Leseprobe

112 BILDSPRACHE Mit der Druckgrafik wollte Tàpies, wie viele seiner Zeitgenossen, ein größeres Publikum erreichen. Man bedenke, dass es damals noch keinen vernetzten internationalen Kunstmarkt gab. Dabei erscheinen viele Werke aus heutiger Sicht zunächst verschlüsselt, motivisch und bildnerisch schwer zugänglich. Sie sind das Ergebnis einer individuellen Zeichen- und Formensprache, die sich zudem nicht indexikalisch lesen lässt. Tàpies Sprache enthält Hieroglyphen, abstrakte Skripturen, Buchstaben, so die gern verwendeten Kürzel »A« oder »T« für den eigenen Namen oder den seiner Frau, die auch als Motive (zum Beispiel mittels einer Leiter) dargestellt sein können (Abb.46). Es enthält archaische Symbole wie das »X«, das auch von Joseph Beuys prägend verwendet wurde. Für Tàpies ist das »X« ein Urmotiv (Abb.48). Aus symbolistischer Sicht steht das Kreuz für die Synthese zwischen allem Materiellen (horizontal) und Spirituellen (vertikal). Doch bleibt sein Alphabet fragmentarisch, findet Ergänzung in der Vergegenwärtigung von körperlichen Spuren. So Umrisse von Armen, Augen, Ohren, Abdrücke von Füßen (Abb.49a) und Schuhen, die den abwesenden Körper an die Erde zu binden scheinen, oder Abdrücke von Händen, seit Beginn der Höhlenmalerei ein Ursymbol für die Vergegenwärtigung von Handschrift und ein eigenes »Ich«.4 Überhaupt war Tàpies, der in seinem Frühwerk von der Magie des Surrealismus und später vom spanisch-katholischen Mystizismus fasziniert gewesen ist, empfänglich für spirituelle Motivik. Aber auch historische oder tagespolitische Anklänge findet man in seinem grafischen Werk. Besonders oft sieht man die vier roten Streifen auf gelbem Hintergrund als Symbol der katalanischen Nationalflagge, der Senyera (Abb.49 b). Wenn man einer alten Legende glauben mag, war es Kaiser Karl der Kahle (823–877), der den Katalanen diese Farben schenkte. Er besuchte nämlich den getreuen katalanischen Graf Guifre de Pélos (Wilfried der Haarige) am Krankenlager, der im Kampf gegen die Normannen schwer verwundet worden war. Da dieser kein eigenes Wappen eines Adeligen trug, tauchte der Kaiser kurzerhand seine Finger in Guifres Blut und strich vier rote Streifen auf dessen goldenen Schild. Die quattre barres stehen noch heute für die katalanische Identität. Transparente Farbverläufe, malerische Gesten, zerrissenes Papier, Brillen, Kreuze, Scheren, Beine, Schriftzüge, arithmetische Zeichen, Additionen, nie ist Kunst Darstellung von etwas oder zeigt ein Objekt, das repräsentiert ist. Für Tàpies, der in allen Genres an die Grenzen ging, war die Grafik ein Vehikel dafür, die sich erst im Agieren formenden Inhalte und Ideen zu kommunizieren.

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