Leseprobe

252 252 Für die Russen war diese Verwüstung ein vertrauter Anblick: Sie hatten sie in Leningrad, Stalingrad, Charkiw, Kiew und so vielen anderen Städten und Dörfern gesehen, die die Invasoren in Trümmer gelegt hatten. Bei all der Zerstörung der Städte blieben aber doch in einigen Randgebieten, die teilweise oder sogar ganz vom Wüten des Krieges verschont geblieben waren, noch ein paar Zeugnisse der Kultur und Zivilisation bestehen. In verlassenen Häusern, Wohnungen und Höfen bestaunten die Russen Eistruhen und Kühlschränke, edle Möbel und feines Geschirr und bedienten sich fröhlich an allem von Wert, was die Eigentümer zurückgelassen hatten. Doch Bewunderung hatten die Russen nicht für das, was sie im Nachkriegsdeutschland vorfanden; stattdessen war da Neid und, um es schlicht und einfach zu sagen, die Genugtuung der Rache. Es stimmt, dass einige betrunkene Russen entsetzliche Vergewaltigungen verübten1 und dies ein Teil des Krieges war, so wie das Feuerlegen, wie Plünderungen oder der Tod durch Verhungern. Doch wenn es herauskam, wurde ein Vergewaltiger von seinen Vorgesetzten streng bestraft – oder so in etwa, post factum, wurde es der deutschen Bevölkerung zumindest vermittelt. Wie oft schon nachgewiesen wurde, waren es im Großen und Ganzen nicht die Fronttruppen, die diese Verbrechen begingen. Sie hatten solch schweren Gefechte erlebt, dass sie oft nur darauf aus waren, die Gewalt mit ihrem ganzen Blut und Blutvergießen so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Die Gewalttätigkeiten gingen hauptsächlich von den Truppen des zweiten Ranges aus, die als Reservisten das Glück gehabt hatten, das Blutvergießen nicht miterleben zu müssen. Es ist nicht so, dass ich für die sowjetischen Besatzer in Ostdeutschland Partei ergreifen möchte, doch in aller Fairness muss ich sagen, dass ich später viele Russen fast aller Dienstgrade traf, die anständige und ehrliche Menschen waren. Es stimmt, dass die meisten von ihnen nach ihrer eigenen Vorstellung von wildem Laisser-faire lebten. Mit einem Nicht-Russen wie mir sprachen sie nie über Politik. Und ja, sie liebten ihren Wodka, doch ich habe kaum jemals einen russischen Soldaten gesehen, der stockbetrunken umgekippt wäre; dabei aufrecht zu bleiben, war für sie offenbar Ehrensache. Sie brachten mir bei, den Wodka in ihrer Sto Gramm Einheit zu trinken (100 Gramm, entsprechend dem Inhalt eines durchschnittlichen Wasserglases), die sie mit nur einem einzigen Zug leerten. Man zog es sich in den offenen Rachen, so wie man aus einem Weinschlauch trinkt.

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