Leseprobe

 85 85 – in einigen offensichtlich billige Mietwohnungen, in anderen ein paar eher schmuddelige Kneipen. All das verkörperte Armut inmitten einer schönen Stadt, die reich an Geschichte, Kultur und Tradition war. Als ich jedoch zur Adresse meines Kontakts gelangte, fand ich die alten, knarrenden Treppen, die ins obere Geschoss führten, säuberlich gescheuert vor. Die zwei winzigen Mansardenzimmerchen des Mannes waren auf angenehme Art makellos, mit Gazevorhängen und Kapuzinerkresse am Fenster. Ich stellte mich ihm auf Deutsch vor, aber als ich ihm meine Papiere zeigte – nur die rechtmäßigen – antwortete mir der Mann auf Polnisch, was wir dann auch die übrige Zeit sprachen. Er beherrschte die Sprache fließend, jedoch mit einer beinahe unmerklichen Spur deutschen Tonfalls. Ich sagte ihm, dass ich aus Poznań gekommen war, ummich in Dresden niederzulassen und zu arbeiten, aber Zeneks strengem Rat folgend, erwähnte ich weder Namen noch sonst irgendetwas über den wahren Zweck meiner Anwesenheit in der Stadt und stellte auch meinem Gastgeber keine Fragen. Noch heute muss ich innerlich schmunzeln, wenn ich an das Gesprächsmenuett denke, welches wir beide aufführten, während der Mann meine Glaubwürdigkeit auf die Probe stellte. Nach und nach wurde unsere Unterhaltung persönlicher. Ich erzählte ihm eine (naturgemäß) kurze Geschichte über meinen Hintergrund; er erzählte mir etwas von sich, jedoch streiften wir zu keinem Zeitpunkt das Thema Widerstandsbewegung. Er war bei der Reichsbahn angestellt und in Westfalen als Kind polnischer Eltern zur Welt gekommen. Sein Vater hatte den deutsch besetzten Teil Polens gegen Ende der 1800er Jahre verlassen, um in Deutschland Arbeit als Grubenarbeiter zu finden. Er hatte im Ersten Weltkrieg sogar in der Deutschen Armee gedient. Nichtsdestotrotz hatte er seinen beiden Kindern beigebracht, Polnisch zu sprechen und zu schreiben, sodass die Familie die Verbindung zu ihren Wurzeln lebendig gehalten hat, obwohl umgeben von deutscher Sprache und Kultur. Ich wusste bereits, dass die deutsche Reichsbahn hunderte ehemaliger polnischer Eisenbahner anstellen musste, hauptsächlich Lokomotivführer und Heizer, um vorübergehend deutsches Personal zu ersetzen, das von der Wehrmacht eingezogen worden war. Früher hatte mein Gastgeber in irgendeinem obskuren Reichsbahnbüro gearbeitet, aber jetzt war er als Übersetzer für die deutsche Eisenbahnverwaltung und die polnischen Maschinisten und Triebwerkmechaniker, die eingezogen waren, um für das Eisenbahnwesen zu arbeiten, angestellt.

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