Leseprobe

 87 87 Ich muss für vertrauenswürdig befunden worden sein, denn nach einer Stunde höflicher Plauderei sagte mir der Mann, ich sollte darauf vorbereitet sein, einige »entfernte Verwandte« zu empfangen, die bei mir über Nacht blieben, bevor sie weiter Richtung Westen reisten. Er gab mir ein paar Lebensmittelgutscheine, um Brot zu kaufen und was sonst noch erhältlich war, sodass ich ein bescheidenes Abendbrot und ein Frühstück am nächsten Morgen hätte. Danach sah ich ihn nur noch ein paar wenige Male, erinnere mich aber nicht an den jeweiligen Anlass dafür. Meine Suche nach Arbeit lastete mich während meiner ersten Tage in Dresden vollkommen aus, war jedoch eine Übung in Vergeblichkeit. Alles in der Industrie war gerade auf die Unterstützung der Kriegsanstrengungen ausgerichtet und überhaupt, ich hätte mich als völlig nutzlos erwiesen, hätte ich angefangen, in einem Restaurant zu arbeiten oder in einem Geschäft Waren zu verkaufen. Ich musste mich selbstverständlich auch an das Gesetz halten, demzufolge sich jeder neu Zugezogene bei der örtlichen Polizeidienststelle registrieren musste. Das tat ich und legte meine Geburtsurkunde als Dokument vor, musste jedoch schnell überlegen, als es beim Ausfüllen des Formulars dann um die Frage nach dem Beruf ging. Nach wenigen Sekunden Bedenkzeit und schlicht einem Impuls folgend, schrieb ich »freischaffender Künstler«, was zu meiner großen Erleichterung auf der Stelle und ohne jede Nachfrage akzeptiert wurde. Erst als ich die Polizeiwache verließ, merkte ich, wie angespannt ich während dieser ersten Begegnung mit den Behörden gewesen war. Meine Deutschkenntnisse waren jedoch nicht infrage gestellt worden, auf meine Geburtsurkunde wurde nur ein kurzer Blick geworfen, und so war ich nun ein rechtmäßiger Einwohner von Dresden und hatte als solcher Anspruch auf eine vollwertige Zuteilung von Lebensmittelgutscheinen. Die Stadt fand ich absolut bezaubernd. Selbst die vielleicht etwas schwerfällig erscheinenden Gebäude aus dem 19. Jahrhundert sahen gemütlich aus inmitten all des delikaten barocken Charmes der verschiedenen Palais und anderer Bauten, die noch aus der Zeit der Herrschaft Augusts des Starken stammten, der, wie ich wusste, nicht nur Sachsen regiert hatte (mit Dresden als Hauptstadt), sondern auch gewählter König Polens gewesen war. August hatte den Thron durch seinen Übertritt vom Protestantismus zum Katholizismus – der vorherrschenden Religion in Polen – erobert. Er hatte die bis dahin gesunde polnische Wirtschaft

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