Leseprobe

GEGEN DEN STRICH Druckgrafik der Stiftung Günther und Annemarie Gercken

GEGEN DEN STRICH Herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Björn Egging SANDSTEIN VERLAG Druckgrafik der Stiftung Günther und Annemarie Gercken

Hokusai und ein Paar Georg Baselitz / 2017 / Radierung, Zuckertusche und Aquatinta

/ 10 / Marion Ackermann, Stephanie Buck SAMMELN, STIFTEN, AUSSTELLEN / 25 / Marcel Beyer IM RAUSCH DER FLÄCHE / 41 / Günther Gercken KUNST JENSEITS VON SCHÖN UND HÄSSLICH, JENSEITS VON ZWECK UND MORAL / 139 / Björn Egging GEGEN DEN STRICH UND DARÜBER HINAUS Zur Druckgrafik von Baselitz, Kirchner und Nitsch in der Stiftung und Sammlung Günther und Annemarie Gercken HORST ANTES / 79 GEORG BASELITZ / 64 / 107 WERNER BÜTTNER HUBERT KIECOL / 51 MONIKA GRZYMALA / 74 DAVID HOCKNEY / 89 JENNY HOLZER / 70 ANSELM KIEFER / 60 ERNST LUDWIG KIRCHNER / 12 GUSTAV KLUGE / 58 WILHELM LEHMBRUCK / 92 ROBERT MANGOLD / 153 EDVARD MUNCH / 30 CARSTEN NICOLAI / 62 HERMANN NITSCH / 160 A. R. PENCK / 98 TOMAS SCHMIT / 174 Werke aus der Sammlung Günther und Annemarie Gercken / 185 Werkliste der Stiftung Günther und Annemarie Gercken / 186 Impressum / 195

14 / KAT 2 / Die Neue Stadt Ernst Ludwig Kirchner / 1917 / sechs Holzschnitte / KAT 2 / Der Gehenkte / KAT 2 / Gilbert

/ KAT 2 / Frauenkopf (Mechthild) / KAT 2 / Kreuzfahrer / KAT 2 / Ratsherr und Bischoff / KAT 2 / Henker

16 / KAT 3 / Bildnis Willem van Vloten Ernst Ludwig Kirchner / April 1918 / Holzschnitt

17 / KAT 4 / Kopf Karl Butz. – Oberpfleger Karl Butz Ernst Ludwig Kirchner / 1917/18 / Holzschnitt

25 I Mit sandgrauen Sätzen steige ich in die nassgraue Welt, ich laufe mit dem Gesicht am Boden, ich laufe unter der Hochnebeldecke, meine Füße versinken im Dunst und verschwimmen. Ich laufe durch Milchgrau und Buttergrau, Fischgrau und Rauchgrau, ich laufe im mattgrauen Tageslicht, ich bewege mich wie ein grauer Haufen, die leuchtende Schneedecke unter mir. »Wo liegt der mittlere Grauwert der Grauwelt?«, frage ich mich, wenn die Hochnebeldecke alles im Zaum hält, ich frage »Was machen die grauen Sätze mit mir?«, wenn ein grauer Vogel vom Zaun fällt. Die Luft bildet Fäden und Knoten und Schlaufen. »Was wäre die Kunst ohne Blei?«, frage ich, wenn ein Baum sich grau in den Weg stellt, ich frage: »Was bleibt von der Kunst, wenn es schneit?«, vor mir eine Grauwalze, eine Schwarzwalze, eine Faulmilchweißwalze, der ich ausweichen, der ich folgen, in die ich mich werfen kann. II Fischgrau und Rauchgrau halten einander die Waage, Schneegrau und Hochnebelgrau halten einander die Waage, Baumgrau und Eisengrau werden einander die Waage halten, denn »Was wäre die Kunst ohne Holz, ohne Lack, ohne Leim?«, frage ich mich, »und was ohne Messer?«, während ich laufe und aus dem Grau heraus nach und nach eine Figur auftaucht. Eine Figur im grauen Kittel oder im weißen Kittel, eine Figur mit grauem oder mit schwarzem Haar, das Gesicht eines Mannes mit einem Namen, Karl Butz, eines Mannes mit einem Namen und einem Beruf. Der Oberpfleger Karl Butz mit seinen Sternaugen und seiner zerkratzten Stirn. Ein Mann an einem klar umrissenen Ort, der Oberpfleger Karl Butz im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen im Kanton Thurgau, vom Patienten Ernst Ludwig Kirchner porträtiert irgendwann zwischen Mitte September 1917 und Anfang Juli des darauffolgenden Jahres. III Den Oberpfleger Karl Butz habe ich nie gesehen, ich kenne ihn nur von diesem Holzschnitt, und darum vielleicht erinnert er mich an einen seitlich angestoßenen, kleinen Rainer Maria Rilke mit seinem Schnurrbart und seinen hellen Wangenknochen, mit seinem geschwungenen Haaransatz, seinem riesigen Ohr und diesem halbverloren gesenkten Blick, als habe Ernst Ludwig Kirchner ihn schräg von der Seite in einem Moment eingefangen, als der Oberpfleger Karl Butz den langen Sanatoriumsflur entlangläuft, vom einen Patientenzimmer zum anderen, von der Hausapotheke zum Waschraum, um mit einem Mal innezuhalten, als er vor sich auf dem Linoleumboden eine hellgraue Milchlache bemerkt. Ein aufgequollenes Stück Papier vielleicht, oder ein Leimfleck. Der Oberpfleger Karl Butz neigt den Kopf leicht zur Seite, die Lache einer nach einem Geheimrezept angerührten Grundierung vielleicht, eine Reismehlgrundierung noch ohne Pigment, und zugleich möglicherweise schon das ganze Bild. Georg Baselitz Bäume / Mappe mit 36 Radierungen / 1974/75 (Kat. 47, S. 115–119) A. R. Penck O. T. / Mappe mit zehn Kaltnadelradierungen / 1978/79 (Kat. 42, S. 98–105) Ernst Ludwig Kirchner Kopf Karl Butz. – Oberpfleger Karl Butz 1917/18 / Holzschnitt √ Detail (Kat. 4, S. 17) MARCEL BEYER IM RAUSCH DER FLÄCHE

26 IV Möglich genauso, der Oberpfleger Karl Butz erinnert mich an einen späten Robert Walser mit seiner zerkauten Stirn, wie er am Weihnachtstag des Jahres 1956 in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau nach seinem Hut sucht. Der formvollendet graue, formvollendet zerknautschte Robert Walser hat sich in den Kopf gesetzt, am Nachmittag einen Weihnachtsspaziergang zu unternehmen, ohne Begleitung, da eine Begleitung ihn mit ihrem Gerede nur ablenken würde von der formvollendet schriftlosen Schneewelt mit ihrem schwindenden Licht, ihrem mit jeder Minute sich wandelnden Grauwert. Er wird nicht zurückgekehrt sein zur gewohnten Zeit, nicht zum Nachmittagskaffee, nicht zum Nachtessen, sodass sich unter den Pflegern Unruhe verbreitet, bis jemand in die Stiefel steigt, sich den Mantel überwirft und sich auf den Weg macht, um nach Robert Walser zu suchen. Ein Pfleger vielleicht wie dieser mir unbekannte, von Ernst Ludwig Kirchner porträtierte Karl Butz. V Wie aber sollte der veronalsüchtige, der morphiumsüchtige Ernst Ludwig Kirchner, wie sollte der Absinthtrinker Ernst Ludwig Kirchner mitten im Ersten Weltkrieg den Abstinenzler Robert Walser des Jahres 1956 in Holz geschnitten haben, wie hätte der Künstler im Oberpfleger Karl Butz einen Doppelgänger des Schriftstellers als alter Mann erkennen, wie hätte der Kreuzlinger Patient den Herisauer Patienten in annähernd vierzig Jahren vor Augen haben können, frage ich mich, während ich durch die schneegrauen Sätze stapfe, während ich Schneelöcher stopfe. Schieferfarbene Abreibungen um mich herum, und ich weiß nicht einmal, ob sie von mir stammen oder schon vor mir da waren, während die Figur sich wandelt im Schattengrau, im Gesichtsgrau, im Räuchergrau. VI Ich stopfe und stopfe, ich frage nach Teer und nach Reis und nach Lumpen, ich sehe die Farbwalze vor mir, ich warte auf Blei. Ich frage mich, wie hätte ein dem Kreuzlinger Oberpfleger Karl Butz zum Verwechseln ähnlich sehender Pfleger der Heil- und Pflegeanstalt Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden im Dezember des Jahres 1956 aufbrechen können, um nach einem verschwundenen Patienten zu suchen, der womöglich in Richtung Nordosten aufgebrochen ist, der sich auf den Weg nach Kreuzlingen im Kanton Thurgau gemacht hat, um die Strecke von vierunddreißig Kilometern im tiefen Winter zu Fuß zurückzulegen, und wie sollte sich umgekehrt der Oberpfleger Karl Butz Ende 1917 vom Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen im Kanton Thurgau auf den Weg gemacht haben, um die vierunddreißig Kilometer bis zur Heil- und Pflegeanstalt Herisau in Richtung Südosten zu laufen, seinen Doppelgänger Robert Walser vor Augen, sodass die beiden Pfleger, aus verschiedenen Zeiten kommend, annähernd vierzig Jahre durchmessend, auf ihrem Weg einander irgendwann begegnen würden, womöglich gerade an jener Stelle inmitten der weiten Schneewelt, an der am 25. Dezember 1956 Robert Walser liegt, samt seinem in den Schnee gerollten Hut. VII Ich werde noch eine Stunde schlafen und hoffe auf einen grauen Traum. Denn ich weiß, morgens ist die Sprache da, nachmittags sind es die Bilder. »Hier und da rollt ein Hut in den Schnee«, murmele ich, im Hochnebel laufend, »hier und da spüre ich die Glut in den Zehen«, höre ich jemanden aus der Grauwelt sprechen, »hier und da bricht etwas weg«, man trinkt ein Glas Absinth, man zerkratzt sich die Stirn, das Ohr wächst noch in diesem Alter, die Grausätze geben mir Halt, da ich mich ins schwindende Licht bewege,

27 vor mir eine Bleiwalze, eine Salzwalze, eine Gletschermilchwalze. Ich lasse das Licht schwinden, ich rufe das Licht zurück, ich muss mir die Schneeschuhe binden, ich muss den mittleren Grauwert finden, ehe das Schwarz sich vom Weiß trennt und wieder ein Bild entsteht. So verwandelt sich die Gestalt, und das graue Gesicht des toten Dichters im Schnee wird überschneit, bevor es sich, ins Schneeweiß gewendet, am anderen Ende der Welt an einem anderen Menschen zeigt. VIII Sein Gesicht wirkt wie eine annähernd ebene Fläche, in der nur Augen und Mund Vertiefungen andeuten. Die kaum sichtbaren Nasenlöcher ließen sich, sofern man sie überhaupt bemerkt, leicht als Belichtungsfehler, als zufällig auf dem fotografischen Negativ haftende Materie auffassen, sofern man es denn mit einer Fotografie zu tun hätte. Doch dieser Mann, der sich im vollen Fischlokal, vom Eingang her kommend, nach und nach wie magisch von uns angezogen auf unseren Tisch zubewegt, ist keine optische Täuschung, die sich in einem unruhigen Traum vom Papier gelöst hat, um zwischen den im Vorraum zu beiden Seiten aufgereihten offenen Feuern zu wandeln, über denen der Fisch gegrillt wird, ist auch keine Filmfigur, die einen Schritt hinaus in die wirkliche Welt gemacht hätte, um dort, also hier, einen Abend lang unter Menschen zu wandeln. IX Der weiße Mann, der uns, weiße Frauen und Männer, die für einige Tage in der Stadt zu Gast sind, vermutlich gleich beim Eintreten in den Blick genommen hat, noch ehe wir auf ihn aufmerksam wurden, wendet sich auf seinem Weg mal dieser, mal jener eng zusammensitzenden Tischgesellschaft zu, bringt die Menschen zum Lachen, ohne dass ich mich nun, ein Vierteljahrhundert später, erinnern könnte, ob er dies tut, indem er mit ihnen spricht, oder ob er sich ihnen stumm nähert, ob seine Verkleidung (er trägt eine blonde Perücke, ein Blümchenkleid und eine Handtasche), seine Gesten, sein stierer Blick oder am Ende einfach der Umstand, dass er sein ausdrucksloses Gesicht kalkweiß geschminkt hat, für Belustigung sorgen, zumal allen im Raum vor Augen steht, dass wir, die Weißen, ein Unbehagen empfinden werden, wie es einen Einheimischen befallen würde, wenn ein Nordeuropäer in dessen Gegenwart darauf käme, sich das Gesicht mit Schuhcreme schwarz zu färben. Die Farbe Grau ist in allen Schattierungen ein Phänomen des Eingangsbereichs, nämlich in Form der Rußschicht auf den früher einmal weißen Wänden, des Rauchs über den Feuern, der Asche auf der Glut, der Holzkohle, die mit Augenmaß nachgelegt wird, damit der Fisch gleichmäßig Hitze bekommt. Hier, im Gastraum, existiert kein Grau, hier gibt es nur Schwarz und Weiß. X Ich habe Schuhcreme im Auge. Die Bilder sind da, doch ich brauche die Sprache. Ich reibe mir die Augen im Rausch. Ich brauche die Schneehand im Teerbad, ich brauche das Schwarz an der Atelierwand, ich brauche ein Weiß, das herumgeht, ich brauche ein Wort, das auf dem Papier steht, wenn ich herausfinden will, was die grauen Sätze mit mir machen. Ich brauche den Lack, ich brauche die Tünche, ich brauche das Schneegrau im Kanton Thurgau, ich brauche das weiße Blatt und das schwachgraue Licht in einem Atelierraum in München. Ich brauche ein Kniestück, einen Mann mit der Frisur meiner Urgroßmutter und einem großen weißen Ohr, brauche ihn für die gesamte Belichtungszeit, brauche ihn lange. Doch zuvor, es gibt kein Zurück, steige ich noch eine Weile durch die erinnerungsgrauen Sätze und zerkaue dabei eine Schlange. Carsten Nicolai Hand / Mappe mit zwölf Holzdrucken / 1990 (Kat. 24, S. 62/ 63)

32 / KAT 11 / Sigbjørn Obstfelder I Edvard Munch / 1896 / Lithografie

33 / KAT 12 / Stanisław Przybyszewski Edvard Munch / 1895 (?) / Lithografie

/ KAT 17 / Dr. Max Linde Edvard Munch / 1902 / Lithografie / KAT 16 / Frau Marie Linde Edvard Munch / 1902 / Kaltnadelradierung

39 / KAT 18 / Frau Marie Linde Edvard Munch / 1902 / Lithografie

41 Wenn man Kunst sammelt, sollte man eigentlich wissen, was Kunst ist. Welchen Sinn ergäbe es, etwas zu sammeln, von dem man nicht wüsste, was es ist? Ausgehend von einem naiven, ideellen Kunstbegriff sind wir bei den vielen Wandlungen der Kunst im 20. Jahrhundert skeptisch geworden, was unter Kunst zu verstehen ist. Werner Hofmann meinte, das Kunstproblem mit dem »Vereinbarungsbegriff« lösen zu können. »Wir müssen uns jedoch mit der Tatsache vertraut machen, daß Kunst ein Vereinbarungsbegriff ist, dem jede Epoche einen anderen Umfang einräumt.«1 Sofort schließt sich die Frage an, wer in diesem Fall die Vereinbarenden sind. Auch darauf gibt es keine klare Antwort. Da die Kunst zum Problem geworden ist, kann ein Sammler nicht sicher sein, ob die Sammlungsgegenstände zum Kunstbereich gehören. Die Bescheidenheit sagt ihm, er sammelt das, was er für Kunst hält, auch Werke, die bisher nicht als Kunst galten, und vielleicht auch andere, die nie als Kunst anerkannt werden. In seiner Rede in der Royal Academy, London, sagte Baselitz: »Sie [die Künstler] benehmen sich einfach wie Leute, die etwas behaupten, was andere nicht wissen wollen.«2 Die Künstler behaupten jedoch nicht nur mit Worten, dass ihre Werke Kunst seien, sondern die Werke selbst sind die Behauptung. Der Käufer der Werke gleicht in dieser Frage dem Künstler: Auch er behauptet den Kunstcharakter der Werke. Seine kritische Wahl ist gleichzeitig ein persönliches Bekenntnis zu einem bestimmten Werk. Wie der Künstler sich mit seinen Hervorbringungen der Öffentlichkeit exponiert, so exponiert sich der Sammler mit seiner Sammlung, wenn er sie ausstellt. Bei dem Überangebot an sogenannter Kunst findet die Auslese überwiegend im Ausschluss statt und weniger in der Zustimmung. Ernst Wilhelm Nay äußerte im Gespräch die Idee einer negativen Sammlung: Bezeichnender für eine Sammlung sei das, was nicht in ihr vorkomme, als das, was sie enthalte. Da eine Sammlung als ein Organismus zu verstehen ist, in dem alle Teile aufeinander bezogen sind, um ein Ganzes zu bilden, kann die Einheit durch unpassende Werke leicht gestört werden. Ist ein Grundstock vorhanden, beeinflusst dieser die Neuerwerbungen und die Sammlung bestimmt ihren Charakter selbst. GÜNTHER GERCKEN KUNST JENSEITS VON SCHÖN UND HÄSSLICH, JENSEITS VON ZWECK UND MORAL Georg Baselitz Bäume / 1974 / Blatt 33 √ Detail (Kat. 45, S. 117)

42 Nicht nur die Kunst in ihrem Wandel ist fraglich geworden, sondern auch ihre Beständigkeit und Geltungsdauer. Früher als unveränderlicher innerer Wert der Kunst gedacht, hängt die Dauerhaftigkeit nur vom Interesse und Wohlwollen der Menschen ab. Das Gültig-Bleiben ist ein Wunsch, der die jetzt geschätzten Kunstwerke in die ungewisse Zukunft begleitet. Mehr nicht. Nur die Bewahrenden können die Kunstwerke mit Leben erfüllen. Erlöschen ihr Interesse und ihr Kunstverständnis oder kommt es zu einem Kulturumbruch, so gehen auch die Kunstwerke unter, sinken bestenfalls zu Antiquitäten herab oder werden sogar vernichtet. Wie die Aktion »Entartete Kunst« der Nationalsozialisten 1937 gezeigt hat, sind wir im eigenen Land nicht sicher vor Kunstzerstörung und ideologischer Einflussnahme auf die Kunst, die versucht, diese zu einem Mittel für kunstfremde Zwecke zu machen. In dem Schauspiel Sakuntala von Kalidasa,3 einem nordindischen Dichter aus dem 5. Jahrhundert, das Ernst Ludwig Kirchner mit sechs Lithografien illustriert hat, wird die Handlung immer wieder von poetischen, meditativen Einschüben unterbrochen. Einmal heißt es: »Beim Anblick eines Elefanten zu sagen: ›Das ist kein Elefant‹, leise zu zweifeln, wenn er weiter schreitet, Gewissheit zu empfinden, wenn man seine Spuren betrachtet. So erging es mir.«4 Die Betrachtung schreibt dem realen Geschehnis weniger Überzeugungskraft zu als dem zurückbleibenden Fußabdruck. Auf die Kunst bezogen, erkennen wir den Künstler an den Spuren und Formen, die er als Zeichnung auf Papier oder eingeschnitten in einem Druckstock hinterlassen hat, und wir versuchen, uns zu vergewissern, ob es bleibende tiefe Spuren sind oder nur flüchtige, die von der Zeit bald verwischt werden. Spurensicherung Abb. 1 Georg Baselitz Zeichnung im Ausstellungskatalog Georg Baselitz. New Paintings / Pace Wildenstein Gallery, New York 1998 / Filzstift 292×235 mm Sammlung Günther und Annemarie Gercken

43 Die deutlichste Spur, die leicht zu lesen ist, besteht aus Strichen und Linien einer Zeichnung. Sie ist der Formensprache der Grafik sehr verwandt und gibt nicht nur einen Hinweis auf den Urheber, sondern kann in sein ganzes Werk einführen. Deshalb gehe ich von einer kleinen bescheidenen Filzstiftzeichnung aus, die Georg Baselitz auf das Vorsatzblatt eines Katalogs gezeichnet hat (Abb. 1).5 Kurze Striche und Zickzacklinien, die völlig frei gesetzt erscheinen, umschließen in ihrer Mitte eine männliche Figur, von der man nicht weiß, ob sie liegt oder, da auf dem Kopf stehend, in die Tiefe stürzt. So beiläufig die Zeichnung erscheint, so bedeutungsvoll ist sie, auch wenn man die Bedeutung noch nicht kennt. Die Zeichnung ist das Stenogramm, die Abbreviatur eines Ereignisses aus dem Zweiten Weltkrieg. Baselitz hat das Motiv einem Bild von Arkadi A. Plastow (Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau) entnommen, das einen toten Hirten in der Heidelandschaft darstellt, der von einem Tiefflieger erschossen wurde. Er hat das Hauptmotiv des im Stil des sowjetischen sozialistischen Realismus der 1940er-Jahre gemalten Bildes isoliert und in eine flächige Strichzeichnung umgesetzt, die von allem Beiwerk, Landschaft und Tieren, bereinigt ist. Auch hat er die Figur aus der stilistischen Zeitgebundenheit des sowjetischen sozialistischen Realismus der 1940er-Jahre gelöst und zu einem zeitlosen Motiv gemacht, einem unschuldigen Opfer der Gewalt. Die Zeichnung des Hirten variiert Baselitz in der Radierfolge von acht Drucken Ein Faschist flog vorüber, 1998 (Abb. 2).6 Das Thema erweitert Abb. 2 Georg Baselitz Ein Faschist flog vorüber I 1998 / Strichätzung, Kaltnadel, Aquatinta / 653×495 mm Sammlung Günther und Annemarie Gercken

44 sich durch die Assoziation an den kleinen, von Christian Friedrich nach einer Zeichnung seines Bruders Caspar David Friedrich gefertigten Holzschnitt Auf einem Grabe schlafender Knabe (Abb. 3), dessen Figur Baselitz stark vergrößerte und in eines seiner riesigen Berliner Reichstagsbilder aufnahm. Die Zeichnung entpuppt sich als ein bedeutungsvolles Strichgebilde, das unsere Interpretation herausfordert. Die Gedanken an ihre Herkunft weisen auf zwei Zeitpunkte deutscher Geschichte, die mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen: auf einen Mord im Zweiten Weltkrieg und den Knaben, der das Leben noch vor sich hat, schlafend auf einem Grab, aus der Zeit der Freiheitskriege Anfang des 19. Jahrhunderts. Indem das Kunstwerk bedeutsam ist, hat es nach HansGeorg Gadamer seine hermeneutische Identität.7 Vielleicht ist es diese Bedeutsamkeit, die die Werke, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten stammen und sich stilistisch unterscheiden, zur Zusammengehörigkeit dieser Sammlung vereinigt. Auch die handgeschöpften Papierarbeiten von Jenny Holzer, die man für abstrakte Schwarz-Weiß-­ Formen halten könnte, tragen eine inhaltliche Botschaft, indem sie das Foltern durch »Waterboarding« anprangern (Kat. 30, S. 71–73). Und das Chaos in der Oberfläche einer Hartfaserplatte wird von Büttner/Kiecol in die Trümmer bombardierter Städte transformiert (Kat. 19, S. 51–56). An den monumentalen Linolschnitten von 1977/78 kann man Baselitz’ Zeichenspur im großen Format verfolgen (Kat. 27–29, S. 66–69). Mit ihnen erfindet Baselitz eine neue Bildgattung, die zwischen Zeichnung, Druckgrafik und Gemälde angesiedelt ist. Er verleiht der wenig geschätzten Technik des Linolschnitts eine neue künstlerische Qualität, und durch die Größe überwindet er das übliche Grafikformat. Seine Absicht war, dass die Werke nicht im Grafikschrank verschwinden, sondern wie Bilder angesehen werden sollten. Die Zeichnung, in das weiche Material geschnitten, hebt sich von dem in Schwarz oder Rot gedruckten Grund als weiße Linien ab. Als feine Schraffur bilden sie ein vibrierendes Gewebe aus Weißformen, das die ganze Fläche einnimmt. In den langen Zügen der Umrisszeichnung einer Figur spiegeln sich die Körperbewegungen des Künstlers, Abb. 3 Caspar David Friedrich Auf einem Grabe schlafender Knabe / um 1802 Holzschnitt, 12,6×19,5 cm Kupferstich-Kabinett, SKD, Inv.-Nr. A 1925-390

45 der, auf der Platte am Boden kniend, wegen des fehlenden Abstands das entstehende Bild als Ganzes nicht überblicken kann. Die Stadien der Bearbeitung werden in je einem Zustandsdruck festgehalten. Durch eine zusätzliche Übermalung des Drucks, so wie bei dem Schnitt Dreibeiniger Akt, 1977, entsteht eine weitere Bildebene. Flächendruck, Zeichnung und Malerei verbinden sich zu einer Bildwirkung, die nur mit dieser Kombination der verschiedenen Techniken zu erzielen ist. Die Bäume-Mappe, 1974/75, mit 36 Radierungen wäre vermutlich nicht so umfangreich geworden, wenn es sich nur um die Darstellung von Einzelbäumen und Baumgruppen handelte (Kat. 45, S. 115–119). Baselitz erprobt mit diesen Blättern die Ausdrucksmöglichkeiten der verschiedenen Techniken – Kaltnadel, Strichätzung und Aquatinta – und experimentiert mit einer Vielzahl abstrakter Bildkonstruktionen. Die Formen sind nicht wie in den Baumstudien von Mondrian durch Abstraktion von der Natur gewonnen, sondern werden in den Radierungen neu erfunden. Trotzdem wirken die Bilder mit ihrem Reichtum an Formen, Flecken und Grautönen erstaunlich naturhaft. Malelade ist ein schwer verständliches Künstlerbuch, angeregt von einem naturwissenschaftlichen Kodex des Altertums, mit 41 Radierungen, in denen jeweils ein Textfragment aus sperrig eingeritzten Wörtern und eine figürliche Darstellung vereint sind (Kat. 46, S. 121–137). Der Titel Malelade, eine Wortkomposition, klingt geheimnisvoll, aber auch düster, weil »malade« (krank) deutlich herauszuhören ist. Hinzu kommt, dass in die Schriftplatte der Titelseite mit dem lesbaren und dem spiegelbildlichen Wort Malelade der Holzschnitt einer fallenden weißen Träne, die erst nach zahlreichen Anläufen ihre endgültige Form angenommen hat, eingedruckt ist (Kat. 46, S. 121). Warum wird den kommenden Seiten eine Träne vorausgesandt? Es ist die Träne des Abschieds! Die Folge von Wort und Bild umfasst den Lebenskreis vom Erschaffen der Wesen bis zum Tod, symbolisiert mit dem Totenschädel auf der Tafel 39 (Kat. 46, S. 134). Die Melancholie des Wissens, dass jedem Ursprung auch das Vergehen eingeschrieben ist, durchzieht den Zyklus. Bedingt durch die Notwendigkeit, auf der Kupferplatte in Spiegelschrift zu schreiben, erinnert die ungelenke Schrift an erste Schreibversuche. Immer wieder wird in den Farbradierungen das Wort »sein« (lat. esse), das Sein mit stammelnder Kindersprache beschworen. Wessen Wesenheit ist gemeint? Die eigene in den vielen Metamorphosen? Die Anrufungen »Hund sein« (Tafel 5, Kat. 46, S. 126–127) oder »Adler sein« (Tafel 16, Kat. 46, S. 132) erschaffen die Wesen, und die Namensbenennung wird durch die Vergegenwärtigung im Bild bestätigt. »Romantiker kaputt« (Tafel 12, Kat. 46, S. 131). Meint sich der Künstler selbst? Die Zeit, ein Romantiker zu sein, ist vorbei. Klingt in dem Rückblick leise Wehmut an oder ein trotziger Abbruch, als Aufbruch in die offene Zukunft? Untergang und Zerstörung bereiten den Boden, auf dem Neues entstehen kann. Die Folge endet zyklisch mit der Erinnerung an die Herkunft aus dem Dorf, dessen Name zu seinem Künstlernamen wurde: »wie Heimat einmal« (Tafel 38, Kat. 46, S. 134), wobei »einmal« auf die Vergangenheit und den Verlust hinweist, und in »bum bum« hört man das Echo der existenziellen Bedrohung durch explodierende Munition, deren Kugeln ihn beinahe getötet hätten. Versöhnend ist die Anrufung der Geliebten und der Wunsch nach Einssein mit ihr, »du sein du Geliebte du« (Tafel 39, Kat. 46, S. 134). Sie, die Geliebte, vermag selbst die Todesahnung durch die Überzeichnung des Totenkopfs zu verdrängen. Malelade, veröffentlicht 1990, bildet einen monumentalen Abschluss der frühen Grafik und schafft den Freiraum, mit neuen grafischen Formen zu experimentieren.8 Eine kleine Zeichnung von Katsushika Hokusai aus einem Brief des 83-jährigen japanischen Meisters von 1842, der sich im Nationaal Museum van Wereldculturen, Leiden, befindet, hat Georg Baselitz zu einer Serie von zweiteiligen Zeichnungen, 2015, und zu der Aquatinta-Radierung Hokusai und ein Paar von 2017 angeregt (Frontispiz).9

60 / KAT 22 / Annette von Droste-Hülshoff Anselm Kiefer / 1977 / Holzschnitt

61 / KAT 23 / Stefan George Anselm Kiefer / 1977 / Holzschnitt

64 / KAT 25 / Partisan Georg Baselitz / 1966 / Farbholzschnitt

65 / KAT 26 / Ohne Titel Georg Baselitz / 1967 / Farbholzschnitt

92 / KAT 35 / Apparition Wilhelm Lehmbruck / 1914 / Kaltnadel

/ KAT 36 / Paolo und Francesca groß (Hochformat) Wilhelm Lehmbruck / 1913 / Kaltnadel / KAT 37 / Umarmung I Wilhelm Lehmbruck / 1914 / Kaltnadel

98 / KAT 42 / Blatt 1 / KAT 42 / Ohne Titel A. R. Penck / 1978/79 / zehn Kaltnadelradierung / KAT 42 / Blatt 2

99 / KAT 42 / Blatt 3 / KAT 42 / Blatt 4

139 In ihrer 2012 von der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg herausgegebenen sechsteiligen Auflagenarbeit Water Boarding thematisiert die US-amerikanische Künstlerin Jenny Holzer, bekannt für ihre LED-Schriftbänder mit sowohl politischen Statements als auch »Truisms« (Binsenweisheiten), die gleichnamige Foltermethode durch US-amerikanische Sicherheitskräfte im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus (Kat. 30, S. 71–73).1 In einem aufwendigen Verfahren entstanden in der Werkstatt für Papier von Gangolf Ulbricht in Berlin Werke aus mehreren Lagen handgeschöpften Papiers, die schwarze Flächen auf weißem Grund zeigen und an wenigen Stellen Schriftfragmente wie »enhanced techniques«, »Water Board« und »Top secret«.2 Die Blätter sind zwar Auflagenobjekte, haben aber durch die individuelle Fertigungsweise den Charakter von Unikaten, sie sind keine druckgrafischen Werke, besitzen jedoch drucktechnische Bezüge. Als Vorlage dienten der Künstlerin freigegebene Geheimdokumente der CIA. Jenny Holzer hat bis auf die erwähnten Schlüsselbegriffe die Schrift der Vorlagen komplett geschwärzt, sodass in der Reihe der sechs Arbeiten der Eindruck nahezu vollständig zensierter Schriftblöcke entsteht. Einerseits verdeutlichen sie die künstlerische Absicht von Jenny Holzer, auf das erlittene Unrecht der Gefangenen und das demokratisch verbriefte Recht auf Information aufmerksam zu machen. Andererseits weisen sie die eliminierte Schrift als geometrisch-abstrakte Flächen aus, deren künstlerisches Bezugssystem bis zum Schwarzen Quadrat von Malewitsch zurückreicht. Die politisch-aufklärerische Arbeit Jenny Holzers über das »Waterboarding« dürfte all denjenigen Betrachterinnen und Betrachtern »gegen den Strich« gehen, die den Westen im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus für moralisch überlegen halten. Die entschiedene Kritik der Künstlerin an der Anwendung von Folter und deren Geheimhaltung ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich Günther und Annemarie Gercken für den Ankauf der sechs Blätter entschieden haben und dass diese heute in der Ausstellung den Auftakt bilden. Ein weiterer Grund ist der experimentelle Herstellungsprozess der Edition, der sich für die Künstlerin zwingend vom Inhalt ableitete. Das Handschöpfen der schwarzen und weißen Papierbögen im Sieb nimmt nicht nur Bezug auf die Materialität der Schriftstücke, sondern ebenfalls auf das Wasser beim Foltern und evoziert dadurch die Vorstellung, dass das Werk gleichsam entgegengesetzt zum »Waterboarding« aus dem Wasser aufsteigt und sich sowie den Opfern Luft und Sichtbarkeit verschafft. Damit hat Jenny Holzer ein überaus starkes Bild erzeugt. BJÖRN EGGING GEGEN DEN STRICH UND DARÜBER HINAUS Zur Druckgrafik von Baselitz, Kirchner und Nitsch in der Stiftung und Sammlung Günther und Annemarie Gercken Hermann Nitsch Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters Mappe III, Kassette I 1984–1992 / Blatt 3 √ Detail (Kat. 48, S. 163)

140 Die Offenheit für die künstlerische Antwort auf verstörende Themen des menschlichen Daseins in der eigenen Gegenwart hat das Sammeln von Günther und Annemarie Gercken immer bestimmt. Aus den vielen Arbeiten in der Stiftung und Sammlung ragen drei druckgrafische Werkkomplexe von Georg Baselitz, Ernst Ludwig Kirchner und Hermann Nitsch in ihrem Umfang und ihrer Radikalität heraus, die hier näher vorgestellt werden. Die Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass für existenzielle Problemstellungen besonders überzeugende Bilder gefunden wurden. Diese sind in den klassischen Drucktechniken Radierung, Holzschnitt und Lithografie geschaffen und gelangen doch in ihrem innovativen und experimentellen Charakter über die medialen Grenzen hinaus. Es handelt sich um das 1989/90 entstandene Künstlerbuch und Radierwerk Malelade von Baselitz, mit dem der Künstler sein bildliches Vokabular grundlegend überprüfte, die Gruppe der berühmten frühen Schweizer Porträtholzschnitte Kirchners, die er während seiner tiefen persönlichen Krise 1917/18 geschaffen hat, und eine Mappe aus dem über acht Jahre erarbeiteten vierteiligen Lithografiewerk Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch, welches das aktionistische Gesamtkunstwerk des Künstlers und das Visionäre seiner Architekturentwürfe in einer kaum noch zu überblickenden Materialsteigerung zusammenfasst. Das Künstlerbuch Malelade gilt als eines der bedeutendsten druckgrafischen Werke von Georg Baselitz und reiht sich ein in die großen Künstlerbücher des 20. Jahrhunderts.3 Entstanden im Wesentlichen im Frühsommer 1989 und erschienen 1990 sowohl als gebundenes querformatiges Großfolio-Buch in einer Auflage von insgesamt 80 Exemplaren wie auch zusätzlich als Mappenwerk, umfasst es 41 Tafeln, die bis auf den Holzschnitt für das erste Blatt alle in Kaltnadeltechnik geschaffen wurden.4 Die Mehrzahl der Tafeln kombiniert Bild und Schrift, es gibt aber auch Bilder ohne Text und reine Textblätter. Wie der Text stammt ebenso der Titel Malelade von Baselitz und verweist als Schachtelwort auf »malen«, »malad« und »Lade« (Kat. 46, S. 121–137).5 Der Text und die Bilder scheinen insgesamt in einer eher losen oder gar rätselhaften Beziehung zueinander zu stehen. Während auf einigen Tafeln ein direktes, ja scheinbar illustratives Verhältnis zwischen beispielsweise der Darstellung eines Hundes und der Zeile »Hund sein« besteht (Kat. 46, S. 126/127), sind in anderen Fällen die Bezüge zwischen Bild und Wort nicht offenkundig. Der Text hat einen regressiven Charakter sowohl in seinem äußeren Erscheinungsbild als ungelenke Handschrift, die der Künstler gewissermaßen »gegen den Strich« spiegelbildlich in die Platte geritzt hat, als auch sprachlich und inhaltlich: Er ist bestimmt von einfachen Substantiven wie Meise, Hund, Schwein und Hase und von insgesamt einem schlichten Vokabular sowie einer rudimentären Grammatik und holprigen Syntax, die in der Schreibschrift und im Kontext insbesondere der Tiermotive an die Sprache von Kindern erinnert, worauf Baselitz selbst aufmerksam gemacht hat: »Texte, die vergleichbar wären mit meinen Bildern, habe ich ja eigentlich nur einen gemacht. Und das ist ›Malelade‹, und in dieser ›Malelade‹ habe ich eine Sprache gesprochen, ich habe sozusagen Gedichte gemacht, und ich glaube, für mich ist diese Sprache ganz weit unten, am Anfang, das ist eine Kindersprache, eine Idiotensprache.«6 Dabei fügen sich die einzelnen Worte und Sätze vom Anfang bis zum Ende durchaus zu einem gesamten Gedicht, das einen eigentümlichen Klang und Rhythmus besitzt. Baselitz’ Ausgangspunkt für das Künstlerbuch war eine mittelalterliche Handschrift, der Physiologus in der Fassung des Codex von Smyrna, der 1922 im griechisch-türkischen Krieg in Smyrna (heute Izmir) verbrannt ist. Der Physiologus erläuterte als Naturlehrbuch die Tier- und Pflanzenwelt im Sinne der christlichen Heilsgeschichte und fand bis ins 18. Jahrhundert in ganz Europa starke Verbreitung. So erklärt sich zunächst einmal die Gegenüberstellung von Bild und Begriff bei Baselitz. Für das bessere Verständnis dieses Georg Baselitz Malelade

141 quasi enzyklopädischen Ansatzes von Malelade muss man sich Baselitz’ damalige intensive Beschäftigung mit der Rolle und Bedeutung des Motivs oder Gegenstands in seiner Kunst vor Augen führen. 15 Jahre nachdem Baselitz begonnen hatte, seine Motive auf den Kopf zu stellen, womit er sich ganz auf den Malprozess und das Bildermachen konzentrieren wollte, reflektierte er in seiner Schrift Das Rüstzeug der Maler von 1985 wiederholt das Verhältnis von Außen- und Innenwelt beim Malen und bekräftigte die Meinung, dass das Motiv zweitrangig sei: »Kein Maler geht auf Motivsuche, das wäre paradox, denn das Motiv ist im Kopf des Malers, der Mechanismus, der denkt.«7 Die umfängliche Bilderfolge Das Motiv, die daraufhin 1988 entstand und sich aus insgesamt fast 200 Ölbildern, Zeichnungen und Pastellen zusammensetzt, kann als Zwischenbilanz dieser Überlegungen betrachtet werden, »als eine Art Schnittstelle, an der das bisher Erreichte kristallisiert Ausdruck findet und dabei zugleich neue bildnerische Perspektiven eröffnet«.8 Weder illustrieren die Figuren, Tiere, Stillleben und Landschaften der Gruppe eine Bildidee, noch stehen sie in einem erzählerischen Verhältnis zueinander, ebenso treffen sie keine außerbildliche Aussage, sondern erzeugen ihre bildliche Stärke und Berechtigung allein aus der Art und Weise ihrer Komposition als Kunstwerk. Auch das Künstlerbuch Malelade, für das Baselitz bei der Auswahl der Darstellungen bewusst auf den Fundus aus Das Motiv zurückgegriffen hat (Abb. 1), handelt nicht von Gegenständen, sondern von Bildern.9 Begünstigt wird diese Sichtweise auf die Mappe allein schon durch den druckgrafischen Herstellungsprozess, denn Baselitz hat sein Motiv nicht nur auf dem Kopf, sondern zudem seitenverkehrt zum Druckergebnis auf die Platte aufgebracht. Bei der Schrift kommt zur Spiegelbildlichkeit noch die Beeinträchtigung der Lesbarkeit durch die Kaltnadeltechnik hinzu, die durch den Widerstand der Metallplatte Schönschrift geradezu verhindert. Baselitz hat sich vielfach ausführlich über die künstlerischen Eigenschaften der Druckgrafik geäußert. Attribute wie kühl, Abb. 1 Georg Baselitz Ohne Titel, 1988 (5. VI. 88) aus der Serie Das Motiv / Pastell 770×590 mm Privatbesitz

142 sachlich und schematisch weisen sie für ihn aus als Instrument eines formalästhetischen Klärungsprozesses, den der Künstler immer dann anwendet, wenn er die Leidenschaft und Wildheit des zeichnerischen oder malerischen Impulses zu bändigen versucht und eine »zusätzliche Analyse«10 benötigt, die ihm die endgültige Fassung eines Bildes ohne Flüchtigkeit und Ungenauigkeit ermöglicht: »Die Druckgraphik dagegen benutzt ein klares, erarbeitetes Schema. Sie ist endgültiger und in ihrer spezifischen Weise distanzierter als Bilder und Zeichnungen.«11 Bezogen auf Malelade heißt das, dass die vermeintliche Einfachheit von Bild und Text zwar der »Unmittelbarkeit der Künstlergeste«12 im raschen zeichnerischen Zugriff der Kaltnadel geschuldet ist – und dies in stärkerem Maße als im Holzschnitt oder in der Lithografie –, dass aber zugleich die Tiefdrucke Distanz zur Zeichnung schaffen und als Bilder größter Verbindlichkeit gelten müssen, in denen Baselitz auf die Suche nach dem Ursprung künstlerischen Ausdrucks geht. In dieser künstlerischen Selbstvergewisserung als Fortsetzung und sogar Steigerung von dem, was Baselitz mit dem »Motiv« angestrebt hatte, geht der Künstler an den Anfang zurück, wie er selbst schreibt. Dieser Anfang lässt sich einerseits auf das elementare Verhältnis von Begriff und Bild beziehen, also auf eine semiotische Grundkonstellation, die bis zum Höhlengleichnis zurückreicht und Erkenntnisfragen stellt – Baselitz gibt mit der Motivumkehr darauf eine eindeutige Antwort. Andererseits sind sowohl der Physiologus, der jahrhundertelang Wissen und Bilder vermittelte, als auch der eigene biografische Umbruch nach 1945, der zugleich ein Endpunkt war, gemeint.13 Hier verschränken sich die Ereignisse um den Brand in Smyrna mit der Vernichtung des Codex und der Flucht vieler Menschen mit dem Ende von Krieg und Naziherrschaft und dem Verlust einer wie auch immer gearteten Heimat – dass die Entstehung des Künstlerbuchs in die Zeit der politischen Wende in der DDR fällt, kann als zusätzlicher Aspekt eines Kunstwerks für Zeiten des Neuanfangs betrachtet werden.14 Vor der Folie historischer Katastrophen und biografischer Brüche stellt Baselitz die Frage, welche Bilder überhaupt möglich sind. Bild und Text können sich hier assoziativ verstärken, bleiben dabei aber auch ganz autonom. So ist die legitime Präsentationsform von Malelade tatsächlich sowohl das Buch, das von vorn nach hinten geblättert und gelesen werden kann, als auch das Tableau zur Betrachtung aller Radierungen und Schriftbilder auf einmal, weil die aus der Vergangenheit aufsteigenden und bis in die Zukunft reichenden Bilder gerade in ihrer druckgrafischen Finalisierung eine universelle und radikale bildliche Gültigkeit besitzen. Die sechs großen Porträtholzschnitte Ernst Ludwig Kirchners in der Sammlung von Günther und Annemarie Gercken sind 1917/18 in der Schweiz entstanden, nachdem der schmerz- und rauschmittelabhängige Künstler auf Empfehlung des befreundeten Jenaer Philosophen Eberhard Grisebach im Januar 1917 nach Davos gekommen war, um sich dort im Sanatorium Schatzalp ärztlich versorgen zu lassen. Auf der Grundlage der bekannten Fakten zum Krankheitsbild der gelähmten Hände und Füße hat Günther Gercken als gelernter Mediziner und Biochemiker rückblickend eine jahrelange, durch Medikamentenmissbrauch verursachte »toxische Polyneuropathie« bei Kirchner erkannt.15 Kirchner reiste schon nach zwei Wochen aus Davos wieder ab, kehrte aber im Mai ins Sanatorium zurück, bevor er Mitte Juni in ein gemietetes Haus auf der Stafelalp bei Frauenkirch zog, wo er acht Wochen blieb. Auf Anraten von Henry van de Velde, den Kirchner im Juni in Davos kennengelernt hatte, begab er sich im September in die psychiatrische Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee und ließ sich dort bis Anfang Juli 1918 behandeln. Den Kopf Henry van de Velde, hell (Kat. 1, S. 13) schnitt Kirchner im Sommer 1917 gewissermaßen als Auftakt zum Aufenthalt in Kreuzlingen noch auf der Stafelalp, die vier Holzschnitte Kopf Karl Butz. – Oberpfleger Karl Butz, Alter Bauer. – Kopf Senn R., Bildnis Willem van Vloten und Kopf Ludwig Schames (Kat. 4, 5, 3, 7, S. 16–21) entstanden im Kreuzlinger Sanatorium, das Werk Vater Müller (Kat. 6, S. 20) kurz nach seiner Rückkehr von dort. Ernst Ludwig Kirchner Porträtholzschnitte von 1917/18

143 Kirchners Porträtholzschnitte von 1917/18, von denen die Mehrzahl in Kreuzlingen geschnitten wurde, zählen zu den eindrücklichsten druckgrafischen Menschendarstellungen Kirchners überhaupt.16 Schon Mitte der 1920er-Jahre hat Gustav Schiefler, der erste Herausgeber des Werkverzeichnisses der Druckgrafik Kirchners, die Werke als »Höhepunkt des Kirchnerschen Schaffens«17 gewertet, und Kirchner selbst hat bereits ein Jahr nach Vollendung hervorgehoben, wie unvergleichlich in diesen Holzschnitten »eine Stärke des Ausdruckes in eine Form gepresst«18 sei. Zunächst ist es überraschend, dass Kirchner als schwer kranker Mann zu dieser außergewöhnlichen künstlerischen Leistung imstande war, erst bei genauerer Betrachtung erscheint Kirchners eigener prekärer Gesundheitszustand geradezu als Voraussetzung für seine gesteigerte künstlerische Empfindsamkeit und hohe Ausdruckskraft, die sich in den Drucken niedergeschlagen haben.19 Der Sanatoriumsaufenthalt in Kreuzlingen war Höhe- und Endpunkt von Kirchners dramatischer Krankengeschichte während des Ersten Weltkriegs, die von der Angst des Künstlers beherrscht war, an die Front eingezogen zu werden. Schon wenige Wochen nach Antritt seines Militärdiensts bei einem Artillerieregiment in Halle (Saale) wurde Kirchner im September 1915 für längere Zeit als dienstuntauglich beurlaubt. In dieser ersten großen Krise entstanden das berühmte Selbstbildnis als Soldat, auf dem sich Kirchner nicht als Künstler, sondern alptraumhaft als handamputierten Kriegsinvaliden dargestellt hat (Abb. 2), und die Holzschnittfolge zu Adelbert Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In der Figur des Schlemihl, der seinen Schatten an den Teufel verkauft, erkannte sich Kirchner selbst, sodass die Illustrationen als Selbstporträts begriffen werden müssen, in denen sich der Künstler als das Opfer darstellt, das durch seine Kriegsangst den »Verlust der Eigenart«,20 also der eigenen seelischen Abb. 2 Ernst Ludwig Kirchner Selbstbildnis als Soldat 1915 / Öl auf Leinwand 69,2×60,9 cm Allen Memorial Art Museum, Oberlin/OH, USA

160 / KAT 48 / Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters, Mappe III Hermann Nitsch / 1984–1992 / 38 Lithografien

163

HORST ANTES GEORG BASELITZ WERNER BÜTTNER MONIKA GRZYMALA DAVID HOCKNEY JENNY HOLZER HUBERT KIECOL ANSELM KIEFER ERNST LUDWIG KIRCHNER GUSTAV KLUGE WILHELM LEHMBRUCK ROBERT MANGOLD EDVARD MUNCH CARSTEN NICOLAI HERMANN NITSCH A. R. PENCK TOMAS SCHMIT

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