Leseprobe

 235 235 wurde aus ihr eine Kaserne für kaukasische, usbekische und kasachische Truppen gemacht – alle sowjetische Deserteure, die von den Deutschen aus lauter Verzweiflung gemustert worden waren, um einen allerletzten Widerstand gegen die Rote Armee zu leisten. Das Gebäude lag in Sichtweise der Ulichs und war nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt. Ich war in meinem Zimmer in Frau Heinichs Haus, als Franziska mit der Nachricht die Treppe heraufgestürzt kam, dass die Osttruppen weg seien und sich nun ziemlich viele Zivilisten, wahrscheinlich Bürger von Hellerau, in dem verlassenen Gebäude versammelt hätten. Sie lud mich ein, mit ihr mitzukommen, um zu gucken, was die Ausreißer möglicherweise zurückgelassen hätten, und so machten wir uns gleich auf den Weg. In dem Gebäude fanden wir eine unbeschreiblich chaotische und bizarre Szenerie vor. Der große zentrale Raum war fast ausschließlich gefüllt mit unüberschaubar großen Mengen Militärausrüstung deutscher Art, die nach Kategorien getrennt waren. Nichts davon war auf ordentliche Weise gestapelt, sondern offenbar in großer Hast auf Haufen geworfen worden, von denen manche über 1,80 Meter hoch waren. Sie bestanden aus Uniformjacken, Mänteln, Hosen und Unterwäsche, Gürteln und Rucksäcken, noch verpackten Gasmasken, Küchenutensilien, Schuhen, Socken, Schiffchen-Kappen und Barrett-Kappen, Drillich-Arbeitsanzügen, Stiefeln, Stahlhelmen – alles außer Waffen und Munition. Ganz offenbar waren die Osttruppen in Panik geflüchtet, höchstwahrscheinlich Richtung Westen. Vom zentralen Raum wegführend war die übliche Kasernenausstattung – eine große Küche und ein sehr großer Speiseraum, Waschräume, Toiletten, Duschen, ein paar Diensträume mit noch intakter Einrichtung (abgesehen von den offenen Türen der Safes) und große Wachbecken voll mit Asche, vermutlich von eiligst verbrannten Dokumenten. Überall – auf, inmitten und um dieses Chaos herum – kroch und kletterte eine Horde normalerweise stets so vornehmer Einwohner von Hellerau, die meisten von ihnen Frauen, aber auch ein paar Männer, die in den Sachen herumwühlten, welche aussuchten, anprobierten, wieder wegwarfen, sie anderen aus den Händen rissen und triumphierend aufschrien, fluchten, sich anschrien und so einen höllischen Krach veranstalteten. Franziska verschwand in die Küche, ich wollte mir den Berg Stiefel näher ansehen. Mein Schuhwerk, das mein ukrainischer Freund Yakiv vor so vielen Wochen für mich aufgetrieben hatte, hatte – so traurig das war – in seiner Brauchbarkeit aus-

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