Leseprobe

Metablau und Gestautes Grün Schenkung Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas

2

Metablau und Gestautes Grün Herausgegeben von Frédéric Bußmann und Katrin Bielmeier Schenkung Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas Sandstein Verlag

Inhalt 7 C hristoph Thomas und Konstantin Thomas Dank- und Grußwort 9 Dagmar Ruscheinsky Grußwort 10 Frédéric Bußmann Vorwort 13 Katrin Bielmeier Die Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas Kunst als Geschehendes 89 Rainer Stamm »Freisein des Sehens« Die Entstehung der Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas und der Kunstmarkt in der Bundesrepublik Deutschland 107 S abine Maria Schmidt Antoni Tàpies Lyrische Plattenverschiebungen 134 Bibliografie 135 Bildnachweis 136 Impressum

Die Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas Katrin Bielmeier Kunst als Geschehendes

14 1, 2 Hans Robert und Brigitte Thomas

15 Kulturell-gesellschaftliches Engagement privater Sammler gegenüber öffentlichen Institutionen wie Museen kennzeichnet von Anfang an die Entstehung und kontinuierliche Weiterentwicklung der heutigen Grafischen Sammlung der Kunstsammlungen Chemnitz, die am 1.November 1923 als Graphikkabinett eröffnet wurde. Zahlreiche Ankäufe und Schenkungen ließen den Bestand in den vergangenen 100 Jahren stetig wachsen. Die jüngste umfangreiche Schenkung der Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas (Abb.1, 2) stellt einen weiteren Höhepunkt institutionellen grafischen Sammelns in Chemnitz dar. So kamen zum bisherigen Bestand von etwa 16 000 Druckgrafiken knapp 2 000 neue Blätter hinzu, die den musealen Sammelschwerpunkt der Kunst des 20.Jahrhunderts ergänzen. Vereint sind Arbeiten von knapp 200 Künstlern vorrangig bundesrepublikanischer sowie westeuropäischer und amerikanischer Herkunft, die Eingang in die Thomas’sche Sammlung fanden. Die Schenkung umfasst gut 200 Einzelblätter und 100 Mappenwerke verschiedener Künstlerpersönlichkeiten sowie 230 Einzelblätter und 37 Künstlerbücher beziehungsweise Mappenwerke des spanischen Künstlers Antoni Tàpies. Lediglich acht Arbeiten sind von Künstlerinnen überliefert und selbst diese lediglich im Zusammenhang gemeinschaftlich entstandener Mappenwerke wie etwa den Katalogen des Kölner Kunstmarkts. Mit der Übernahme der grafischen Sammlung der Familie Thomas halten einige international renommierte Namen Einzug in den Bestand, die bis dato nicht vorkamen und nun Sammlungslücken vor allem der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts schließen. Zu diesen Neuzugängen innerhalb der Kunstsammlungen Chemnitz zählen unter anderem Josef Albers, Hans Arp, Georges Braque (Abb.3, 4), Eduardo Chillida (Abb.5, 6), Giorgio de Chirico (Abb.7), Piero Dorazio, Friedrich Dürrenmatt, Max Ernst, Lucio Fontana, Alberto Giacometti, Juan Gris, Hans Hartung (Abb.8), Eugène Ionesco, Marino Marini, Robert Motherwell, Blinky Palermo, Josua Reichert, Georges Rouault, Hann Trier und Victor Vasarely. Von Günter Fruhtrunk befindet sich bereits ein Ölbild als Dauerleihgabe in Chemnitz, nunmehr ergänzen grafische Arbeiten des Künstlers den Bestand.

16 Den Mittelpunkt der Sammlung bildet das druckgrafische Schaffen des wichtigsten spanischen Malers, Grafikers und Bildhauers seiner Generation: Antoni Tàpies. Die hohe Zahl von insgesamt 820 übernommenen Blättern, Einzel- wie Mappenblättern, stellt etwa die Hälfte dessen grafischen Gesamtschaffens dar.1 Über 50 Jahre lang wurde die Sammlung Tàpies’scher Arbeiten beharrlich aufgebaut; erste Blätter stammen aus den späten 1940er Jahren, das letzte aus dem Jahr 1998. Allein in den 1970er Jahren verdeutlicht der Erwerb von 446 Blättern die Begeisterung des Sammlerpaares. Unberechenbar muss da noch die Schaffensausdauer des Künstlers gewesen sein. Neben der persönlichen Bekanntschaft übten wohl vor allem dessen konsequentes Experimentieren mit sämtlichen druckgrafischen Techniken, aber auch die Verrätselung der Welt in Gestalt wiederkehrender geheimnisvoller Zeichen, Symbole und Gegenstände des Alltags große Faszination aus. Tàpies brachte Material und Technik auf immer wieder neue, kreative Art und Weise zusammen und erreicht häufig Oberflächen auf dem Papier, die bei den Betrachtenden den Wunsch auslösen, die Arbeit nicht nur mit den Augen, sondern auch durch Berühren zu erforschen (Abb.9). Künstler und Sammlerpaar verband zudem die Zuneigung zu bibliophilen Bücher- und Mappenwerken. Die große Anzahl der übernommenen Blätter sowie der diesjährige 100.Geburtstag des katalanischen Künstlers sind für uns Anlass, Tàpies sowohl in der Ausstellung als auch im vorliegenden Katalog angemessen Platz einzuräumen und damit einhergehend weitere wichtige spanische Künstler wie Joan Miró und Eduardo Chillida zu berücksichtigen.

17 3 Georges Braque Ohne Titel aus der Mappe: L’ordre des oiseaux 1962 Farbradierung 33,8×46 cm / 43×54 cm Inv.-Nr. D 404/11 4 Georges Braque Ohne Titel aus der Mappe: L’ordre des oiseaux 1962 Farbradierung 32×46,5 cm / 43×53,5 cm Inv.-Nr. D 404/10

18 5 Eduardo Chillida Hommage à Heidegger 1970 Holzschnitt 13,8×17 cm / 21×17 cm Inv.-Nr. D 348

19 6 Eduardo Chillida Nitaz (Über mich) 1975 Radierung 107×121 cm / 160×121 cm Inv.-Nr. D 354

70 In den Jahren 1955 bis 1995 wurden wichtige Kataloge, Bücher und Mappen verschiedener Editionen der 1945 gegründeten Galerie Der Spiegel wie Geh durch den Spiegel, Spiegelschriften oder Edition Portofolio in die Sammlung eingegliedert, so von Max Ernst, HAP Grieshaber, E.W.Nay, Günter Fruhtrunk, Serge Poliakoff, Victor Vasarely (Abb.35) und Fritz Winter. In der Edition Portofolio beispielsweise erschien 1970 George Segals Folge Sleeping Girl (Abb.33) mit Farblithografien nach Pastellen, die im Jahr zuvor zusammen mit Plastiken in dieser Galerie zur Ausstellung gekommen waren. Die nicht zur Schenkung, aber zur Mappe gehörige Plastik Sleeping Woman kann dankenswerterweise als Leihgabe der Familie Thomas für die Dauer der Ausstellung ergänzend gezeigt werden. Ebenfalls im Verlag Galerie Der Spiegel erschienen 1966 Victor Vasarelys Mappe CTA 102 und 1970 Günther Fruhtrunks Farbbewegungen (Abb.36).22 Im selben Jahr kam eine druckgrafische Folge des Briten David Hockney in der Londoner Petersburg Press auf den Markt. Hockney hatte sich 1968 in Deutschland als Teilnehmer der documenta 4 vorgestellt und das europäische Festland bereist, um unter anderem die RheinLandschaften kennenzulernen. Diese fanden in seinem mit 39 Radierungen wohl umfangreichsten grafischen Zyklus Six Fairy Tales from the Brothers Grimm (Abb.34) Widerhall, der sich in erheiternder Art von jeder romantisch tradierten Märchenillustration abwendet.

71 35a–h Victor Vasarely CTA 102 1966 Mappe mit acht Farbserigrafien je 70,5×70,5 cm Inv.-Nr. D 608,1-8

74

75

76

77 36a– f Günter Fruhtrunk Farbbewegungen 1970 Mappe mit sechs Farbserigrafien je 68×93 cm bzw. 93×68 cm Inv.-Nr. D 412,1-6

»Freisein des Sehens« Rainer Stamm Die Entstehung der Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas und der Kunstmarkt in der Bundesrepublik Deutschland

90 In der frühen Bundesrepublik Deutschland war das Sammeln moderner Kunst ein Bekenntnis: Ein Bekenntnis zu dem Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit; ein Bekenntnis zu einem gewissen Wohlstand und Anteil an dem »Wirtschaftswunder« der 1950er Jahre; ein Bekenntnis zu dem Hunger nach geistigen Werten – über die geschaffenen Wirtschaftswerte unternehmerischer Erfolge hinaus; und – spätestens seit der zweiten documenta 1959 – ein Bekenntnis zu der jüngsten westlichen Kunstgeschichtsschreibung, die in der abstrakten Kunst den Höhe- und Kulminationspunkt der Kunst im freien Westen sehen wollte. Auf die Entstehung der Sammlung von Brigitte und Hans Robert Thomas treffen all diese Faktoren zu. Brigitte Thomas geborene Hueck stammte aus einer wohlhabenden Lüdenscheider Fabrikantenfamilie, in der es schon vor dem Zweiten Weltkrieg zum guten Ton gehörte, Musik und bildende Kunst zu fördern. So zählten ihre Eltern Gertrud und Eduard Hueck bereits in den 1920er Jahren zu den Förderern der Lüdenscheider Malerin Ida Gerhardi, von der sie sich auch porträtieren ließen. Hans Robert Thomas erinnerte Zeit seines Lebens jedoch gerne daran, dass er selbst als bescheidener Färbersohn aufgewachsen war, dem erst durch den Eintritt in die Firma der Schwiegereltern der unternehmerische Erfolg und die Mittel zuteilwurden, sich für die Förderung von Kunst und Musik zu engagieren: Das nach dem Krieg in Köln aufgenommene Instrumentalstudium im Fach Violoncello gab er auf, um 1951 die Geschäftsführung der Firma Hueck & Cie., später Hueck Folien, im oberpfälzischen Weiden zu übernehmen. Durch den Nachholbedarf der Wirtschaftswunderzeit an Tabak- und Süßwaren florierte die auf die Herstellung von Stanniol- und bedruckten Aluminiumfolien für Lebens- und Genussmittel spezialisierte Firma alsbald. Während die Unternehmer und westdeutschen Großsammler Bernhard Sprengel (1899–1985) und Peter Ludwig (1925–1996) durch die Produktion und den Vertrieb von Schokolade ihr Vermögen aufbauten, lieferte Hans Robert Thomas die Stanniolverpackungen zu. Gemeinsam war ihnen die Suche nach Erfüllung durch die Kunst. Durch den 1950 ebenfalls nach Weiden gekommenen Arzt und Künstler Friedrich Herlt (1914–2010) wurde das Ehepaar Thomas in den 1950er Jahren bei den Kunsthändlern Günther Franke in München und Hein und Eva Stünke in Köln eingeführt, die den Aufbau ihrer Sammlung entscheidend prägten.

91 41a Ernst Wilhelm Nay Oberon aus: Folge von zehn Farblithografien 1949 Farblithografie 53,5×33,5 cm / 60,8×45 cm Inv.-Nr. D 623/1

92 41b Ernst Wilhelm Nay Verwandlung der Io aus: Folge von zehn Farblithografien 1949 Farblithografie 36,5×57 cm / 45×61 cm Inv.-Nr. D 623/2

93 Günther Franke (1900–1976) war ein Kunsthändler alter Schule, der in der Weimarer Republik – zunächst in Berlin und dann in München – als Mitarbeiter des legendären Avantgarde-Galeristen Israel Ber Neumann gelernt hatte und mit den Künstlern der Klassischen Moderne bestens vertraut war: Ab 1923 leitete er das von Neumann gegründete Graphische Kabinett in München, und noch während des »Dritten Reichs« und nach der nationalsozialistischen Ausstellung Entartete Kunst, die die Moderne an den Pranger stellte, hatte er unbeirrt mit Werken der verfemten Künstler gehandelt. Für den mehr als 20 Jahre jüngeren Unternehmer Hans Robert Thomas wurde Franke zum Cicerone auf dem Weg zum Sammler moderner Kunst. Nicht zufällig widmete er der Erinnerung an den Galeristen und Freund einen der wenigen Texte, in denen er auch die Geschichte seiner eigenen Sammlung reflektiert: »In den fünfziger Jahren betrat man die Galerie Franke im ehemaligen Atelierbau der Stuckvilla durch eine hohe zweiflügelige Tür, die sich nach dem Klingeln geöffnet hatte. […] Den Vorraum hatte man in der Regel noch nicht durchschritten, da kam einem aus dem Durchgang zu dem großen Raum mit kurzen flachen Schritten, die Ellenbogen etwas angewinkelt nach hinten geschoben, den Kopf ein wenig nach vorn gebeugt, den Besucher ernst und prüfend anschauend, Günther Franke entgegen. […] Wenn man in den großen Ausstellungsraum kam, befand sich rechts unter einer eingezogenen Zwischendecke der Arbeitsraum von Günther Franke, in den man durch eine meist offenstehende Tür wie in eine Höhle eintrat. Dort traf man ihn zwischen Bildern, Vitrinen mit Kleinplastik, Bücherregalen, einer Couch und zwei Schreibtischen. […] An der Fensterwand standen die Schränke, in deren Schubladen sich ungeahnte Schätze befanden: Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen und graphische Blätter von Beckmann, Rohlfs, Klee, Nolde, Kirchner, Müller, Schmidt-Rottluff, Klee, Mataré, Kubin bis zu Baumeister, Nay, Winter, Werner, Uhlmann, Gilles, später König, Bohrmann und Peters, um nur einige Namen zu nennen.«1

Antoni Tàpies Sabine Maria Schmidt Lyrische Platten- verschiebungen

108 46 Antoni Tàpies L’échelle 1968 Farblithografie 143×105,5 cm Inv.-Nr. D 276

109 In den 1950er Jahren erlangte der spanische Künstler Antoni Tàpies internationale Würdigung, die mit einer Auszeichnung auf der Biennale in Venedig 1959 gipfelte. In gut zehn Jahren hatte Tàpies unterschiedlichste künstlerische Techniken für sich entdeckt und neue Typologien entwickelt. Darin gehörte er, vergleichbar mit Eduardo Chillida, zu den Meistern seines Faches und nach den Fixsternen Picasso, Miró und Dalí zur nächsten Generation spanischer Künstler, die Kunstgeschichte schrieben. Beide, der katalanische Maler Tàpies und der baskische Bildhauer Chillida, wurden zunächst im Kontext des Informel rezipiert. In der Nachkriegszeit repräsentierten sie zudem zwei wichtige nach Autonomie strebende Regionen, deren Traditionen und Sprache nach dem Bürgerkrieg durch die Diktatur Francos massiv unterdrückt wurde. Ab 1947 widmete sich Antoni Tàpies der Grafik. Nicht selten wurde er für druckgrafische Projekte eingeladen und konnte daher mit unterschiedlichsten Herausgebern und bewährten Druckern zusammenarbeiten. Die Experimentierfreude des Künstlers, der Einbezug unterschiedlicher Materialien und insbesondere die Schaffung von fast plastischen Materialflächen bedeuteten dabei eine besondere Herausforderung. Es gibt in dem umfassenden Werk des Künstlers kaum eine Drucktechnik, die nicht erprobt wurde: Es finden sich Gravur, Lithografie, Ätzung, Aquatinta, CarborundumRadierung,Weichfirnis, Beflockung, Collage und die Trockenprägung, die bei westlichen Künstlern noch nicht üblich war.1 Dabei kombinierte er meist verschiedene Techniken, veränderte die traditionellen Herangehensweisen, um einen neuen gestalterischen Gesamteindruck zu erreichen. Nur wenige Sammlungen dürften so umfangreiche Bestände des grafischen Werkes besitzen wie nun die Kunstsammlungen Chemnitz. Das Sammlerehepaar Thomas hat annähernd die Hälfte des gesamten druckgrafischen Werkes, wie es in den fünf Bänden des Werkverzeichnisses dokumentiert ist,2 mit 820 Blättern kontinuierlich3 zusammengetragen. Allein die von dem Künstler und seiner Frau Teresa 1990 eröffnete Stiftung in der Carrer d’Aragó in Barcelona enthält von jedem grafischen Werk mindestens ein Exemplar.

110 47 Antoni Tàpies La Grande Porte 1972 Farbradierung und Collage 90×68 cm Inv.-Nr. D 161

111 48 Antoni Tàpies Signes sobre porta 1988 Farbradierung mit Carborundum 200×100 cm Inv.-Nr. D 262

112 BILDSPRACHE Mit der Druckgrafik wollte Tàpies, wie viele seiner Zeitgenossen, ein größeres Publikum erreichen. Man bedenke, dass es damals noch keinen vernetzten internationalen Kunstmarkt gab. Dabei erscheinen viele Werke aus heutiger Sicht zunächst verschlüsselt, motivisch und bildnerisch schwer zugänglich. Sie sind das Ergebnis einer individuellen Zeichen- und Formensprache, die sich zudem nicht indexikalisch lesen lässt. Tàpies Sprache enthält Hieroglyphen, abstrakte Skripturen, Buchstaben, so die gern verwendeten Kürzel »A« oder »T« für den eigenen Namen oder den seiner Frau, die auch als Motive (zum Beispiel mittels einer Leiter) dargestellt sein können (Abb.46). Es enthält archaische Symbole wie das »X«, das auch von Joseph Beuys prägend verwendet wurde. Für Tàpies ist das »X« ein Urmotiv (Abb.48). Aus symbolistischer Sicht steht das Kreuz für die Synthese zwischen allem Materiellen (horizontal) und Spirituellen (vertikal). Doch bleibt sein Alphabet fragmentarisch, findet Ergänzung in der Vergegenwärtigung von körperlichen Spuren. So Umrisse von Armen, Augen, Ohren, Abdrücke von Füßen (Abb.49a) und Schuhen, die den abwesenden Körper an die Erde zu binden scheinen, oder Abdrücke von Händen, seit Beginn der Höhlenmalerei ein Ursymbol für die Vergegenwärtigung von Handschrift und ein eigenes »Ich«.4 Überhaupt war Tàpies, der in seinem Frühwerk von der Magie des Surrealismus und später vom spanisch-katholischen Mystizismus fasziniert gewesen ist, empfänglich für spirituelle Motivik. Aber auch historische oder tagespolitische Anklänge findet man in seinem grafischen Werk. Besonders oft sieht man die vier roten Streifen auf gelbem Hintergrund als Symbol der katalanischen Nationalflagge, der Senyera (Abb.49 b). Wenn man einer alten Legende glauben mag, war es Kaiser Karl der Kahle (823–877), der den Katalanen diese Farben schenkte. Er besuchte nämlich den getreuen katalanischen Graf Guifre de Pélos (Wilfried der Haarige) am Krankenlager, der im Kampf gegen die Normannen schwer verwundet worden war. Da dieser kein eigenes Wappen eines Adeligen trug, tauchte der Kaiser kurzerhand seine Finger in Guifres Blut und strich vier rote Streifen auf dessen goldenen Schild. Die quattre barres stehen noch heute für die katalanische Identität. Transparente Farbverläufe, malerische Gesten, zerrissenes Papier, Brillen, Kreuze, Scheren, Beine, Schriftzüge, arithmetische Zeichen, Additionen, nie ist Kunst Darstellung von etwas oder zeigt ein Objekt, das repräsentiert ist. Für Tàpies, der in allen Genres an die Grenzen ging, war die Grafik ein Vehikel dafür, die sich erst im Agieren formenden Inhalte und Ideen zu kommunizieren.

113 49b Antoni Tàpies Ohne Titel aus der Mappe: Suite Catalana 1972 Farbaquatinta 76,5×101 cm Inv.-Nr. D 299/1 49a Antoni Tàpies Ohne Titel aus der Mappe: Suite Catalana 1972 Farbaquatinta 76,5×101 cm Inv.-Nr. D 299/2

SAND ST E I N Metablau und Gestautes Grün zeigt eine repräsentative Auswahl der Grafiksammlung Brigitte und Hans Robert Thomas, die die Kunstsammlungen Chemnitz im Jahr 2020 erhielten. Als eine der umfangreichsten Schenkungen in der 100-jährigen Geschichte der Grafischen Sammlung der Kunstsammlungen Chemnitz mit knapp 2 000 Blättern veranschaulicht sie den druckgrafischen Kosmos moderner westlicher und amerikanischer Kunst des 20. Jahrhunderts. Präsentiert werden Lithografien, Radierungen, Serigrafien, Holzschnitte und Prägedrucke in Einzelblättern und Mappenwerken von Max Beckmann, Eduardo Chillida, Piero Dorazio, Friedrich Dürrenmatt, Günter Fruhtrunk, Joan Miró, Ernst Wilhelm Nay, Pablo Picasso, George Segal, Günther Uecker, Victor Vasarely, Andy Warhol und vielen anderen. Den Mittelpunkt der Sammlung bildet das druckgrafische Schaffen des Malers, Bildhauers und Grafikers Antoni Tàpies, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 100.Mal jährt. Die Fülle von insgesamt 820 übernommenen Blättern des spanischen Künstlers stellt etwa die Hälfte dessen druckgrafischen Gesamtschaffens dar, über das wohl kaum eine andere deutschsprachige Sammlung verfügen dürfte.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1