Leseprobe

Widerstand aus dem Inneren des Dritten Reichs Jan Kamieński

Widerstand aus dem Inneren des Dritten Reichs Jan Kamieński

6 Vorwort des ehrenwerten Edward R. Schreyer 8 Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wolfgang Howald 10 Geleitwort von Dr. Markus Pieper Teil 1 IN POLEN 14 Die Anfänge 20 Bombardierung und Evakuierung 34 Abruptes Ende 42 Die deutsche Besatzung 61 Kurierdienst und kleine Sabotageakte 71 Der Auftrag TEIL 2 IM DRITTEN REICH 84 Erste Schritte in Dresden 99 Die Anfänge meiner Arbeit für den Widerstand 112 Nochmal davongekommen und ein neuer Reisepass 122 Gezeitenwende 135 Der erstickende Moloch TEIL 3 »AUSBAU VON VERSCHANZUNGS- ANLAGEN« 152 Zwangsarbeit 163 Flucht und Gefangennahme 174 Wieder eine Flucht 182 Rückkehr nach Dresden 12 82 150

TEIL 4 DAS REICH BRICHT ZUSAMMEN 194 Warten auf das Ende 202 Hades 216 Nachwehen 227 Intermezzo 234 Die letzten Tage TEIL 5 DIE RUSSISCHE BESATZUNG 250 Neubeginn 262 Die Trophäen-Brigade 271 Verheerende Nachrichten 279 Kunst für die Russen 292 Gefälschte Kunst TEIL 6 IN DEN WESTEN 300 Flucht in die Freiheit 305 »Überprüfung« 315 Abschied von Europa 325 Über den Autor 328 Impressum 192 248 298

Teil 1 Teil 1

14 14 DDie Vergangenheit ist nichts weiter als der Anfang eines Anfangs, sagt H. G. Wells, und nun, mit weit über 80 Jahren, blicke ich zurück auf meine Vergangenheit, um herauszufinden, wo dieser Anfang eigentlich genau anfing. Nicht in der Kindheit, dessen bin ich mir sicher, denn dies sind meist Jahre, in denen wir uns auf die Zukunft vorbereiten und vorbereitet werden. Manchmal verläuft diese Übergangszeit glatt, manchmal jedoch werden wir auch durch plötzliche äußere Ereignisse, mit denen wir gar nicht gerechnet hatten, ins Erwachsensein hineingestoßen. Meine eigene Kindheit war im Großen und Ganzen recht schön. An und für sich war das auch nicht weiter bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass ich ein Einzelkind war und als solches sehr behutsam behandelt wurde. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich verwöhnt. Ich werde diese Jahre überspringen, auch wenn diese Zeit und die Umgebung, in der ich aufwuchs, mein leichtes und unkompliziertes Hinübergleiten ins Erwachsenenalter geprägt haben. In jener Umgebung war die Musik von herausragender Bedeutung. Mein Vater war Komponist, ein renommierter Forscher und Sammler polnischer Volksmusik und Folklore, Professor für Musikwissenschaft und später Dekan der Philosophischen Fakultät an der Universität in Poznań. Meine Mutter war Konzertsängerin und Gesangslehrerin. Natürlich nahmen sie aktiv am kulturellen Leben der Stadt teil, und bei uns zuhause gingen nicht nur andere Musiker und Musikerinnen ein und aus, sondern auch Schriftsteller, Künstler und sogar Politiker, die an den literarischen und musikalischen Abendveranstaltungen teilnahmen, die meine Mutter regelmäßig am Donnerstag anbot. Dies war das Milieu, in dem ich aufwuchs und das meine Haltung gegenüber der Welt in den entscheidenden Jahren prägte. Wir reisten regelmäßig. Selbst jetzt, im fortgeschrittenen Alter, habe ich immer noch viele Erinnerungen daran, wie ich als Sechsjähriger am adriatischen Strand von Dubrovnik spielte, wie Die Anfänge

 15 15 ich mit acht Schloss Schönbrunn in der Nähe von Wien besichtigte und wie ich mich vom gespenstischen Inneren der enormen Burgruinen hoch oben auf der Donauebene über Bratislava einschüchtern ließ. Ungefähr im Alter von zehn Jahren war mir bewusst, dass mein Leben einen vorbestimmten Lauf nehmen würde, der sich an den allgemeinen Gebräuchen und an der Familientradition ausrichtete. Nachdem ich die Oberschule abgeschlossen hatte, würde ich eine sehr strenge Abschlussprüfung namens Matura ablegen, schriebe mich an der Kadettenschule ein und stiege von dort weiter zur Offiziersschule auf, wo ich mich entscheiden könnte, welcher Dienstzweig mir am meisten zusagte (zumindest wurde uns das so vermittelt). Nachdem ich den Junior-Rang eines Unterleutnants erreicht hatte, würde ich ins zivile Leben zurück entlassen, jedoch natürlich als Reservist. Mit diesem Status wäre es mir möglich, mich an der Universität einzuschreiben, ummein Lieblingsfach Geschichte zu studieren, nicht, ohne dabei an eine zukünftige akademische Karriere zu denken. Natürlich ist nichts davon eingetreten. Ich war noch ein Teenager, als mir ein Klassenkamerad, ein Junge namens Henryk Komorowski (oder hieß er doch Komierowski?) von einer politisch aktiven Jugendgruppe erzählte, der er angehörte, und mich fragte, ob ich nicht mal zu einem der Treffen mitkommen wolle – nicht direkt, umMitglied zu werden, sondern einfach nur so, um die Diskussion zu verfolgen. Zu der Zeit hatte ich durch Radiohören und Zeitunglesen bereits angefangen, mich sehr für Politik zu interessieren. Ich hatte die italienische Invasion in Äthiopien mitverfolgt sowie den mörderischen spanischen Bürgerkrieg, und die Gefahr, die von Hitlers Deutschland für Polen ausging, war mir äußerst bewusst. Auch die Innenpolitik meines Landes übte einen gewissen Reiz auf mich aus. An einem Tag im Mai 1938 trafen Henryk und ich uns in einem kleinen Raum im Keller eines großen Wohngebäudes in der Łąkowa Straße in einem der ärmeren Mittelschichtsbezirke von Poznań. Der Raumwar voll, obwohl wir nur zu sechst waren. Der Gastgeber war ein junger Mann namens Zenek, ein Student am Polytechnikum, der auch der Anführer und Sprecher der Gruppe war. Ich wurde vorgestellt und schüttelte jedem die Hand. Dann setzte ich mich in eine Ecke und verfolgte das Geschehen. Es war alles recht simpel. Zenek sprach von der Innenpolitik und wie sich diese auf Polens Ansehen auf der internationalen Bühne auswirke. Ich kann natürlich nicht wortwörtlich alles

16 16 wiedergeben, was in der kleinen Gruppe besprochen wurde, aber ich erinnere mich klar und deutlich an den allgemeinen Tenor seiner Kommentare und spekulativen Grübeleien. Nach Deutschlands Einmarsch in Österreich früher im Jahr, so sagte er, seien die Sudetendeutschen nun widerspenstig geworden und forderten eine Abspaltung von der Tschechoslowakei, um sich Hitlers Deutschland anschließen zu können. Dies könne zu weiteren Gebietsansprüchen Hitlers führen und möglicherweise in einem bewaffneten Konflikt enden, der auf die ein oder andere Art auch Polen betreffen würde. Er sprach nicht von einer Parteidoktrin, aber schließlich wurde mir klar, dass diese Doktrin sicherlich leicht rechtsgerichtet und äußerst katholisch ausgefallen wäre. Spätere Treffen, an denen ich als Mitglied der Gruppe teilnahm, ließen mich schließlich erkennen, dass die politische Bewegung, zu der wir uns hingezogen fühlten, den Namen Stronnictwo Narodowe (Nationale Partei) trug. Sie lehnte das herrschende Regime in Warschau ab und war entschieden anti-deutsch. Bald fing das ganze Theoretisieren und Politisieren jedoch an, mich zu langweilen. Ich suchte nach etwas Aufregenderem als nach bloßem Gerede. Diese Aufregung kam dann früh genug, gegen Ende September, Anfang Oktober 1938, als Zeneks Vorhersage über die Annektierung des Sudetenlandes durch Deutschland wahr wurde. Polen bekam sein Stück vom Kuchen, indem es die ethnisch-polnischen Gebiete des Teschener Schlesiens wieder besetzte, die die Tschechoslowakei Polen entrissen hatte, während dieses 1920 verzweifelt gegen die Sowjetische Invasion kämpfte. Jetzt wurde in der Innenstadt von Poznań ein Informationsbüro eröffnet, noch bevor polnische Truppen dieses Gebiet zurückgewonnen hatten. Vermutlich taten sie dies, damit die Öffentlichkeit hinter der Entscheidung der Regierung stand, einem militärischen Vorstoß der Deutschen im besagten Gebiet zuvorzukommen. Von patriotischem Enthusiasmus inspiriert, versuchten ein Klassenkamerad und ich, beide erst 15 Jahre alt, uns den Streitkräften anzuschließen und an der Militäroperation teilzunehmen. Wir wurden jedoch auf höfliche Art gebeten, brave Jungs zu sein und wieder zurück zur Schule zu gehen. Weite Teile Europas waren zu der Zeit durch ein Netz militärischer Abkommen und Versprechen gegenseitiger Hilfe miteinander verbunden. Ein französisch-polnisches Bündnis reichte zurück bis 1921. Polen und Rumänien hatten in den Jahren 1921 und 1926 ähnliche Abkommen unterzeichnet, und eine britische Zusage über militärische Hilfe für Polen wurde am 31. März 1939 ratifiziert. Nicht-Angriffspakte zwischen Polen und

 17 17 seinen unmittelbaren Nachbarn, der Sowjetunion und Deutschland, waren jeweils 1932 und 1934 unterzeichnet worden, aber als Hitler letzteren im März 1939 für »null und nichtig« erklärte, glaubten die meisten der 36 Millionen Einwohner Polens noch naiv an die Macht und an die Fähigkeiten ihrer anderen Verbündeten bei der Niederschlagung der Wehrmacht. Sehr bald schon wurde uns klar, dass diese Bündnisse nichts weiter als ein Stück Papier waren, aber im Frühling 1939 marschierten wir noch stolz, patriotische Lieder singend, und schwenkten unsere rot-weißen Flaggen, um den Botschaften und Konsulaten unserer Verbündeten zuzujubeln. Unser Kampfgeist und unsere Bereitschaft, für unser Land zu kämpfen, waren stark Mit meinen Eltern im Mai 1929. Das Bild hat mein Onkel Czesław gemacht, der aus Kanada kam, um Poznań zu besuchen.

18 18 und unerschütterlich. Jung und ungeduldig wie wir waren, hatten wir der Nachricht, dass in den Straßen von Paris und überall in Frankreich derzeit der Slogan »Mourir pour Dantzig? Jamais!« (»Für Danzig sterben? Niemals!«) die Runde machte, kaum Beachtung geschenkt. Hitlers Außerkraftsetzen des polnisch-deutschen Nichtangriffspakts verschärfte die bereits bestehenden Spannungen zwischen den beiden Ländern, und nun fing Deutschland an, gegenüber seinem Nachbarn Gebietsansprüche geltend zu machen. Wie nicht anders zu erwarten war, wies die polnische Regierung diese zurück, und unsere Streitkräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Ein schöner, wenn auch angespannter Sommer folgte, Zenek verschwand von der Bildfläche. Ich nahm an, dass er als Reservist wieder in seine Einheit zurückbeordert worden war, was sich in der Folge als richtig erwies. Ich verbrachte zwei Wochen meiner Sommerferien in Turew (von mir »Turwia« genannt) auf einem Anwesen, wo ich bereits viele glückliche Sommer erlebt hatte. Es gehörte einer sehr entfernten Verwandten unserer angeheirateten Familie, Mme. Thecla Chłapowska, die ich »Tante Uja« nannte, und bestand aus einem Landsitz umgeben von einem riesigen Park und ca. 50 000 Hektar wunderschönem, fruchtbaren Grundbesitz. Zurück in Poznań reiste ich mit meinen Eltern in den kleinen Sommerurlaubsort Borsk, der zwischen den Ufern des großen Wdzydze Sees und einem zauberhaften Kiefernwald im sogenannten Polnischen Korridor gelegen war, der Deutschland von Ostpreußen trennte. Die Anlage mit ihrem halben Dutzend kleinen Gästehäusern und dem etwas größeren Gebäude, das einen Gemeinschaftsspeiseraum und das Quartier des Eigentümers beherbergte, gehörte Kazimierz Jasnoch, einem bekannten Porträtkünstler, dessen Frau Halszka Sängerin war und eine der Gesangsschülerinnen meiner Mutter. Mitte August verhandelten Deutschland und die Sowjetunion über einen Nichtangriffspakt, und Gerüchte über einen drohenden Krieg verbreiteten sich von Tag zu Tag mehr. Die Stimmung der wenigen, am Abendbrottisch anwesenden Urlauber schwankte zwischen schwermütiger Nachdenklichkeit und sorgloser Furchtlosigkeit, obwohl merkwürdige Dinge vor sich gingen. Kleine Flugzeuge, offensichtlich ziviler Art, flogen regelmäßig und häufig von Westen nach Osten und zurück, manchmal kreisten sie auch über uns. Einige der Urlaubsgäste sagten: »Ach ja, da sind unsere polnischen Flugzeuge – die überwachen unseren Luftraum!« Darauf antwortete Herr Jasnoch, der über solche Dinge dank seiner Zeit beim

 19 19 Militär, während der es 1918 auch zu einem Aufstand gegen die Deutschen kam, Bescheid wusste: »Machen Sie sich doch nichts vor! Das sind deutsche Aufklärungsflugzeuge, die uns ausspionieren und von da oben Luftaufnahmen von unseren Straßen und Brücken machen!« Die anderen erwiderten darauf: »Das ist doch Blödsinn!«, und die allgemeine Einschätzung war, dass bei einem tatsächlichen Kriegsausbruch die Deutschen von uns eine solche Tracht Prügel bekommen würden, dass sie sie niemals wieder vergessen würden. Die Mobilisierung war in vollem Gang. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde am 23. August unterzeichnet, unter allgemeinem Unbehagen. Im Radio und in den Printmedien war man jedoch verhalten optimistisch. Meine Mutter meinte dazu immer wieder: »Wir schießen auch nicht mit Erbsen!« Es war das »wir« in ihrer Aussage, das mir Aufschluss über die Art von Verbundenheit gab, die sie als in Deutschland Geborene und Aufgewachsene nun zu unserem Land hatte, ein Land, das sie jetzt als das ihre betrachtete. Mein Vater war, glaube ich, nicht ganz so optimistisch was den Ausgang eines Krieges betraf. Gegen Ende August kehrten wir nach Poznań zurück. Die Anspannung war unerträglich geworden. Die LOPP (Der Bund zum Schutz vor Kriegsführung aus der Luft und mittels Giftgas) verteilte Gasmasken. Militärbarracken standen leer, die Truppen waren zu ihren Stellungen beordert worden. Ominöserweise wurde am 29. August angeordnet, dass alle Schulen, die üblicherweise am 3. September ihre Tore öffneten, für unbestimmte Zeit weiter geschlossen blieben. Zusätzlich zu dieser Ankündigung versicherten die Tageszeitungen den Bürgern auf entschiedene Art, dass sie sich der Standfestigkeit unseres Land gegen jedweden Feind sicher sein könnten. Wenn ich zurückdenke, habe ich noch immer den begeisterten Slogan der Regierung im Ohr: »SILNI! ZWARCI! GOTOWI!« – ein klares Bekenntnis dazu, dass wir »STARK! VEREINT! BEREIT!« waren. Nach unserer Niederlage wurde dieser Slogan zu einem typisch polnischen, höhnischen Urteil über die tragische Vergangenheit. Wir gingen also nicht zur Schule und spielten einen Tag lang oder so Fußball, glücklich aus Unwissenheit, was uns in der unmittelbaren Zukunft erwartete.

84 84 Ich kam in Berlin am Schlesischen Bahnhof an und bahnte mir den Weg zum Anhalter Bahnhof, von wo aus ich einen Zug nahm, der am nächsten Morgen Dresden erreichte. Das Wohnhaus an der König-Albert-Straße, in dem Tadek Beutlich ein Zimmer gemietet hatte, war nicht schwer zu finden. Aus irgendwelchen Gründen hatte Zenek allerdings nicht gewollt, dass ich Tadek über mein Kommen vorab benachrichtigte, sodass ich nun nicht sicher war, wie mein alter Kumpel mich empfangen würde. Ich hätte mir jedoch keine Sorgen machen müssen. Seine Vermieterin öffnete die Tür. Ich stellte mich vor und bat sie, mich Herrn Beutlich anzukündigen, was sie auch tat – und plötzlich stand Tadek da, noch im Schlafanzug, mit einem fetten Grinsen im Gesicht. Er hieß mich mit offenen Armen willkommen und stellte auch gleich die nachvollziehbare Frage, was mich nach Dresden führte. Genauso nachvollziehbar war, dass ich ihm den wirklichen Grund nicht sagen konnte. Ich hatte aber sogleich eine gute Antwort parat. Ich sagte ihm, ich wolle der deutschen Einzugsbehörde in Poznań entgehen und hoffte, den Krieg in Dresden aussitzen zu können. Er schmunzelte und sagte, dass das Studium in der Akademie auch ihm die Gelegenheit gebe, sich von der Wehrmacht fernzuhalten. Er war damit einverstanden, sein Zimmer mit mir zu teilen, bis ich eine vernünftige Arbeit und eine eigene Unterkunft gefunden hatte. Ungefähr ein oder zwei Tage nach meinem Einzug bei Tadek ging ich zu der Adresse, die Zenek mir bei unserem letzten Treffen gegeben hatte. Die Kanalgasse, die in der Nähe des Postplatzes in der Innenstadt lag, war eine kurze, schmale Gasse mit schmalen Häusern, die meisten ziemlich vernachlässigt und alt Erste Schritte in Dresden

 85 85 – in einigen offensichtlich billige Mietwohnungen, in anderen ein paar eher schmuddelige Kneipen. All das verkörperte Armut inmitten einer schönen Stadt, die reich an Geschichte, Kultur und Tradition war. Als ich jedoch zur Adresse meines Kontakts gelangte, fand ich die alten, knarrenden Treppen, die ins obere Geschoss führten, säuberlich gescheuert vor. Die zwei winzigen Mansardenzimmerchen des Mannes waren auf angenehme Art makellos, mit Gazevorhängen und Kapuzinerkresse am Fenster. Ich stellte mich ihm auf Deutsch vor, aber als ich ihm meine Papiere zeigte – nur die rechtmäßigen – antwortete mir der Mann auf Polnisch, was wir dann auch die übrige Zeit sprachen. Er beherrschte die Sprache fließend, jedoch mit einer beinahe unmerklichen Spur deutschen Tonfalls. Ich sagte ihm, dass ich aus Poznań gekommen war, ummich in Dresden niederzulassen und zu arbeiten, aber Zeneks strengem Rat folgend, erwähnte ich weder Namen noch sonst irgendetwas über den wahren Zweck meiner Anwesenheit in der Stadt und stellte auch meinem Gastgeber keine Fragen. Noch heute muss ich innerlich schmunzeln, wenn ich an das Gesprächsmenuett denke, welches wir beide aufführten, während der Mann meine Glaubwürdigkeit auf die Probe stellte. Nach und nach wurde unsere Unterhaltung persönlicher. Ich erzählte ihm eine (naturgemäß) kurze Geschichte über meinen Hintergrund; er erzählte mir etwas von sich, jedoch streiften wir zu keinem Zeitpunkt das Thema Widerstandsbewegung. Er war bei der Reichsbahn angestellt und in Westfalen als Kind polnischer Eltern zur Welt gekommen. Sein Vater hatte den deutsch besetzten Teil Polens gegen Ende der 1800er Jahre verlassen, um in Deutschland Arbeit als Grubenarbeiter zu finden. Er hatte im Ersten Weltkrieg sogar in der Deutschen Armee gedient. Nichtsdestotrotz hatte er seinen beiden Kindern beigebracht, Polnisch zu sprechen und zu schreiben, sodass die Familie die Verbindung zu ihren Wurzeln lebendig gehalten hat, obwohl umgeben von deutscher Sprache und Kultur. Ich wusste bereits, dass die deutsche Reichsbahn hunderte ehemaliger polnischer Eisenbahner anstellen musste, hauptsächlich Lokomotivführer und Heizer, um vorübergehend deutsches Personal zu ersetzen, das von der Wehrmacht eingezogen worden war. Früher hatte mein Gastgeber in irgendeinem obskuren Reichsbahnbüro gearbeitet, aber jetzt war er als Übersetzer für die deutsche Eisenbahnverwaltung und die polnischen Maschinisten und Triebwerkmechaniker, die eingezogen waren, um für das Eisenbahnwesen zu arbeiten, angestellt.

86 86 Hier bin ich mit Tadek Beutlich (rechts) im Oktober 1941 auf der Brühlschen Terrasse vor der Dresdner Kunstakademie zu sehen.

 87 87 Ich muss für vertrauenswürdig befunden worden sein, denn nach einer Stunde höflicher Plauderei sagte mir der Mann, ich sollte darauf vorbereitet sein, einige »entfernte Verwandte« zu empfangen, die bei mir über Nacht blieben, bevor sie weiter Richtung Westen reisten. Er gab mir ein paar Lebensmittelgutscheine, um Brot zu kaufen und was sonst noch erhältlich war, sodass ich ein bescheidenes Abendbrot und ein Frühstück am nächsten Morgen hätte. Danach sah ich ihn nur noch ein paar wenige Male, erinnere mich aber nicht an den jeweiligen Anlass dafür. Meine Suche nach Arbeit lastete mich während meiner ersten Tage in Dresden vollkommen aus, war jedoch eine Übung in Vergeblichkeit. Alles in der Industrie war gerade auf die Unterstützung der Kriegsanstrengungen ausgerichtet und überhaupt, ich hätte mich als völlig nutzlos erwiesen, hätte ich angefangen, in einem Restaurant zu arbeiten oder in einem Geschäft Waren zu verkaufen. Ich musste mich selbstverständlich auch an das Gesetz halten, demzufolge sich jeder neu Zugezogene bei der örtlichen Polizeidienststelle registrieren musste. Das tat ich und legte meine Geburtsurkunde als Dokument vor, musste jedoch schnell überlegen, als es beim Ausfüllen des Formulars dann um die Frage nach dem Beruf ging. Nach wenigen Sekunden Bedenkzeit und schlicht einem Impuls folgend, schrieb ich »freischaffender Künstler«, was zu meiner großen Erleichterung auf der Stelle und ohne jede Nachfrage akzeptiert wurde. Erst als ich die Polizeiwache verließ, merkte ich, wie angespannt ich während dieser ersten Begegnung mit den Behörden gewesen war. Meine Deutschkenntnisse waren jedoch nicht infrage gestellt worden, auf meine Geburtsurkunde wurde nur ein kurzer Blick geworfen, und so war ich nun ein rechtmäßiger Einwohner von Dresden und hatte als solcher Anspruch auf eine vollwertige Zuteilung von Lebensmittelgutscheinen. Die Stadt fand ich absolut bezaubernd. Selbst die vielleicht etwas schwerfällig erscheinenden Gebäude aus dem 19. Jahrhundert sahen gemütlich aus inmitten all des delikaten barocken Charmes der verschiedenen Palais und anderer Bauten, die noch aus der Zeit der Herrschaft Augusts des Starken stammten, der, wie ich wusste, nicht nur Sachsen regiert hatte (mit Dresden als Hauptstadt), sondern auch gewählter König Polens gewesen war. August hatte den Thron durch seinen Übertritt vom Protestantismus zum Katholizismus – der vorherrschenden Religion in Polen – erobert. Er hatte die bis dahin gesunde polnische Wirtschaft

88 88 ruiniert, indem er ihre Ressourcen plünderte, um Kriege zu führen, Sachsen stark zu bereichern und dieses schöne Stück zu schaffen, das zu Dresden wurde. Irgendwann lernte ich Tadeks Kollegen kennen und auch Professor Dietze, der die Malerklasse im zweiten Semester leitete, die Tadek besuchte. Dietze, ein fähiger Maler alter Schule, war ein älterer, freundlicher Mann, der mein Interesse an Kunst bemerkte und fragte, ob ich auch malte. Ich gab zu, dass ich auch ab und zu ein bisschen zeichnete, und er sagte, dass er gerne mal etwas von meinen Arbeiten sehen würde. Ich hatte zuletzt in der Zeit vor dem Krieg etwas gezeichnet, als Tadek und ich einige Streifzüge an den Rand der Stadt unternommen hatten, um Landschaftsskizzen anzufertigen. Ich fühlte mich etwas unsicher und führte vage Ausreden an, doch Tadek erzählte Dietze, ich sei eigentlich ziemlich gut. Dann wandte er sich an mich und sagte mir, ich solle dem Professor doch mal zeigen, was ich könnte. Ich gab nach, kaufte mir einen Skizzenblock und verbrachte einige Zeit damit, Architektur im Zwinger zu zeichnen, einer schönen barocken Anlage aus dem frühen 18. Jahrhundert, und im Großen Garten, einem riesigen städtischen Park. Insgesamt brachte ich in etwa ein Dutzend Zeichnungen zu Dietzes Atelier in der Akademie. Er fand sie gut genug und lud mich ein, an ein paar Klassen teilzunehmen, die er am Abend unterrichtete. Diese Klassen wurden von einer kleinen Gruppe Studenten besucht, die ihre Fähigkeiten auf diesem außerschulischen Weg unter der Leitung eines guten Lehrers verbessern wollten. Tadek gehörte auch zu dieser Gruppe, genau wie vier junge Frauen, deren Namen ich – unglaublich! – noch immer erinnere. Unter ihnen war eine sehr lebhafte und intelligente Frau namens Franziska Ulich, mit der ich mit der Zeit viele Gemeinsamkeiten entdeckte. Neben den rein akademischen Studien in Professor Dietzes Klassen begann ich, auch für mich allein zu zeichnen, meistens Zeichnungen vom Kriegsgräuel des Jahres 1939, das in meinen Gedanken noch sehr lebendig war, oder persönliche Darstellungen des Elends der polnischen Bevölkerung unter der Herrschaft der Deutschen. Franziska sah diese Zeichnungen und sagte, meine Stift- und Tuschetechnik würde dem Stil Alfred Kubins ähneln; die sozialen Themen meiner Bilder würden sie an die grafischen Arbeiten von Käthe Kollwitz erinnern. Ich fühlte mich natürlich geschmeichelt, obwohl ich die Namen dieser Künstler Ein Selbstporträt von Franziska Ulich.

 89 89

122 122 Im November desselben Jahres umzingelten die sowjetischen Streitkräfte die gesamte Sechste Armee der Deutschen in Stalingrad. Ich wusste, dies würde in den Zwangsarbeitslagern für Jubel sorgen, und die Einzelheiten der Stalingrad-Falle, die ich nach meinen Informationen von der BBC beschrieb, waren viel genauer und korrekter als die, die von den deutschen Propagandisten in den täglichen Berichten der Wehrmacht verbreitet wurden. Jemand, der zu der Zeit durch Dresden kam, erzählte von langen Zügen, die durch das deutsch kontrollierte Generalgouvernement Richtung Osten fuhren, beladen mit Soldaten und Kriegsmaterial, mit dem die hoffnungslos feststeckende Front gestärkt werden sollte und der Druck der Russen auf Stalingrad vielleicht etwas gelockert. Die Stimmung im besetzten Polen war laut diesem Informanten nicht viel besser als in den drei vorangegangenen Jahren der Besatzung. Die positiven Nachrichten von den Landungen der Alliierten in Nordafrika und die hoffnungslose Lage der Deutschen in Stalingrad wurde von dem Zorn über die anhaltenden Gräueltaten im Generalgouvernement überschattet: Massenhinrichtungen von Polen und das unablässige Räumen der jüdischen Ghettos, deren Bewohner zu Tausenden in lange Züge aus Viehwaggons getrieben wurden und in Lager transportiert, aus denen niemals jemand zurückkam. Das polnische Eisenbahnpersonal berichtete, dass die Züge auf der Fahrt in die Lager voll waren, auf dem Rückweg jedoch leer. Die Schlüsse, die man daraus ziehen konnte, waren nur allzu offensichtlich. Weihnachten 1942 stand bald vor der Tür, und ich wollte Halina, meiner Bekanntschaft aus dem Goehle-Werk, ein kleines Geschenk bringen. Ich entschied mich, sie am Ende ihrer Schicht abzufangen. Halina wohnte in einer Frauenbarracke im Lager in Radebeul, aber ich hielt es für das Beste, ihr das Geschenk nach der Arbeit zu geben, wenn sie mit den anderen Frauen ihrer Gezeiten- wende

 123 123 Gruppe das Goehle-Werk verließ. Ich weiß nicht mehr, um wieviel Uhr sich die Tore öffneten, es war jedenfalls schon dunkel und daher nicht ganz einfach, sie in der Menge zu finden. Die angeordnete Verdunkelung half dabei natürlich auch nicht. Doch schließlich entdeckte ich das hellfarbige Kopftuch, das sie immer trug, wenn sie nicht in der Fabrik war. Ich wagte mich an sie heran und drückte ihr die Schachtel Zigaretten in die Hand, während ich sie fragte, wie es ihr ging. Bevor sie antworten konnte, wurde ich plötzlich am Arm gepackt und zurückgehalten, während die Gruppe Frauen mit abgewandten Gesichtern weiterging. Ich wurde von einemMann in Uniform festgehalten, und ein Blick aus dem Augenwinkel verriet mir, wer und was er war – auf seinem linken Ärmel trug er ein kleines, rautenförmiges Abzeichen mit den Buchstaben SD, was für »Sicherheitsdienst« stand – der Nachrichtendienst der SS. Die Arbeiter zogen vorbei, und der Mann verlangte nach meinen Papieren, also zeigte ich ihm meinen Staatenlosen-Pass. Da man jedoch im Dunkeln kaum etwas sehen konnte, zog er mich hinüber zum Wachhäuschen am Tor und forderte einen bewaffneten Polizisten auf, mit seiner Taschenlampe auf meinen Pass und mein Gesicht zu leuchten. Er glich mein Gesicht mit dem auf dem Foto ab, prüfte die Marken und die Gültigkeit der Registrierung bei der örtlichen Polizei und wandte sich mir dann zu mit der Frage, ob ich Deutsch spräche. »Ja«, antwortete ich, »aber noch nicht sehr gut.« Er wollte wissen, wo ich arbeitete, und ich sagte, ich sei in einem Filmstudio angestellt, das – und das betonte ich besonders – zur kriegswichtigen Kategorie gehörte. Als Beweis zeigte ich ihm meinen Studio-Ausweis. Dies schien ihn irgendwie zu beeindrucken, aber dann wollte er wissen, was ich mit der »Polacken«-Frau zu bereden gehabt hätte. Ich glaubte nicht, dass er gesehen hatte, wie ich ihr die Zigaretten zugesteckt hatte, aber ich musste nun eine Antwort auf seine Frage finden, warum ich mit ihr hatte reden wollen. Zwei Sekunden später schon hatte ich eine glänzende Idee. Ich erzählte etwas von wegen, dass ich sie hätte aufreißen wollen, weil ich dachte, vielleicht könnten sie und ich … »Naja, Sie wissen schon ...«, woraufhin er irgendetwas grummelte, an das ich mich nicht erinnere, und dann nur »Hau ab!« sagte. Ich machte mich davon, verschwand schnell in die Dunkelheit und schickte einen Dank gen Himmel dafür, dass ich wieder einmal davongekommen war. Erst als ich wieder zurück in meinem Zimmer in Hellerau war, lagen meine Nerven blank. Ich zitterte eine ganze Weile lang unkontrolliert, bevor ich mich wieder beruhigen konnte, weil mir

124 124 klar wurde, dass die Dinge sehr schlecht für mich hätten ausgehen können. Im Vergleich zu dem, was mir gerade passiert war, war der kleine Vorfall am Bahnhof von Bad Schandau geradezu ein Kinderspiel gewesen. Dort war ich nur einer von vielen, hier war ich der Gefahr ganz allein ausgesetzt; die ganze Aufmerksamkeit des Gestapo-Mannes war allein auf mich gerichtet. Ich war 19 Jahre alt, und obwohl ich schon einige wirklich angsteinflößende Erfahrungen gemacht hatte, waren mir doch ein paar typische Teenagerzüge erhalten geblieben, unter anderem eine diffuse Verdrängung meiner eigenen Sterblichkeit und ein kindlicher Begriff von Heldentum – der noch aus Märchen, Geschichtsbüchern und Vorkriegsfilmen über St. Georg, der den Drachen erlegt, oder über Napoleons polnische Kavallerie, die den spanischen Somosierra Pass stürmt, stammten. Sie alle waren furchtlos, also musste ich sein wie sie! Doch in Bad Schandau war mir klar geworden, dass ich kein Held war – und jetzt wusste ich, dass diese Sache, die man Angst nennt, mein ständiger Begleiter bleiben würde, solange, bis der Krieg endlich vorbei war. Durch diese Erkenntnis lernte ich viel über mich selbst. Wegzulaufen, das war undenkbar, und Fahnenflucht stank nach Verrat. In ständiger Angst zu leben, das war jedoch an sich schon eine beängstigende Perspektive. In Bad Schandau war es sehr leichtsinnig und unvorsichtig von mir gewesen, zwei unterschiedliche Dokumente bei mir zu tragen. Und es hatte andere Situationen gegeben, in denen ich nicht umsichtig genug gewesen war, in denen ich mir nicht die Zeit genommen hatte, mich zu vergewissern, dass die Luft rein war – wenn ich meine allzeit riskanten Nachrichten-Bulletins in den Zwangsarbeiterlagern verteilte. War Halina vertrauenswürdig? Hatte Mirko den Mund gehalten? Das Problem war natürlich, dass ich gar keine Handhabe hatte, diese Leute wirklich zu überprüfen. Ich konnte hier nur meinem Instinkt folgen oder reiner Spekulation. Mein Mentor Zenek hätte sich vermutlich angesichts meiner mangelnden Vorsicht vor Entsetzen die Haare gerauft. Die Arbeitszeiten in den Boehner-Studios waren so geregelt, dass sie mir gestatteten, auch künstlerischen Tätigkeiten etwas Zeit zu schenken. Ich malte zwar sehr wenig, aber mein neu entdecktes Interesse am Holzschnitt führte unvermeidbar dazu, dass ich dieses Medium erkundete. Seine Ausdrucksstärke gefiel mir gut, besonders in diesen turbulenten Zeiten. Ich fand, dass mir der Holzschnitt für die düstere Darstellung von Kriegstragödien erlaubte, meine innersten Gefühle darüber

 125 125 zum Ausdruck zu bringen, was mein eigenes Land und, darin impliziert, auch alle anderen Länder unter deutscher Herrschaft befallen hatte. Knappe Nachrichten über die verheerende Niederlage und Kapitulation der Deutschen in Stalingrad wurden von öffentlichen Lautsprechern übertragen, die bis dahin stets dafür genutzt worden waren, Nachrichten über Deutschlands großartige Erfolge zu Wasser, Land und Luft unters Volk zu trompeten. Am kalten, regnerischen Morgen des 3. Februar 1943, als ich gerade am Dresdner Postplatz stand, um in eine andere Straßenbahn umzusteigen, gaben die Lautsprecher nüchtern bekannt, dass die Sechste Armee gezwungen war, ihren heroischen Kampf aufzugeben, den sie jedoch mutig »bis zum letzten Mann« gekämpft hatte. Weder von den Verlusten wurde etwas erwähnt – von denen inzwischen jeder wusste, dass sie entsetzlich hoch waren – noch von denjenigen, die die Hölle von Stalingrad möglicherweise überlebt hatten. Diesmal folgte auf den Bericht der Wehrmacht nicht wie sonst der Klang triumphierender Militärmärsche, sondern der des düster-tragischen Trauermarsches aus Beethovens Eroica-Sinfonie. Mit dieser feierlichen Musik proklamierte das Propagandaministerium de facto, dass es die noch lebenden Soldaten der Sechsten Armee neben ihren gefallenen Kameraden bereits für tot erklärte! Viele deutsche Durchschnittsbürger waren der Auffassung, dass dies völlig unverständlich sei und demonstrierten mit unglaublicher Grobheit gegen die Sender, die für diese Berichterstattung verantwortlich waren. Außerdem, so erfuhr ich, war selbst der Glaube vieler loyaler Parteimitglieder stark erschüttert. Ich schrieb daher mit einer gewissen ungerührten Genugtuung in meinem Bulletin über das Debakel von Stalingrad, nachdem ich die BBC-Nachrichten gehört hatte. Diese bezifferten die Zahl der gefallenen, verwundeten oder in Gefangenschaft geratenen Deutschen mit 260 000 Mann. Dies war somit die Zahl, die ich auch in mein Bulletin schrieb und als Information an die polnischen Zwangsarbeiterlager weitergab. Eine etwas zerfledderte und öfters wieder zusammengeflickte Ausgabe von Theodore Plieviers Stalingrad, die gut verstaut in meiner Bibliothek stand, erinnerte mich nicht nur an die tödliche Falle, in die Hitler seine gesamte Sechste Armee geschickt hatte – fast alle Soldaten fielen im Kampf oder kamen in Gulag-Lagern um –, sondern auch an den Mann, der mir das Buch 1946 gab. Dr. John Ulrich Schroeder war ein Anwalt, Freund und Nachbar der Familie Ulich und, so wie Dr. Ulich auch, ein

152 152 Am 13. Januar, dem Tag nach dem Durchbruch der Sowjets in Baranow, rief mich der Direktor der Boehner-Filmstudios in sein Büro und sagte mir, ich solle einige persönliche Dinge zusammenpacken und mich am folgenden Tag am Dresdner Hauptbahnhof zum Einsatz melden. Ich sei dazu bestimmt worden, mich einem Kontingent Zivilisten anzuschließen, die Richtung Osten nach Schlesien verschickt würden, um dort dabei zu helfen, eine Art Verteidigungslinie aufzubauen, »nur für den Fall, dass es den Russen gelingen sollte, so weit vorzudringen«. Wie gelähmt wusste ich einen Moment nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich, warum ich und nicht jemand anders aus der Mitarbeiterschaft des Studios. »Nun«, sagte der Mann, »du bist hier der Einzige, der in einem einigermaßen guten Gesundheitszustand zu sein scheint. Der Rest der Belegschaft ist entweder unabkömmlich, verkrüppelt oder schlichtweg zu alt.« Es gab keinen Ausweg, ging mir durch den Kopf, außer ich versteckte mich. Aber der Krieg konnte noch lange dauern, wo sollte ich mich da die ganze Zeit versteckt halten? Und wie sollte ich überleben? Es half alles nichts: Ich musste gehen und versuchen, meinen Verstand zu nutzen, um durch alle Situationen hindurchzukommen, denen ich begegnen würde. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich unter diesem Druck nun einknickte – besonders, weil ich jetzt aktiv den Nazibarbaren helfen sollte, die mein Land verwüstet und eine noch immer unbekannte Zahl meiner Landsleute niedergemetzelt hatten. Später fiel mir ein, dass mein Verschwinden im Fall, dass ich einfach untertauchte und wie durch ein Wunder bis zum Ende des Krieges überlebte, natürlich bekannt werden würde und meine Freunde und Studiokollegen in allergrößte Schwierigkeiten bringen könnte. In der Tat hatte meine Verbindung zur Familie Ulich diese bereits von Beginn an, seit wir uns vor über drei Jahren zum ersten Mal begegnet waren, in Gefahr gebracht. Unwissentlich waren sie zu meinen Mitverschwörern geworden. Ich trug die Verantwortung Zwangsarbeit A

 153 153 für ihr Schicksal. Ich befand mich selbst in einem Dilemma, das mich fortwährend zwang, meine aufrichtige Freundschaft mit dieser Familie – ganz besonders mit Franziska – gegen die Pflicht aufzuwiegen, die ich mir vor ein paar Jahren auferlegt und auf die ich einen Eid geleistet hatte. Überflüssig zu sagen, dass es ein beinahe permanenter Balanceakt war, der einem die Seele zerriss. Die Erinnerung daran quält mich über ein halbes Jahrhundert später noch immer. Am 14. Januar stieg ich zusammen mit 39 anderen männlichen Zivilisten in einen aus Güterwaggons bestehenden Zug Richtung Osten. Dieser umfasste auch einige Flachwaggons mit Panzern und gepanzerten Personentransportern. Alle Güterwaggons bis auf zwei waren bereits mit Truppensoldaten besetzt, und wir zivile Rekruten wurden in die zwei verbliebenen gepfercht. Niemand wusste etwas über unseren endgültigen Bestimmungsort, und unsere Aufpasser, zwei niederrangige Nazis in Parteiuniform, die Seitenwaffen trugen, hielten den Mund. Mit 20 Passagieren und Gepäck je Waggon war nicht viel Platz. Ein spontanes System wurde eingeführt, nach dem einige von uns standen und andere auf ihren Koffern oder Bündeln saßen und man in stündlichen Intervallen die Plätze tauschte. Da es nur einen einzigen Eimer gab, der den Bedürfnissen so vieler Passagiere zu Diensten sein sollte, kamen Spekulationen auf, dass es sich wohl nur um eine kurze Fahrt handeln könne, und seltsamerweise erwies sich dieser in schwarzen Humor verpackte Witz sogar als zutreffende Vorhersage. Unsere Reise dauerte keine fünf Stunden. Der Zug hielt an einem kleinen Bahnhof beinahe im Nirgendwo und lud uns dort ab, um seine Fahrt in östliche Richtung fortzusetzen. Als wir Dresden verließen, hatte in der Stadt nur eine geringe Menge Schnee gelegen, die Temperatur lag über Null. Nun, nur wenige Stunden später, fanden wir uns unter einem bleifarbenen Himmel im tiefsten Schnee wieder und versuchten vergebens, uns gegen den eisigen Wind zu schützen, der aus scheinbar allen Richtungen gleichzeitig blies. Selbst die beiden Nazifunktionäre schienen verblüfft von all dem. Doch dann befahl der eine von den beiden, der einen etwas höheren Dienstgrad hatte und etwas wichtiger und besser informiert zu sein schien, der Gruppe, ihm entlang einer Straße oder etwas in der Art zu folgen. Es waren nur zwei Kilometer zu unserem endgültigen Ziel, doch da wir durch fast kniehohen Schnee stapften und dabei unser Gepäck trugen, kam uns die Strecke doppelt so weit vor.

154 154 Während wir uns mühsam vorwärts kämpften, fragte ich einen der Männer, wieso wir von uniformierten und bewaffneten Parteifunktionären begleitet wurden und nicht von Militärangehörigen. Er erklärte mir, da alles Militär an der Front gebraucht würde und die meisten männlichen Zivilisten zum Volkssturm einberufen worden waren, kümmere sich die Partei nun um viele Belange der allgemeinen Verwaltung – wie eben Polizei- und Wachdienste oder die Koordination des Zivilschutzes. Dies verhelfe Personen wie unseren beiden Aufsehern dazu, es schön warm zu haben und nicht zur Front zu müssen, fügte er hinzu – nicht ohne einen leichten Zynismus in der Stimme. Die Partei behüte natürlich zuallererst ihre eigenen Leute. Es wurde dunkel, bis wir unseren Zielort erreichten. Zwischen den sanften Hügeln der Landschaft in einer Ebene gelegen befand sich das Gebäude, in dem ein Teil von uns Rekruten untergebracht werden sollte: eine ehemalige Scheune, in der jetzt ein kleiner eiserner Ofen mit Feuerholzvorräten stand. Auf dem Boden lag großzügig Stroh ausgebreitet, um uns als Schlafstätte zu dienen. Der Rest der Gruppe wurde in einigen schulbänkelosen Klassenzimmern eines offenbar verlassenen Schulgebäudes in der Nähe untergebracht. Die beiden Nazis okkupierten das Lehrerzimmer, das zwar auch verlassen, aber noch mit einer voll funktionstüchtigen Küche eingerichtet war, in der ein paar mürrisch dreinblickende Frauen auf einemmassiven Holzofen unsere Mahlzeiten kochten. Wie alle anderen hatte auch ich etwas Reiseproviant dabei, aber da ich vorher nicht wusste, wie lange die Fahrt dauern würde, hatte ich erst wenig davon gegessen. Kein Wunder also, dass ich am Ende der Reise nicht nur todmüde, sondern auch hungrig genug war, um nicht nur all meine Vorräte, sondern auch noch mehr als eine Portion von der Suppe zu essen, die die beiden Frauen zubereitet hatten. Von ihnen erfuhr ich auch ein paar Dinge über den unheimlichen, verlassenen Ort, an dem wir uns befanden. Das Dorf, das zwischen 25 und 30 Kilometer nördlich von Breslau, der Hauptstadt Niederschlesiens, lag, hieß Katzberg und bestand aus der zuvor erwähnten Schule, einer evangelischen Kirche, einem kleinen Laden und einem Postamt – allesamt zu Diensten einer beträchtlichen Anzahl von Bauernhöfen in Randlage. Die gespenstische Stille an diesem verlassenen Ort war die Folge eines Befehls des Nazikreisleiters, der am Abend des 12. Januar veranlasst hatte, dass das gesamte Gebiet geräumt werden musste. Alles zum Überleben notwendige – Haushaltswaren, Bettzeug, Kleidung, Nah-

 155 155 rungsmittel und ein paar Nutztiere – sollte Richtung Westen, weg von der nahenden Front und der Roten Armee, mitgenommen werden. Der Befehl wurde scheinbar strengstens befolgt, denn es gab keinen einzigen Hof mehr in der gesamten Gegend, dessen Eigentümer geblieben war. Der Lehrer, der Pastor und der Ladenbesitzer waren auch eiligst abgereist, nur diese beiden Frauen – eine Mutter mit ihrer Tochter – waren hiergeblieben, da sie auf Befehl der Partei für ein Kontingent Männer kochen sollten, die den Auftrag hatten, an Wehranlagen zu arbeiten, was auch immer damit gemeint war. Ich fragte die Tochter, eine große, hübsche Frau mittleren Alters, ob sie »von hier« sei und meinte damit aus Katzberg. »Nein«, erwiderte sie, sie seien aus Blüchertal, einem Dorf nur wenige Kilometer nordöstlich. In diesem Moment murmelte ihre Mutter, eine Frau so um die 70 oder älter, etwas, das ich nicht richtig hören konnte. Ich bat sie, zu wiederholen, was sie gesagt hatte, und sie gab nur ein einziges Wort von sich, so etwas wie »Zhavoine«. Ihre Tochter hob die Schultern und sagte, dass ihre Mutter wohl den alten Namen des Dorfes meinte, den, der vor vielen Jahren in »Blüchertal« umgewandelt worden war. Erst viel später dachte ich noch einmal darüber nach und erinnerte mich an das, was ich aus den Geschichtsbüchern gelernt hatte, die ich früher mit so großem Interesse gelesen hatte. Dieser Teil Schlesiens war seit jeher slavisches Territorium gewesen und hatte bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum Königreich Polen gehört, als Konflikte zwischen schlesischen Prinzen diese außerstande versetzten, sich gegen Mächte aus dem Ausland zu wehren. Seit Schlesien außerhalb des polnischen Staates lag, hatten die deutschen Einflüsse in der Region intensiv zugenommen und einen Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht, als die rücksichtslosen Germanisierungsmaßnahmen von Preußens Kanzler Bismarck in der Auslöschung der letzten Spuren slawischer Vergangenheit in Schlesien und allen anderen von den Deutschen über die Jahrhunderte besetzten polnischen Gebieten resultierten. So wurde der alte Name Opole (am Feldrand) in Oppeln umgewandelt, Olesnica in Oels, und Zhavoine (eigentlich zuvor Zawoine) wurde zu Ehren des preußischen Generals Blücher, der dabei geholfen hatte, Napoleon in Waterloo zu schlagen, in Blüchertal umbenannt. Auf Stroh zu schlafen, war für mich nichts Neues. Nicht zuletzt hatte mir die Luftwaffe dieses zweifelhafte Vergnügen damals im September 1939 verschafft, als sie die Stadt Kutno

234 234 Am 30. April gab der deutsche Rundfunk zu einem düsteren Klagelied von Wagner bekannt, der Führer und Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht sei den Heldentod gestorben, »während er dabei war, seine Truppen gegen die barbarischen Feinde anzuführen«.1 Die Meldung fügte hinzu, dass Admiral Dönitz zum Nachfolger Hitlers ernannt worden war und der Kampf weiterginge. Erst einen Tag später wurde bekannt, dass der Führer in Wahrheit Selbstmord begangen hatte. Am nächsten Tag konnte man das Rumpeln von Panzern hören, was einige Bürger von Hellerau dazu veranlasste, zu glauben, die Sowjets seien da. Die Panik wuchs deutlich, als sich herumsprach, dass die Panzer zu einem kleinen, kampfmüden Abkommando einer SS-Panzerdivision gehörten. Vier Tiger-­ Panzer waren neben einem Abschnitt der Moritzburger Autobahn eingegraben, direkt neben einer Ansammlung attraktiver und gut gepflegter Einfamilienhäuser. Bald wurde klar, dass die SS ihre Panzer dort nicht für ein Picknick geparkt hatte, sondern um zu schießen, falls es der Feind wagen sollte, sich Dresden oder dem, was davon noch übrig war, zu nähern und dass dabei dann auch Hellerau in Stücke zerlegt werden würde. In der Zwischenzeit übertrug die BBC die Nachricht, dass sich alle deutschen Truppen in Italien ergeben hätten. Vier Tage lang war die Lage sehr angespannt, dann nahm die SS zu jedermanns Erleichterung mitten in der Nacht ihre Panzer und zog ab. Ein weiterer – friedlicherer – Akt des Verschwindens in Hellerau fand in der früheren, einst weltberühmten Jacques-DalcrozeTanzschule statt, die später in eine Art Sozialwissenschaftliches Institut umgewandelt wurde. In den letzten Monaten des Krieges Die letzten Tage A

 235 235 wurde aus ihr eine Kaserne für kaukasische, usbekische und kasachische Truppen gemacht – alle sowjetische Deserteure, die von den Deutschen aus lauter Verzweiflung gemustert worden waren, um einen allerletzten Widerstand gegen die Rote Armee zu leisten. Das Gebäude lag in Sichtweise der Ulichs und war nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt. Ich war in meinem Zimmer in Frau Heinichs Haus, als Franziska mit der Nachricht die Treppe heraufgestürzt kam, dass die Osttruppen weg seien und sich nun ziemlich viele Zivilisten, wahrscheinlich Bürger von Hellerau, in dem verlassenen Gebäude versammelt hätten. Sie lud mich ein, mit ihr mitzukommen, um zu gucken, was die Ausreißer möglicherweise zurückgelassen hätten, und so machten wir uns gleich auf den Weg. In dem Gebäude fanden wir eine unbeschreiblich chaotische und bizarre Szenerie vor. Der große zentrale Raum war fast ausschließlich gefüllt mit unüberschaubar großen Mengen Militärausrüstung deutscher Art, die nach Kategorien getrennt waren. Nichts davon war auf ordentliche Weise gestapelt, sondern offenbar in großer Hast auf Haufen geworfen worden, von denen manche über 1,80 Meter hoch waren. Sie bestanden aus Uniformjacken, Mänteln, Hosen und Unterwäsche, Gürteln und Rucksäcken, noch verpackten Gasmasken, Küchenutensilien, Schuhen, Socken, Schiffchen-Kappen und Barrett-Kappen, Drillich-Arbeitsanzügen, Stiefeln, Stahlhelmen – alles außer Waffen und Munition. Ganz offenbar waren die Osttruppen in Panik geflüchtet, höchstwahrscheinlich Richtung Westen. Vom zentralen Raum wegführend war die übliche Kasernenausstattung – eine große Küche und ein sehr großer Speiseraum, Waschräume, Toiletten, Duschen, ein paar Diensträume mit noch intakter Einrichtung (abgesehen von den offenen Türen der Safes) und große Wachbecken voll mit Asche, vermutlich von eiligst verbrannten Dokumenten. Überall – auf, inmitten und um dieses Chaos herum – kroch und kletterte eine Horde normalerweise stets so vornehmer Einwohner von Hellerau, die meisten von ihnen Frauen, aber auch ein paar Männer, die in den Sachen herumwühlten, welche aussuchten, anprobierten, wieder wegwarfen, sie anderen aus den Händen rissen und triumphierend aufschrien, fluchten, sich anschrien und so einen höllischen Krach veranstalteten. Franziska verschwand in die Küche, ich wollte mir den Berg Stiefel näher ansehen. Mein Schuhwerk, das mein ukrainischer Freund Yakiv vor so vielen Wochen für mich aufgetrieben hatte, hatte – so traurig das war – in seiner Brauchbarkeit aus-

236 236 gedient und musste dringlichst ersetzt werden. Wonach ich Ausschau hielt, waren nicht so sehr die typischen deutschen Infanterie-Stampfer mit Hakennägeln, sondern diese gut verarbeiteten, kniehohen Offiziersreitstiefel, die ich schon in dem großen Haufen mit verschiedenem militärischem Schuhwerk entdeckt hatte. Leider lagen diese hübschen Stiefel nicht paarweise herum. Wenn man also zum Beispiel einen linken Stiefel erwischt hatte, musste man so lange herumkramen, bis man das rechte Gegenstück dazu gefunden hatte. Es war jedoch nichts dabei, und ich musste weitersuchen, bis ich ein Paar gefunden haben würde, das passte. Angesichts Dutzender von Stiefeln, die ich absuchen musste, war diese Aufgabe schwierig und wurde immer entmutigender, je mehr Zeit verging. Irgendwann war ich frustriert und fluchte auf Polnisch: »Psiakrew!« (»Hundsblut!«), woraufhin ein Mann, der neben mir stand, auflachte und fragte, ob ich Pole sei. Ich bejahte und wir unterhielten uns daraufhin ein paar Minuten auf Polnisch, bis es mir endlich gelang, ein zusammengehörendes Paar Stiefel zu finden, das noch wie neu war. Der Mann hatte bereits gefunden, was er wollte, und sagte im Gehen, dass er hoffte, wir würden uns mal wieder irgendwo begegnen. Franziska schien noch an anderer Stelle beschäftigt, und so nahm ich meinen »unbezahlbaren« Fund und ging los, um mir noch andere Teile des Gebäudes anzusehen. Nachdem ich in ein paar Diensträume geschaut hatte, die die üblichen Standardschreibtische, Stühle und Aktenschränke hatten, genauso wie die übliche große standardmäßige Fotografie des verstorbenen Führers, kam ich in einen Raum, der als Konferenzraum genutzt worden sein musste. Ein langer Tisch mit mehreren Stühlen auf jeder Seite füllte den größten Teil des Raumes aus. Über dem Tisch wachte ein riesiges, in Massenproduktion gefertigtes, goldgerahmtes, lebensgroßes Farbporträt Hitlers. So viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich jetzt auf dieses Porträt starrte. Ich ging zurück in einen Korridor, indem ich einiges an Feuerwehrausrüstung gesehen hatte, fand dort eine Axt, ging zurück zum Konferenzraum und rammte mit einem einzigen wütenden Schlag die Klinge der Axt in dieses verhasste Gesicht. Dann warf ich die Axt auf den Konferenztisch und ging, während ich darüber nachdachte, wie seltsam es sich anfühlte, etwas tun zu können, wofür ich ein paar Tage zuvor noch unter die Guillotine gekommen wäre. Die vielen Jahre, die ich in einem Zustand beinahe ständiger Angst und Befürchtungen gelebt hatte, in denen ich meine Gedanken und Gefühle verstecken und in der Dunkelheit

 237 237 umherschleichen musste, in denen ich zwei voneinander getrennte und doch parallele Leben führen musste und deshalb sogar meine Freunde belog – all das war plötzlich vorbei, vergangen, zu Ende. Keine Autorität bedrohte mich mehr. Deutschland war besiegt, selbst wenn der Krieg noch andauerte. Dies war ein Interregnum im wahrsten Sinne des Wortes. Und eindeutig auch eine Art Anarchie. Natürlich war es nicht möglich, meinen Freunden oder Unterstützern wie den Ulichs zu erzählen, dass ich jahrelang aktiv im polnischen Widerstand gewesen war, und zwar im vollen Bewusstsein, dass eine Enttarnung meiner Aktivitäten auch ihr Leben in Gefahr gebracht hätte. Ja, der Nazialbtraum war zu Ende, schon bald würde niemand mehr die Gestapo fürchten müssen. Doch von einem der letzten Kuriere, die im November 1944 durch Dresden gekommen waren, hatte ich erfahren, dass die Sowjets, die zu dem Zeitpunkt schon die Hälfte Polens besetzt hatten, genauso gnadenlos mit dem ehemaligen polnischen Untergrund umgingen wie zuvor die Deutschen. Deshalb war es für mich oberstes Gebot, meinen Mund zu halten und darauf zu achten, mit wem ich sprach, ob es nun Deutsche waren oder (in naher Zukunft) Russen. Selbst jetzt, wo ich dies schreibe, verspüre ich noch einen Hauch von Schuldgefühlen gegenüber all den anständigen Menschen, die mir so sehr geholfen hatten, ohne zu wissen, wie fruchtbar gefährlich es für sie war, mit mir befreundet zu sein. Franziska und ich kehrten triumphierend nach Hause zurück, sie mit einer großen Ladung Lebensmitteln, vor allem Dosenfleisch, in einer improvisierten Tasche aus einem militärischen Waffenrock, und ich mit meinen neu »befreiten« Stiefeln. Ich erinnere mich, dass ich die alten Treter, die mir so treu gedient hatten, behalten hatte. Vielleicht dachte ich, ich würde sie noch einmal reparieren lassen oder sie vielleicht angemessen bestatten? In jenen Tagen schätzte man solche banalen und doch wichtigen Dinge und hing an ihnen. Es war nun der 5. Mai. Berlin hatte sich drei Tage zuvor ergeben. Der deutsche Rundfunk hatte das Senden eingestellt, doch über die BBC-Berichte, die jetzt völlig störungsfrei zu empfangen waren, erfuhren wir, dass es der Roten Armee gelungen war, die Schlinge um Berlin zuzuziehen und dass der deutsche Widerstand schnell zusammengebrochen war. Ein anderer BBCBericht gab die offizielle Anerkennung der neu gebildeten polnischen Regierung in Lublin vonseiten der britischen Regierung bekannt. Ich hörte das, sprachlos und konfus, doch Dr. Ulich ver-

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