresdner Zoo auf. Einzelne Schauen wurden als Kombination aus populärer »Freak-Show« und wissenschaftlicher Besonderheit präsentiert: Eine von Hypertrichose betroffene Person wurde als »Affenmädchen Krao« angekündigt, sie sollte eine frühere evolutionäre Entwicklungsstufe des Menschen verkörpern.21 Eine Gruppe von Sara-Kaba, deren Frauen sogenannte Lippenteller trugen, wurde 1931 in sensationsheischender Weise als »aussterbende« Kultur und »recht seltene Sehenswürdigkeit« vermarktet.22 6 Plan des Zoologischen Gartens zu Dresden. Entwurf: Horst Rose, Druck: Kunstanstalt Wilhelm Hoffmann AG, Dresden, 1909

93 NAME gesucht, GESCHICHTE gefunden Eine Puppe als Zeugnis Dresdner Völkerschauen Andrea Rudolph Eine Puppe in einem rot-weiß gestreiften Kleid wartete darauf, gemeinsam mit den anderen Puppen aus der Spielzeugsammlung des Stadtmuseums Dresden online in der digitalen Sammlungsdatenbank präsentiert zu werden. Doch etwas sprach noch dagegen: Bei der Übertragung der Informationen von der papiernen Karteikarte aus dem Jahr 1983 in die Museumsdatenbank Anfang der 2000er-Jahre war der in den 1980er-Jahren noch gängige, heute rassistisch bewertete Begriff »N*-Puppe« als Bezeichnung übernommen worden. Um für die digitale Welt sichtbar zu werden, galt es daher, einen anderen Namen für die Puppe zu finden. Darüber hinaus stellte sich die Frage, wie sie – eine der gerade einmal drei schwarzen Puppen in der Sammlung – aus rassismuskritischer Sicht zu bewerten sei und wie sie in das Stadtmuseum gelangt war. Recherchen zeigten, dass die Waltershausener Puppenfabrik J. D. Kestner jun. bei der Herstellung der Puppe um 1905 auf dasselbe Kopfmodell zurückgegriffen hatte wie bei ihren weißen Puppen. Es handelt sich um einen Celluloidkopf der Marke Schildkröt, der lediglich mit dunkler Farbe überzogen worden war. Dies unterscheidet die Puppe von anderen Fabrikaten, die ethnische Merkmale mehr oder minder realistisch oder aber überzeichnet wiedergaben. Auch die hölzernen und aus Masse gefertigten Gliedmaßen waren braun gefasst worden. Bis auf die dunkle Hautfarbe, die schwarze Echthaarperücke und die braunen Glasaugen unterschied sich die Puppe damit nicht von den weißen Varianten des Herstellers mit der Seriennummer 200. Die alten Zugangsunterlagen hielten eine Überraschung bereit: Die einstige Puppenbesitzerin – eine Krankenschwester und Tochter des Juristen und späteren Dresdner Stadtrats Wilhelm Christer (1872–1911) – hatte 1973 ihrer Schenkung einen maschinenschriftlichen Bericht beigefügt. Darin schrieb sie, dass sie die Puppe 1906 als sechsjähriges Mädchen im Dresdner Zoo bei einem Besuch einer Völkerschau geschenkt bekommen hatte. Ihr Onkel und ihre Tante hatten einen der Teilnehmer der Schau – vermutlich die im April/Mai 1906 veranstaltete »Afrika-Ausstellung« des Impresarios Carl Marquardt (1860–1916) – für die Übergabe engagiert. »Er hob mich hoch auf seinen Arm und hielt sie mir vor. Aber ich schrie und fürchtete mich zuerst. Er schaukelte mich auf dem Arm und ging mit mir und dem Püppchen zu kleinen schwarzen Kinderchen und deren Mutti, und weil die Alle so freundlich waren[,] beruhigte ich mich[,] und schließlich wurden wir noch gut Freund.« Ihre Puppe nannte sie »Seeli«. Den Namen hatte sie als Kind von »Suleika« in »Seelika« abgeleitet und dies zu »Seeli« als Kosename abgekürzt. Die Schenkerin bewahrte ihre Puppe im Originalkleid mehr als 65 Jahre auf, bevor sie sie an das Stadtmuseum übergab. Als Kurbelkopfpuppe (Serien-Nr. 200) mit Spitzname »Seeli« ist sie nun als Erinnerungsstück an eine Dresdner Völkerschau Teil der Sammlung und online präsent. Kurbelkopfpuppe (Serien-Nr. 200) von J. D. Kestner jun., Waltershausen, und der Rheinischen Gummi- und CelluloidFabrik, MannheimNeckarau. Celluloid, Masse, Holz, Textil, Echthaar, Glas, 1906

120 Uwe Hänchen (*1962) ist Vorsitzender der Spielgemeinschaft »Gojko Mitić« Bischofswerda. Auf der Waldbühne von Bischofswerda führt der Verein unter Leitung des Lehrers jeden Sommer zu den Karl-May-Spielen ein Stück des Schriftstellers auf, jeweils mit einem Kinderensemble und einem Ensemble für Jugendliche und junge Erwachsene. Sein Sohn Ben Hänchen (*1987), ein MDR-Journalist, ist in einem Podcast der Frage nachgegangen, ob Karl-MaySpiele heutzutage noch vertretbar sind. Sein Vater sieht sich durch die Debatte herausgefordert. Er will nun einiges in seinen Stücken und Aufführungen ändern. Das Interview führte Volker Strähle Seit einiger Zeit gibt es Kritik, dass Karl May bedenkliche Klischees verbreitet hat. Fürchten Sie, dass Sie die Karl-May-Spiele bald ganz aufgeben müssen? Uwe Hänchen: Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Das wäre ganz sicher auch nicht angemessen. Es ist wichtig, dass wir uns in die Debatte einbringen und sensibler werden, was unsere Aufführungen und unser Textbuch angeht. Karl May ist unser Kulturgut, unser deutsches, ja sogar sächsisches Kulturgut. Allerdings geht es in den Stücken um Indianer – und deshalb müssen wir auch die heutigen Perspektiven der Nachkommen der Ureinwohner Nordamerikas berücksichtigen. Wann haben Sie verstanden, dass Sie etwas ändern müssen? Als mein Sohn im vergangenen Jahr den Podcast gemacht hat. Ben hat die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob man heute überhaupt noch Karl-May-Spiele aufführen kann. Er hat mich interviewt und viele andere Personen, darunter Indigene aus Nordamerika. Mir ist klar geworden, dass es Menschen gibt, die solche Vorführungen kritisch sehen. Was mich sehr verunsichert hat: In einer Umfrage kam heraus, dass 50 Prozent der Befragten glauben, die Karl-May-Spiele bilden reale Geschichte ab. Ich glaubte, alle wissen, dass wir Geschichten zeigen, die der Fantasie des Schriftstellers Karl May entsprungen sind. Was wird sich nun bei Ihren Karl-May-Spielen konkret ändern? Bereits in der letzten Saison haben wir damit aufgehört, Gesichter mit brauner Schminke anzumalen. Einige pseudoindianische Begriffe verwende ich in meinen Stücken schon lange nicht mehr – wie »Squaw« und »Manitou«. Wir wollen in Zukunft auch den Häuptlingen deutsche Namen geben, die indianischen Namen sind ja meist Fantasienamen. Karl May hat ja immer auch eine Übersetzung der Namen ins Deutsche mitgeliefert, die » Die GRUND- BOTSCHAFTEN werden BLEIBEN« Uwe Hänchen über die Frage, wie sich die Karl-May-Spiele in Bischofswerda ändern sollen 1 Uwe Hänchen. Foto: Peter Stürzner, 2021

121 verwende ich dann. Winnetou, Intschu-tschuna oder Nscho-tschi werden aber bleiben. Schwierig wird es bei den Stammesbezeichnungen, denn die gibt es ja wirklich. Und was die Tänze angeht, da möchte ich unseren Tänzern Workshops mit dem professionellen indigenen Tänzer Kendall Old Elk anbieten. Wir im Verein sind jetzt in der Diskussion, was wir künftig sensibler angehen und was Bestand haben soll. Worum geht es Ihnen am Ende: den »echten« Karl May auf die Bühne zu bringen – oder zu zeigen, wie die indigenen Menschen »wirklich« gelebt haben? Das ist ein Dilemma. Oft werde ich als Karl-May-Fan dargestellt, was nicht ganz stimmt. Ich habe eine typische DDR-Biografie. Bei mir hat alles mit den DEFAIndianerfilmen begonnen, mit Gojko Mitić. Diese DDRProduktionen hatten den Anspruch, authentischer zu sein als die Karl-May-Filme aus dem Westen. Deshalb wollte ich bei unseren Spielen auch immer, dass es halbwegs stimmt, was wir da spielen. So habe ich etwa Texte von historischen Indianerführern mitverarbeitet, die zum Beispiel den Umgang der Weißen mit der Natur, mit der Mutter Erde, zum Inhalt haben. Und dann kam mein Sohn und sagte: Das ist kulturelle Aneignung, das kannst du nicht machen. Bisher dachte ich, das ist gerade das, was uns auszeichnet, dass wir uns bemühen, authentisch zu sein. Jetzt muss ich ein anderes Argument verwenden und sagen: Leute, was wollt ihr? Wir spielen Karl May, das ist unsere Kultur. Der hat das ethnologisch ungenau beschrieben, das wissen wir, aber die Texte sind 150 Jahre alt. Mir ist nicht wohler auf diesem Weg und ich beschäftige mich nach wie vor sehr intensiv damit. Sie haben also kein Rezept, das Dilemma aufzulösen? Es gibt nicht die eine Lösung. Wir werden einige Dinge in den Stücken ändern und der historischen Realität anpassen. Ich lasse auch bestimmte Figuren weg, schreibe Texte um. Denn aus heutiger Sicht ist klar, dass es in Karl Mays Romanen Inhalte gibt, die als rassistisch interpretiert werden können. Gleichzeitig werden die Grundbotschaften erhalten bleiben, die für mich das positive Erbe von Karl May ausmachen: Sein Einsatz für Völkerverständigung und für die Rechte der Indianer. Manche Sachen werden wir auch nicht aus den Stücken herausnehmen. Dann erklären wir im Programmheft und im Vorprogramm: Was hat uns Karl May erzählt und was war Realität. Kendall Old Elk sagt zum Beispiel, dass die Trommel nur Männern vorbehalten war. Wenn unsere Trommelgruppe mal wieder etwas aufführt, werde ich aber sicher nicht sagen: Die Mädchen und Frauen dürfen nicht mitmachen. Welche Reaktionen erhalten Sie darauf, dass Sie sich der Debatte stellen? Im Wesentlichen wird es positiv gesehen, dass wir uns hinterfragen und bereit für Veränderungen sind. Die jüngere Generation, die allmählich die Verantwortung übernimmt, ist insgesamt sehr offen. Manche Leute verschreckt aber die harte Infragestellung. Sie lesen die Überschrift in der Zeitung: Ist Karl May rassistisch? Und lesen dann gar nicht mehr weiter, obwohl der Text oder das Interview dann differenzierter ist. Es gab auch Reaktionen unter unseren Sponsoren, die gesagt haben: Also, wenn ihr hier jetzt alles ändert, dann gibt’s kein Geld mehr. Dann sind wir raus. 2 Szene aus dem Karl-MaySpiel »Old Surehand« der Jugendbesetzung von 2022. Foto: Peter Stürzner, 2022

139 HIN- GESCHAUT! Das Afrikanische Restaurant in Dresden Eine Postkarte zeigt einen Schankraum mit zahlreichen Gästen und Angestellten: eine Werbeansicht, wie sie für Gaststätten, Cafés und Restaurants für die Zeit um 1900 typisch war. Die Ladeneinrichtung unterscheidet sich nicht von anderen zeitgenössischen Lokalen in Dresden. Auch die Gäste entsprechen in ihrem äußeren Erscheinungsbild dem damaligen einheimischen Publikum bzw. der in Dresden Anfang des 20. Jahrhunderts gängigen Mode. Auf den ersten Blick verweist die Postkarte also auf eine »normale« Dresdner Schankwirtschaft und die in ihr arbeitenden wie konsumierenden Menschen. Doch ein zweiter Blick lässt erkennen, dass alle drei Kellner Schwarze sind, was für Dresden zur vorigen Jahrhundertwende ungewöhnlich war. Der Umstand erklärt sich durch den aufgedruckten Namen des Lokals: Die Karte warb 1901 für ein »Afrikanisches Restaurant« in Dresdens Großer Brüdergasse. Was aber war »afrikanisch« an dem Restaurant? Das noch nach seinem Vorgängerbetrieb offiziell »Zum Chinesen« heißende Lokal wurde seit 1899 von dem in Freetown (heute: Sierra Leone) geborenen Johannes Glatty (1872–1910) gemeinsam mit seiner deutschen Ehefrau betrieben, der Kellnerin Johanne Marie, geb. Köhler (*1863). Bereits 1895 hatten sie in der Moritzburger Straße die Schankwirtschaft »Zum Afrikanischen Bierhaus« eröffnet. Darüber hinaus war Glatty zwischen 1898 und 1902 auf der Vogelwiese mit einer »Afrikanischen Bierhalle« bzw. einem »Afrikanischem Bierzelt« vertreten. Alle Lokale bezeichnete er als »afrikanisch«, was sich jedoch nur auf das Schwarze Personal bezog, das als Attraktion vermarktet wurde. Glatty verwies 1897 in Konzessionsanträgen selbst auf die Anziehungskraft seiner eigenen Zurschaustellung »in Dresden[s] einzig dastehende[m] Restaurant mit einen schwarzen Wirth«: »zahlreiche Gäste aus allen Bevölkerungsklassen beehrten mich, [um] den in Dresden etablirten schwarzen Restaurateur kennen zu lernen«. Eine Werbeanzeige in den Dresdner Nachrichten vom 16. Februar 1902 warb mit dem Aufruf: »Kommt alle zu den Schwarzen!« Sie lud bei »echt afrikanische[r] Bedienung« zu täglicher Musik mit »Trompetensolis, Burenlieder[n] und Märsche[n]« ein. Inwieweit die musikalischen Darbietungen nur auf den Zweiten Burenkrieg in Südafrika (1899– 1902) reagierten oder allgemein auch afrikanische Klänge im 1902 zum »Afrikanischen Konzerthaus« umbenannten Etablissement ertönten, ist nicht bekannt. Das Restaurant schloss 1903. Nach Stationen in Zürich, Wien und Breslau betrieb Johannes Glatty ab 1906 in Leipzig das Lokal »Zum Afrikaner«. Er starb 1910 in der Städtischen Irrenanstalt in Frankfurt am Main, nachdem kurz zuvor sein Restaurant verkauft und die Ehe mit Marie geschieden worden war. Ob der Blick auf die angestellten Schwarzen Kellner, Büffetdamen und Musiker einziger »afrikanischer« Bestandteil seines Gastronomiekonzepts war, bleibt ungeklärt, würde aber dem verwendeten Werbebild auf der Postkarte entsprechen. Werbepostkarte »Gruss aus dem Afrikanischen Restaurant Johannes Glatty«. Fotografie von Martin Görtz, Dresden, 1901 Andrea Rudolph

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