Leseprobe

302 302 noch, so schnell wie wir könnten, zu den Büschen zu rennen. Die ostdeutschen Grenzkontrolleure, die mit scharfer Munition bewaffnet seien, kämen für gewöhnlich alle zehn bis 20 Minuten vorbei. »Doch was dann ist, kann man nie wissen!«, sagte er noch, ehe er zwischen den Bäumen verschwand. Ich war mir sicher, dass sein Rat jeden Pfennig der 200 Mark wert war, die wir ihm gegeben hatten. Tatsächlich kam ein paar Minuten später eine Patrouille langsam am Rande des Waldes vorbei und passierte in nur zehn Metern Entfernung das Dickicht, in demwir warteten. Sobald sie außer Sichtweite war, rannten wir los. Unser Sprint in die Freiheit dauerte nicht länger als vielleicht eine halbe Minute. Wir rannten bis zu der Grenze, die, wie uns gesagt wurde, die Grenze zwischen zwei wichtigen Militärmächten war, die einst Verbündete in einem gemeinsamen Kampf waren und jetzt als Feinde gegeneinander antraten. Es gab kein Schild, das anzeigte, dass es die zerklüfteten Büsche und das kleine, kaum einen Meter breite Rinnsal waren, was die Freiheit von der Unterdrückung trennten. Und dass ein altes Holzbrett, das vielleicht gerade einmal 30 Zentimeter Breite maß, eigentlich eine Brücke zwischen zwei Feinden im Kalten Krieg war. Christine lief auf jeden Fall darüber, während ich die Freiheit mit einem einzigen großen Schritt erreichte und dabei laut »God save the King!« – »Gott schütze den König!« – rief, die passenden Worte, so dachte ich, um die britisch besetzte Zone zu betreten. Abgesehen davon waren es die wenigen Worte Englisch, die ich konnte. Wir schlugen uns per Anhalter bis nach Braunschweig durch, wo es, wie ich schon wusste, ein polnisches »Displaced Persons Camp«, ein Lager für Vertriebene, gab. Dieses Überbleibsel aus der unmittelbaren Nachkriegszeit war eine Durchgangsstation für polnische Zwangsarbeiter, die zurück nach Polen wollten. Doch nun, da der Krieg inzwischen bereits seit drei Jahren zu Ende war, hielten sich in dieser Einrichtung, die einst von der internationalen UN-Flüchtlingsorganisation geleitet worden war, nur noch eine Handvoll Menschen auf, die aus den verschiedensten Gründen nicht zurück in ihr Heimatland wollten. Der Leiter des Lagers sagte mir, er sei nicht länger befugt, polnische Flüchtlinge aufzunehmen, die aus Polen oder einem der sowjetisch besetzten Länder, zu denen auch Ostdeutschland gehörte, kämen. Um einen Flüchtlingsstatus zu bekommen, müssten wir uns bei einem polnischen Aufnahmelager in Quakenbrück melden, einer kleinen Stadt ungefähr 60 Kilometer östlich der holländischen Grenze. Ich erkundigte mich, warum

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