Leseprobe

PARVENUE Julia Trinkert und Philipp Zitzlsperger PARVENUE Bürgerlicher Aufstieg im Spiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert

PARVENUE Bürgerlicher Aufstieg im Spiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert SANDSTEIN VERLAG

6 Isa Fleischmann-Heck, Christina Kallieris, Anja Kregeloh, Patricia Strohmaier, Julia Trinkert, Philipp Zitzlsperger Einleitung Untersuchungsgegenstand und Methode Geschmack – Prestige 65 Philipp Zitzlsperger Künstlerinnen-Parvenüs Rosalba Carrieras innovatio und ihre Kunst der Dissimulation 73 Isa Fleischmann-Heck Luxusstoffe versus »Modestie der Alten« Krefelder Miniatursamte des späten 18. Jahrhunderts 84 Jennifer-Melina Geier Steckbrief: die Leinwandtapete im Herrenzimmer des Roten Hauses in Monschau 88 Christina Kallieris Steckbrief: eine Punschterrine und eine Deckelschüssel mit Zitronenknauf Zitrusfrüchte als Luxusartikel im 18. Jahrhundert 2Forschungs- ergebnisse 1 Theorie 16 Julia Trinkert Der Gebrauch von und Umgang mit Kunstobjekten in sozialen Aufstiegsprozessen Skizzierungen zu einem Deutungsschema 27 Philipp Zitzlsperger Eine kleine (Begriffs-)Geschichte des Parvenüs 34 Julian Blunk Figuren der Beschleunigung Zur Unterscheidung von Stil und Mode 41 Philipp Zitzlsperger Imitatio oder innovatio? Eine andere Theorie zur (Lebens-)Kunst der Parvenüs 48 Julian Blunk Der Parvenü als Darstellungsproblem Visualisierungen des sozialen Aufsteigers und Bildstrategien zu seiner Abwehr

92 Marion Rudel Steckbrief: Riechdöschen als Accessoires im 18. Jahrhundert Ästhetische Aufstiegs- und Repräsentationsstrategien 97 Isa Fleischmann-Heck Erinnerungsobjekte in Wachs Die monochromen Wachsbildnisse von Johann Christoph Haselmeyer in Krefeld 105 Jennifer-Melina Geier Das illusionistische Bilderkabinett der Familie Scheibler Ein ›standesgemäßer Kosmos‹ im Herrenzimmer des Roten Hauses in Monschau 122 Anja Kregeloh Steckbrief: ein königliches Geschenk Die bestickte seidene Weste des Carl Philipp von Buttlar 125 Patricia Strohmaier Nur der Tod wird uns scheiden Hochzeitsjubiläumsmedaillen in der Familie von der Leyen 145 Julia Trinkert Gebaute Statussymbole Erfolgsaussichten von Aufstiegsstrategien im dänischen Adel und im hanseatischen Bürgertum am Beispiel von Heinrich Carl von Schimmelmann 177 Christina Kallieris und Philipp Zitzlsperger Das inszenierte Leben ›Ästhetisches Kapital‹ als Indikator kultureller Bildung und universellen Machtanspruchs Abbild – Wirklichkeit 195 Christina Kallieris Der Gegenstand im Bild Zur Deutung von chinesischen Porzellanen und chionoisen Fayencen auf Gemälden 214 Julia Trinkert Steckbrief: Lorens de Lönberg Heinrich Carl von Schimmelmann und sein Diener Heinrich Carl Ambach (1769 von St. Croix), 1775 (?) Dinge, Handlungen und Vorbilder 219 Julian Blunk Steckbrief: Matthijs Pool Apen in de hedendaagse mode van rokken met baleinen, 1716 222 Anja Kregeloh Nur nachgemacht? Textile Imitationen als ästhetisches, modisches und ökonomisches Prinzip in der Seidenweberei des 18. Jahrhunderts 240 Marion Rudel Kostbares Diebesgut Anzeigen des ›Duisburger Intelligenz-Zettels‹ als Quelle für die Kleidungsforschung 258 Christina Kallieris und Patricia Strohmaier Steckbrief: Verkaufsliste zum Nachlass von Kurfürst Clemens August 261 Anja Kregeloh Steckbrief: seidene Wandbespannung ›Les perdrix‹ 266 Das Projekt ›PARVENUE – Bürgerlicher Aufstieg im Spiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert‹ und seine Teilprojekte 267 Die Teilprojekte 272 Impressum

6 Einleitung Untersuchungsgegenstand und Methoden Isa Fleischmann-Heck, Christina Kallieris, Anja Kregeloh, Patricia Strohmaier, Julia Trinkert, Philipp Zitzlsperger Das PARVENUE-Projektwurde von 2018bis 2022 vomBundesministeriumfür Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Im Rahmen der Förderlinie »Die Sprache der Objekte – Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen« galt es, den Zusammenhang zwischen Schnellaufsteiger:innen der Gesellschaft und ihrer materiellen Kultur im 18. Jahrhundert zu erforschen. »PARVENUE – Bürgerlicher Aufstieg imSpiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert« berücksichtigt steile Karriereverläufe aus einer und mehreren Generationen. Es handelt sich um ein Verbundprojekt, das sich aus fünf Teilprojekten zusammensetzt: [1] »Kunst imWechselverhältnis zur sozialen Mobilität. Von Hamburg bis Kopenhagen des 18. Jahrhunderts« (Leitung und Bearbeitung: Julia Trinkert, Institut für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). [2] »Die Familie von der Leyen. Künstlerisches Engagement und Aufstiegsambitionen einer Seidenweberdynastie in Krefeld im 18. Jahrhundert« (Leitung: Julia Trinkert, Bearbeitung: Patricia Strohmaier, Institut für Kunstgeschichte, HHU Düsseldorf, Sammlungserschließung: Christina Schulte, Museum Burg Linn). [3] »Bildwelten der Objekte« (Leitung und Bearbeitung: Philipp Zitzlsperger, Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck, Julian Blunk und Jochen Pioch, Hochschule Fresenius/AMD Fachbereich Design). [4] »Europäische Seidengewebe des 18. Jahrhunderts« (Leitung: Isa Fleischmann-Heck, Bearbeitung: Anja Kregeloh, Sammlungserschließung: Verena Thiemann, Katja Wagner, Deutsches Textilmuseum Krefeld). [5] »Material und Alltag. Die Anzeigen des ›Duisburger Intelligenz-Zettels‹, 1750–1789« (Leitung: Isa Fleischmann-Heck, Bearbeitung: Marion Rudel, Deutsches Textilmuseum Krefeld). Hinzu kommt

7 die Sammlungserschließung Hetjens – Deutsches Keramikmuseum Düsseldorf (Leitung: Daniela Antonin, Bearbeitung: Christina Kallieris). Alle Teilprojekte gehen von der gemeinsamen Annahme aus, dass die materielle Kultur des 18. Jahrhunderts in europäischen Gesellschaften ein wichtiges Vehikel für Karrierestrategien war und die gesteigerte soziale Mobilität entscheidend und proaktiv unterstützte (»agency«). Parvenüs und ihre Objektkultur Parvenüs des 18. Jahrhunderts sind eine besonders geeignete gesellschaftliche Gruppe für die Untersuchung, da sie vor allem auf den Einsatz materieller Kultur angewiesen waren, um ihren schnellen Aufstieg in den kompetitiven Gesellschaften der Frühen Neuzeit erreichen zu können. Neben einer passenden Repräsentation durch Kunst und Kunsthandwerk war es ihre zentrale Herausforderung, den Einsatz der Artefakte für den Aufstieg in die Zielgesellschaft zwischen Anpassung undDistinktion besonnen zu moderieren. Als bislang wenig beachtete Instrumente der vertikalen sozialen Mobilität spielen Objekte und deren identitätsstiftende und selbstvergewissernde Bedeutungszuschreibungen damit eine prominente Rolle. Dabei ist zu beachten, dass die verbreitet negative Konnotation des Parvenübegriffs zu neutralisieren ist. Denn während Parvenüs – dies ist weiter unten noch genauer auszuführen1 – seit der Aufklärungszeit als »Schmarotzer«, »Nachahmer« oder »Parasiten« (Friedrich Schiller) angesehen werden, sind nun die Vorzeichen umzudrehen. Neben den ›parasitären‹ Exemplaren hat uns die Geschichte auch und vor allembesonders leistungsfähige und innovationshungrige Beispiele geliefert, die im Fokus der folgenden Untersuchungen stehen. Ohnehin geht es hier nicht um eine moralisierende Geschichtsschreibung. Doch weil sie bislang in Bezug auf Parvenüs moralisierend war, ist nun zu betonen, dass ein anderer Weg einzuschlagen ist, auf dem sich die gesellschaftlichen Schnellaufsteiger:innen als Motoren der (Kultur-)Geschichte offenbaren. Während unserer Forschungen stellte sich zunehmend heraus, dass das Klischee vom Parasiten unhistorisch ist. Denn Parvenüs mussten, um in höhere Gesellschaftsschichten aufsteigen zu können, nicht nur anpassungsfähig sein. Unterschätzt wurde bislang, dass Parvenüs für ihre gesellschaftliche Anerkennung Herausragendes zu leisten hatten. Es herrschten bisweilen meritokratische Verhältnisse. Mehr als den bereits Etablierten oblag ihnen, mit Erfindungen, Innovationen und besonderen Erfolgen aufzufallen – Anpassung und Parasitentum reichten längst nicht aus. Dazu war die Konkurrenz in einer zunehmend durchlässigen und kompetitiven Gesellschaft der Aufklärungszeit zu groß. Solche Schnellaufstiege – metaphorisch gesprochen – vom ›Tellerwäscher zumMillionär‹ stellten an die Akteur:innen unterschiedliche Herausforderungen, die vom Herkunftsmilieu ebenso abhingen wie etwa von Protektor:innen, die auf demKarriereweg sekundierten. Fundamental war die Allgemeinbildung der Aufsteiger:innen, zu der Sprach- und Sittenbildung ebenso zählten wie eine trittsichere Geschmacksbildung, die gerade in der Aufklärungszeit immer wichtiger wurde, nicht zuletzt, um den sichtbaren und ausgewogenen Einsatz vonmaterieller Kultur zu beherrschen. In den hier vorliegenden Aufsätzen, die Schlaglichter auf die Ergebnisse aus den Teilprojekten werfen, wird darauf stets eingegangen. Zu den Parvenüs zählten Protagonist:innen aus den unterschiedlichsten Herkunftsgesellschaften, die ebenso unterschiedliche Zielgesellschaften anvisierten. Im Kirchenstaat ereigneten sich wegen seiner politischen Verfasstheit alsWahlmonarchie schon seit demMittelalter spektakuläre Karrieren, von denen jene Alessandro Peretti Montaltos wohl die schillerndste ist, der es vom Schweinehirten bis auf den Papstthron (1585–1590) schaffte. Im weltlichen Bereich häuften sich Blitzkarrieren mit der zunehmenden Durchlässigkeit der Gesellschaft in der Zeit der Aufklärung. Sie fanden in den verschiedensten beruflichen Bereichen statt, dazu zählten Laufbahnen in der Politik und Verwaltung 1 Vgl. Philipp Zitzlspergers Text ›Eine kleine (Begriffs-)Geschichte des Parvenüs‹ in diesem Band.

8 ebenso wie Wirtschafts-, Kunst- oder Militärkarrieren.2 Sie sind vielfach erschlossen und in Geschichtsbüchern nachzulesen. Allein, welche Rolle die materielle Kultur in Form von Architektur, Inneneinrichtung, Kleidung, Schmuck, Kunstproduktion oder Kunstsammlung für die Aufsteiger:innen spielte, bleibt oft unterbelichtet. Meist interessiert sich die Forschung für die materielle Prunkrepräsentanz bereits etablierter Parvenüs, weniger jedoch für deren materielle Kulturpraxis während und im Dienste des Aufstiegs. Annäherungen an die Objektkultur Die Theoriebildung zur Erforschung der materiellen Kultur beschränkte sich anfangs oft – je nach Disziplin – eher auf die Feststellung, dass Dinge als Quellen in den Blick genommen werden müssen, es fehlte aber häufig eine klare Vorstellung, welche Methoden sich bei welcher Objektart und bei welcher Fragestellung am besten eignen. Die vor allem in der Archäologie und der Volkskunde etablierten Arbeitsschritte bei der Analyse von Objekten fanden erst nach und nach ihren Niederschlag in den Diskursen. In den letzten Jahren hingegen nehmen in die theoretischen Überlegungen eingebettete konkrete Objektstudien insbesondere in der Geschichtswissenschaft zu, die Vorgehensweisen der objektbasierten Forschung auf die Probe stellen.3Wenig thematisiert werden noch immer die oftmals hohen Erwartungen an die Erzählfähigkeit der Dinge, die aber aus unterschiedlichen Gründen wie einem schadhaften oder unvollständigen Erhaltungszustand und fehlenden kontextualisierenden Informationen eingeschränkt sein kann. Auch die Art der überlieferten Gegenstände kann eine Verschiebung des Bildes verursachen, da nicht alles für aufbewahrenswert erachtet wurde bzw. auch Kriege und andere Katastrophen zur zufälligen Vernichtung von Objekten geführt haben. Die objektzentrierte kunsthistorische und kunsttechnologische Erforschung von Originalen bietet die Möglichkeit, Materialität, Technik, Ausführungsqualität, Gebrauchszweck etc. zu beurteilen. Darüber hinaus liefert die Nahsicht auf Objekte Informationen zu nachträglichen Veränderungen und Spuren des Gebrauchs. Nicht möglich ist es jedoch in den meisten Fällen, wie etwa bei der Untersuchung der Seidenstoffe im Bestand des Deutschen Textilmuseums (Teilprojekt 4), Objekte Akteur:innen und Verwendungskontexten zuzuordnen. Daher sind an dem hier verwahrten Bestand keine Aufschlüsse über Bedeutungszuschreibungen sowie persönlicheWert- undGeschmacksurteile möglich. Auch die Frage, warum bestimmte Dinge Luxusgüter, Statussymbole, Prestigeobjekte, begehrte Geschenke oder Diebesgut wurden, kann objektimmanent nur teilweise beurteilt werden, etwa anhand kostbarer Materialien und aufwendiger Verarbeitungsweisen. Allenfalls lässt sich feststellen, ob es sich um ein Einzelobjekt oder eines aus einer seriellen bzw. massenhaften Produktion handelt. Gleichwohl erzeugen die Rekonstruktionen diverser Bezüge zum bürgerlichen Aufstieg und 2 Dem vorliegenden Sammelband liegen zahlreiche Parvenükarrieren exemplarisch zugrunde. Zu den schillernden Beispielen eines Schnellaufstiegs im Militärdienst zählt sicherlich John Churchill, 1. Herzog von Marlborough (1650–1722), dem unlängst eine höchst instruktive kunst- und sammlungsgeschichtliche Studie gewidmet wurde: Carina A. E. Weißmann, Die Bronzen des Massimiliano Soldani Benzi (1656 –1740). Repräsentationsstrategien des europäischen Adels um 1700, Berlin/Boston 2022, S. 187–253. Zu den geistlichen Karrieren aus kunst- und sozialgeschichtlicher Perspektive vgl. den Überblick bei Philipp Zitzlsperger, REQUIEM – Die römischen Papst- und Kardinalsgrabmäler der Frühen Neuzeit. Ergebnisse, Theorien und Ausblicke des Forschungsprojekts, in: Vom Nachleben der Kardinäle. Römische Kardinalsgrabmäler der FrühenNeuzeit, hg. von Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger (humboldtschriften zur kunst- und bildgeschichte 10), Berlin 2010, S. 23 – 65. 3 Zum Beispiel eine von Joseph Furttenbach entwickelte Seilwinde, Kim Siebenhüner, Things that matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42, 2015, H. 3, S. 373 – 409. Siehe auch Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit (Ding, Materialität, Geschichte 1), hg. von Julia A. Schmidt-Funke, Köln/Wien/Weimar 2019. 4 Arjun Appadurai, Introduction: commodities and the politics of value, in: The social life of things. Commodities in cultural perspective, hg. von dems., Cambridge 1986, S. 3 – 63. Siehe auch: Bert de Munck und Dries Lyna, Locating and Dislocating Value. A Pragmatic Approach to Early Modern and NineteenthCentury Economic Practices, in: Concepts of Value in European Material Culture, 1500–1900, hg. von dens., Ashgate 2015, S. 1 –29.

9 seiner Sichtbarkeit anhand der Summe der unterschiedlichen im Projektverbund untersuchten Objekte ein dichtes Bild der repräsentativen und prestigeträchtigen Objektkultur des 18. Jahrhunderts, diemit allgemeineren Erkenntnissen etwa zu der jeweiligen gesellschaftlichen Konvention über Mode, Geschmack und repräsentativen Besitz abgeglichen werden. Mit einemGegenstand durch die Konsumkultur erzeugte Bedürfnisse zu verknüpfen, bedarf weiterführender Informationen. Die Bewertung, die sich aus der Nachfrage und der Verfügbarkeit auf dem Markt ergibt, ist amObjekt selbst nicht abzulesen. Arjun Appadurai beschrieb als einer der ersten die konsumhistorische Bedeutung desWarentauschs für denWert von Objekten: »Economic exchange creates value«.4 Imgleichen Band ging Igor Kopytoff noch stärker auf die damit verbundene kulturelle Komponente ein.5 Vielfältige weitere Bedeutungsaufladungen und -zuschreibungen, die sich durch Besitzerwechsel, die Verbringung in andere Kulturkreise und andere Verwendungskontexte sowie zeitliche Veränderungen ergeben, sind in den vergangenen Jahren in zahlreichen Fallstudien analysiert worden.6 Die Annahme, dass sich Biografien von Objekten wie die von Menschen nachzeichnen lassen und damit Aufschluss über die eigene Bedeutung geben, ist mittlerweile überholt. Neue Ansätze, etwa der object itineraries von Hans Peter Hahn und Hadas Weiß,7 gehen von verschiedenen Stationen über die Dauer der Existenz eines Objekts aus, diemit unterschiedlichen Ereignissen, Verwendungen und Bedeutungszuschreibungen verknüpft werden können. Dies erfordert jedoch die diachrone Betrachtung von Objektgeschichten. Im PARVENUE-Projekt handelt es sich meist um Momentaufnahmen, diemit Herstellung oder Erwerb, seltener mit demBesitz über einen längeren Zeitraumoder einer Wiederverwendung von Objekten zu tun haben. Ausnahmen bilden hier beispielsweise die von Heinrich Carl von Schimmelmann (1724–1782) massiv und teilweise mehrfach umgebauten Herrenhäuser (Teilprojekt 1) sowie Kinderkleidung aus demBesitz der mennonitischen Seidenverlegerfamilie de Greiff (Teilprojekt 4).8 Auch fehlen zu den meisten untersuchten musealen Objekten direkte Informationen über die Gebrauchsdimension, etwa die korrekte Handhabung, die nur aus zeitgenössischen Veröffentlichungen wie dem ›Journal des Luxus und der Moden‹ rekonstruiert werden können.9 Diese praxeologischen Aspekte waren lange ein blinder Fleck in der Erforschung materieller Kultur.10 Sie wurden auch von der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours übersehen, die Objekten wie Personen ja eine agency, ein Handlungspotenzial, zuschreibt.11 Die Theorie der Objektforschung ist stark durch die Soziologie geprägt und bezieht sich daher oft auf Dinge der Gegenwart, nicht auf historische. Auch dieser ausschließlich moderne Blick ohne ausgeprägte historische Perspektive lässt zeitbedingte Veränderungen von Objekten, ihrem Gebrauch und ihren Bedeutungen außer Acht. 5 Igor Kopytoff, The cultural biography of things: commoditization as process, in: Appadurai (wie Anm. 4), S. 64 –91. 6 Z.B. Transottoman matters. Objects Moving through Time, Space, and Meaning (Transottomanica 4), hg. von Arkadiusz Christoph Blaszczyk, Robert Born und Florian Riedler, Göttingen 2021; Cotton in context. Manufacturing, Marketing, and Consuming Textiles in the German-speakingWorld (1500–1900) (Ding, Materialität, Geschichte 4), hg. von KimSiebenhüner, John Jordan undGabi Schopf, Köln/Wien/Weimar 2019. 7 Hans Peter Hahn und Hadas Weiß, Introduction. Biographies, travels and itineraries of things, in: Mobility, Meaning & Transformations of Things. Shifting contexts of material culture through time and space, hg. von dens., Oxford 2013, S. 1 –14. 8 Vgl. Isa Fleischmann-Heck, Seidene Säuglingskleidung des 18. Jahrhunderts. Neue Überlegungen zu ihrer Verwendung und Funktion, in: Das Bild vomKind imSpiegel seiner Kleidung. Von prähistorischer Zeit bis zur Gegenwart, hg. von Annette Paetz gen. Schieck und Uta-Christiane Bergemann, Regensburg 2015, S. 120–135. 9 Siehe auch Gianenrico Bernasconi, Objets portatifs au Siècle des lumières, Paris 2015. 10 Vgl. u.a. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken/ Basic Elements of a Theory of Social Practices, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, S. 282–301. 11 Bruno Latour, On ActorNetwork-Theory. A FewClarifications, in: SozialeWelt 47, 1996, S. 369 –381. Siehe dazu auch Julia Trinkerts Text ›Der Gebrauch von und Umgang mit Kunstobjekten in sozialen Aufstiegsprozessen. Skizzierungen zu einem Deutungsschema‹ in diesem Band.

16 Der Gebrauch von und Umgang mit Kunstobjekten in sozialen Aufstiegsprozessen Skizzierungen zu einem Deutungsschema Julia Trinkert In allen Epochen, Regionen und Gesellschaften existierten und existieren parallel Eliten, die sich auf unterschiedliche Arten konstituieren, eigene, spezifische Interessen vertreten und eigene Formen der Selbstrepräsentation und -inszenierung pflegen.1 Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundforschungsprojekt PARVENUE befasst sich in seinen Untersuchungen zunächst mit den Einstiegsbedingungen und Modi des Aufstiegs unterschiedlicher Fallbeispiele und stellt in diesemZusammenhang teilprojektübergreifend und vergleichend Fragen nach 1 Karsten Holste, Dietlind Hütchker undMichael G. Müller, Aufsteigen undObenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, in: Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 10), hg. von dens., Berlin 2009, S. 9 –21, hier S. 10. 2 Auf dieses Desiderat weisen bereits Holste/Hütchker/Müller nach Abschluss ihres GWZO-Projekts ›Von Ständegesellschaften zu Nationalgesellschaften. Elitenwandel und gesellschaftliche Modernisierung in Ostmitteleuropa (1750–1914)‹ hin, vgl. dies. (wie Anm. 1), S. 16. Der Begriff ›Akteur‹ wird im Folgenden bewusst nicht gegendert, um die Anknüpfung an bisherige Theorien zu verdeutlichen und soll abstrakt und nicht in denQualitäten einer möglichen Geschlechtlichkeit zu verstehen sein. 3 MichaelWenzel, Objektbiographie. Die Mobilität der (Kunst-)Dinge als Beute, Gabe und Ware, in: Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit (Ding, Materialität, Geschichte, Bd. 1), hg. von Julia A. Schmidt-Funke, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 195 –224, hier S. 198–199. 4 Das Schwerpunktprogramm wurde 2012, 2013 und 2017 ausgeschrieben, URL: https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/ de/Sprache-der-Objekte-1737.html [Zugriff: 10.4.2022]. 5 Andreas Reckwitz, The Status of the ›Material‹ in Theories of Culture:

17 der Rolle von Professionalisierung, Partizipation, kulturellen Praktiken, vomUmgangmit Kunstobjekten und von den Vernetzungen der Akteure.2 Die Ausgangsbasis von sozialen Aushandlungsprozessen bildet für das PARVENUE-Projekt dabei materielle Kultur. Welche Rolle spielenObjekte der materiellen Kultur, in unserem Kontext Kunstobjekte, welche Funktion haben sie im Hinblick auf ihren Gebrauch innerhalb solcher Prozesse auf konkreten ›Schauplätzen‹? Wie können Kunstobjekte als ›Gegenstände des menschlichen Handelns‹ in sozialen Aufstiegsszenarien untersucht werden?3 ›Die Sprache der Objekte – Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen‹, so auch der Titel der Förderbekanntmachung des BMBF, impliziert einen objektzentrierten, kulturtheoretischen Zugriff, der wiederum mit sozialhistorischen und praxeologischen Herangehensweisen komplementiert werden muss.4 Soziale Aufstiegsprozesse und Theorien sozialen Handelns Diverse Sozial- und Kulturtheorien befassen sich zwar mit materieller Kultur und ihrem inhärenten Wissen, doch begreifen sie menschliches Handeln, den Umgang mit Objekten und ihren Gebrauch als Distinktionsmerkmale meist als begrenzte Akte zwischen Subjekten, die sich der materiellen Kultur in objektivierter Formbedienen. Umdie einseitigeWirkrichtung einer solchen traditionellen Subjekt-Objekt-Zuordnung zugunsten einer auch konstituierenden Rolle der Objekte zu verschieben, braucht es theoretische Lösungen.5 Diese Lücke versuchen diverse praxeologische Ansätze zu füllen. Nach Bruno Latours Auffassung wird materielle Kultur innerhalb sozialer Praktiken neben menschlichen Akteuren selbst zumAkteur. Objekte und Dinge können so von Subjekten interpretiert werden, geben aber auch selbst einen gewissen sozialen Handlungsrahmen vor, innerhalb dessen mit ihnen umgegangen wird und sie sich anwenden lassen.6 Objekte werden nach Latour zu gleichberechtigten Aktanten in einem sozialen Netzwerk, das Grundlage für die von ihm mitentwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ist.7 Die Gleichberechtigung der Aktanten ist zugleich Anlass für Kritik an dieser Methode. Die Anwendbarkeit dieses Konzepts auf vormoderne Szenarien wird eingeschränkt durch eine im Vergleich zur Moderne und Gegenwart geringere Anzahl sozial relevanter Objekte und eine womöglich schwierigere Quellenlage für die Rekonstruktion der objektbiografischen Relation von Objekten undMenschen.8 Innerhalb einer Theorie sozialer Praktiken kann die ANT nach Reckwitz so in Verbindungmit einempraxeologischen Verständnis vonmaterieller Kultur Objekte, und damit auch Kunstobjekte, als nicht nur auf verschiedene Weisen interpretierbar, sondern auch als vielfältig in spezifischen Kontexten einsetzbar charakterisieren.9 Die Verwendung von Objekten kann erst Auswirkungen zeigen, wenn sie von den damit Handelnden verstanden werden und als Teil sozialer Praktiken den erforderlichen kulturellen Codes entsprechen. Dabei ist ihre Verwendung nur spezifisch zu einem Zweck möglich, eine willkürliche Behandlung wird hingegen nicht zum Erfolg führen.10 Dies ist besonders relevant in Aushandlungsprozessen imKontext eines intendierten sozialen Aufstiegs: Das Soziale stellt daher jene Ebene der sozialen Regeln dar, innerhalb der individuelle Akte überhaupt erst From ›Social Structure‹ to ›Artefacts‹, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 32, 2002, S. 195 –217, S. 206; Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1861), 7. Aufl., Frankfurt am Main 2019. 6 Reckwitz (wie Anm. 5); Dagmar Freist, Materielle Praktiken in der Frühen Neuzeit. Zur Einführung, in: Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 3), hg. von Arndt Brendecke, Köln u.a. 2015, S. 267–274, hier S. 270; Bruno Latour, On Actor-Network-Theory. A FewClarifications, in: SozialeWelt, 47, 1996, S. 369 –381, hier S. 372. 7 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 208; Bruno Latour, Reassembling the social. An introduction to actor-network-theory (Clarendon lectures in management studies), Oxford u.a. 2005. 8 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 209; Kim Siebenhüner, Things that matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 42, 2015, S. 373 – 409, hier S. 384. 9 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 210; Freist (wie Anm. 6), S. 267. 10 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 212. 11 Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken / Basic Elements of a Theory of Social Practices, in: Zeitschrift für Soziologie, 32, 2003, S. 282–301, hier S. 287; siehe Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischenMethode (Suhrkamp TaschenbuchWissenschaft, Bd. 464), 8. Aufl., Frankfurt am

18 stattfinden können, und greift damit eine normorientierte Handlungstheorie des Homo sociologius auf, wie sie schon bei Durkheim (1895) oder Parsons (1937) verwendet wurden.11 Objekte werden so zu einem ›materialisierten Verstehen‹, zu dem Reckwitz betont: »When human agents have developed certain forms of know-how concerning certain things, these things ›materalize‹ or ›incorporate‹ this knowledgewithin the practice (the latter restriction is important because ›as such‹ and beyond complexes of practices things do not incorporate anything—at least from the point of view of a post-Wittgensteinian theory).«12 In diesem Kontext werden auch Bourdieus praxeologische Konzepte von ›Habitus‹, ›Distinktion‹, ›sozialem Feld‹ oder der ›Inkorporiertheit von Wissen‹ deutlich.13 Die Rolle des Subjekts scheint jedoch innerhalb eines praxeologischen Verständnisses die vollständige Gleichberechtigung der menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten im Sinne Latours in einem Netzwerk sozialen Handelns relativieren zu müssen.14 Gleichwohl wandeln sich Wertzuweisungen von Objekten erst durch ein Handeln, ihr eigenes Handlungspotenzial besteht in ihrer eigenen Form, Symbolik und Biografie.15 Betrachtet man das von Theodore R. Schatzki geprägte Konzept des arrangements, in dem Menschen, Objekte und Organismen interagieren, Positionen einnehmen und diese praktischen Vollzüge ihre bestehenden Relationen untereinander stetig aktualisieren, wird die Nähe zur ANT deutlich.16 Schatzki betont jedoch das handelnde Moment, die Praktiken (practices), neben den arrangements als notwendiges zweites Prinzip für die Konstituierung sozialer Phänomene und ergänzt damit die ANT in einem für die Untersuchungsgegenstände des Forschungsprojekts zentralen Aspekt.17 Das Handeln, die Praktik, ist dabei untrennbar von der routinierten Körperlichkeit des Akteurs zu trennen und umfasst sowohl die ›Inkorporiertheit von Wissen‹ als auch die Performativität des Handelns selbst.18 Die ANT bietet wiederum ein methodisches Beschreibungswerkzeug für ein soziales, auf dem Umgang mit und der Bedeutung von Objekten basierendes Phänomen, das die Abfolgen der einzelnen Schritte des Umgangs mit diesen Kunstobjekten in einem spezifischen sozialen Kontext in Form von Akteur-Netzwerken nachzeichnet.19 Skizzierungen zu einem praxeologischen Deutungsschema für einen (kunst-)objektbasierten sozialen Aufstieg Vor dieser Folie soll daher ein Deutungsschema skizziert werden, das gesellschaftliche Aufstiegsprozesse von Individuen anhand eines spezifischen Gebrauchs von und Umgangs mit Kunstobjekten zeigen kann und damit an sich eine soziale Praktik darstellt.20 Diese Umgangsweisenmit Kunstobjekten auf einer Mikroebene, die über ihre bloße Beschreibung in Formvon Inventaren, Korrespondenzen Main 2014; Talcott Parsons, The structure of social action. A study in social theory with special reference to a group of recent European writers, New York 1968. 12 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 212. 13 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 291), 3. Aufl., Frankfurt am Main 2012; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Suhrkamp TaschenbuchWissenschaft, Bd. 1066), 9. Aufl., Frankfurt am Main 2015; Pierre Bourdieu, Méditations pascaliennes (Collection Liber), Paris 1997. 14 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 214; Marian Füssel und TimNeu, Reassembling the Past?! Zur Einführung, in: Akteur-Netzwerk-Theorie undGeschichtswissenschaft, hg. vonMarian Füssel und Tim Neu, Paderborn 2021, S. 1 –26, hier S. 21. 15 Wenzel (wie Anm. 3), S. 198. 16 Theodore R. Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park 2002, S. 20–25; Theodore R. Schatzki, Materiality and Social Life, in: Nature and Culture, 5, 2010, S. 123 –149, hier S. 135; Freist (wie Anm. 6), S. 272. 17 Schatzki (wie Anm. 16), S. 134 –135. 18 Reckwitz (wie Anm. 5), S. 290. 19 Füssel/Neu (wie Anm. 14), S. 19 –20; Tim Neu, ANT als geschichtswissenschaftlicher Ansatz, oder: Kurzreiseführer für eine flacheWirklichkeit voller Assoziationen, Handlungsträger und Textlabore, in: Akteur-Netzwerk-Theorie undGeschichtswissenschaft, hg. vonMarian Füssel und TimNeu, Paderborn 2021, S. 27–72, hier S. 50; Bruno Latour, Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige Klarstellungen, in: Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Sapiro (Bruno Latour und die Aufklärung. Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2017), hg. von Lore Knapp, Bielefeld 2019, S. 45 – 66, hier S. 63; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main 2010, S. 230–231. 20 Bislang hat sich

19 oder Reiseberichten hinausgehen, sind bislang wenig empirisch erforscht. Durch den Gebrauch von Objekten verändern sich Kontexte fortwährend, die Objekte, und damit auch Kunstobjekte, transformieren sich und werden symbolisch umgewertet.21 Im Kontext des PARVENUE-Projekts geht es daher imSpannungsfeld zwischen Subjektivierungsprozessen und Kunstobjekten umdie Frage nach der materiellen Basis für die erfolgreiche Weitergabe von Wissen, Erfahrungen und Erkenntnissen, die dadurch bedingte Entstehung von sozialen Räumen und Zeiten sowie umAuswirkungen derWissenstradierung auf das tradierteWissen selbst.22Wie können sich soziale Ordnungen und relationale Positionen von aufsteigenden Individuen als Subjekte in Praktiken konstituieren, verworfen oder wieder neu ausgerichtet werden?23 Kunstobjekte sind in diesen Aufstiegsszenarien zentral für die Akzeptanz in der jeweiligen Zielgesellschaft: Es gibt in jeder elitären Gruppe spezifische Repräsentationsstandards und kulturelle Codes, die wahrgenommen, verstanden und richtig angewendet werden müssen. Im 18. Jahrhundert, dem Untersuchungszeitraum des PARVENUE-Projekts, ist eine kulturelle Prachtentfaltung zu beobachten, die vor allem mit kostspieligen Investitionen in diverse künstlerische Gattungen einherging. Zu diesen zählten unter anderemBauwerke, Gartenanlagen, Raumausstattungen, Gemälde, Skulpturen, Möbel, Textilien und Porzellan – all dies soll hier verallgemeinernd als Kunstobjekte bezeichnet werden. Die sichtbare Dokumentation des eigenen Rangs und Status durch aufwendige Kunst- und Bauwerke hatte eine bedeutende soziale Dimension, die bewusst eingesetzt wurde.24 Gerade Bauwerke besaßen in Adelsgesellschaften, aber nicht nur dort, zudemdie Funktion einer Memorialpraktik. Eindrucksvolle Schlösser und Herrenhäuser wurden mit Wappen und anderen Herrschaftszeichen der Auftraggeber versehen und bewahrten so dauerhaft das Ansehen der Familie.25 Pečar stellt etwa für Adelsgesellschaften sehr genau heraus, dass Kunstverständnis sogar als Grundlage einer »höhere[n] Diginität« des Adels angesehen wurde und dieser somit verpflichtet war, die richtigen künstlerischen Mittel mit bestimmten ästhetischen Qualitäten für eine gelungene Repräsentationsstrategie auszuwählen.26 Zugehörige Akteure, und das gilt wieder für alle elitären Gruppen, beherrschten damit die jeweiligen kulturellen Codes, während außenstehende Adressat:innen in die Rolle des staunenden Publikums versetzt wurden.27 Es galt also für Aufstiegswillige, diese impliziten Regeln für einen erfolgreichen Umgang mit Kunstobjekten zu dechiffrieren und danach zu handeln. Latours kulturelle Mechanismen und Schatzkis vier Hauptelemente von sozialen Praktiken bilden den Anstoß für folgende Überlegungen, die die ANT als methodisches Beschreibungswerkzeug für Phänomene von kunstobjektbasierter sozialer Mobilität theoretisch weiterentwickeln sollen.28 Das Ausgangsproblem für individuelle Aufsteigerinnen und Aufsteiger ist zunächst die im Setting ihres Innerhalbs fehlende Ökonomie, etwa kulturelles und symbolisches Kapital, um eine Position in der im Außerhalb liegenden avisierten Zielgesellschaft zu erreichen. Das Innerhalb bezeichnet die ›Innenwelt‹ und die ›Mikroebene‹ des Akteurs, das Außerhalb umfasst die ›Außenwelt‹ oder ›Makrodie historische Frühneuzeitforschung überwiegend mit gesellschaftlichen Kollektiven und ihren Aufstiegsambitionen zu Funktionseliten im Kontext von städtischen Gesellschaften, aber auch bürgerlich-bäuerlichen Eliten befasst, siehe eine Übersicht bei Dagmar Freist, »Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen«. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (Praktiken der Subjektivierung, Bd. 1), hg. von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 151 –174, hier S. 152–155. Für die Kunstgeschichte steht eine grundlegende Befassung mit diesem Thema noch aus. Das ›PARVENÜ‹-Projekt möchte eine strukturierte Auseinandersetzung mit diesen subjektivierten Phänomenen anstoßen. 21 Hans Peter Hahn, Die Unsichtbarkeit der Dinge. Über zwei Perspektiven zu materieller Kultur in den Humanities, in: Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, hg. von Herbert Kalthoff, Torsten Cress und Tobias Röhl, Paderborn 2016, S. 45 – 62, hier S. 59; Wenzel (wie Anm. 3), S. 198–199. 22 Henning Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2011, S. 13 –14. 23 Freist (wie Anm. 20), S. 161; Thomas Alkemeyer, Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (Praktiken der Subjektivierung, Bd. 1), hg. von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 33 – 68. 24 Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711 –1740) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2003, S. 266. 25 Ebd., S. 267. 26 Ebd., S. 268. 27 Ebd., S. 269. 28 Bruno Latour, Gebt mir ein Laboratoriumund ich werde dieWelt aus den Angeln heben, in: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie, hg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, Bielefeld 2006, S. 103 –134; Schatzki (wie Anm. 16).

48 Der Parvenü als Darstellungsproblem Visualisierungen des sozialen Aufsteigers und Bildstrategien zu seiner Abwehr Julian Blunk Jean de la Bruyère 1688 formulierte Jean de La Bruyère (Abb. 1) in seinem Buch ›Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle‹ eine bemerkenswerteWarnung in Bezug auf die Repräsentationsstrategien des gesellschaftlichen Emporkömmlings, der seinen sozialen Rang nicht zuletzt über die Verwendung ständischer und nicht selten exaltierter Kleidung zu reklamieren und zu festigen suche. La Bruyère schrieb: »Eben dieselbenModen, welchen dieMenschen in Bezug auf ihre Personen so gern nachjagen, suchen sie in den Bildern von sich zu vermeiden, als wenn sie das Unschickliche oder Lächerliche empfänden oder voraussähen, das diese dem Blicke darbieten könnten, sobald sie das, was man die Blüthe oder den Reiz der Neuheit nennt, verloren haben. Sie ziehen diesenModen eine Art willkürlichen Schmuckes vor, eine gleichgültige Gewandung, Phantasieeinfälle des Malers, die weder mit der Miene, noch mit den Gesichtszügen in Übereinstimmung sind, und weder an die Charaktere, noch an die Personen erinnern.«1 1 Jean de La Bruyère, Die Charaktere oder die Sitten im Zeitalter Ludwigs XIV., aus dem Frz. übers. von Karl Eitner, Hildburghausen 1870 (Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle, Paris 1688), S. 339. La Bruyères Zeitgenoss:innen waren von diesem nicht namentlich kenntlich gemacht worden, aber für den Kenner dennoch zu identifizieren. Unter demNamen Onuphrius charakterisiert La Bruyère einen Emporkömmling, der seinenMangel an genealogisch begründeten Erbansprü-

49 Nicht nur täusche der Parvenü seine Umwelt über seine auffällige und unangemessene Bekleidung und über sein gekünsteltes Auftreten. »Er [der Blender] vergißt nicht, Vortheil aus der Verblendung seines Freundes zu ziehen, sowie aus demgünstigen Vorurtheil, das er ihn für sich hat fassen lassen.«2 Vielmehr täusche er seine Zielgesellschaft, also das Umfeld, in das er aufzusteigen strebt, indem er ebendieses Handeln gleichsam abzuleugnen trachte, sobald ein Bild- und Speichermedium dieses dauerhaft zu exponieren drohe. Die Selbstinszenierung des Parvenüs sei somit doppelt falsch, weil sie in Täuschungsabsicht die Täuschungsabsichten des alltäglichenModegebrauchs und des einverleibten Habitus zu kaschieren versuche. Der Parvenü wolle als solcher nicht erkannt werden. Die Strategien seiner bleibenden Selbstinszenierungen bestünden deshalb in der öffentlichen Zurücknahme der eigenen Ansprüche, im Bestreben, gleichsam belastende Beweise der eigenen sozialen Ambitionen zu vermeiden, wenn nicht sogar abzuleugnen. Wollen wir La Bruyères Beobachtungen Glauben schenken, käme seine Verkleidung im vom Parvenü in Auftrag gegebenen Bild somit einem Kaschieren des Kaschierens gleich, also einer doppelten Verneinung der eigenen Identität. Es sei dahingestellt, ob La Bruyère beimVerfassen dieser Zeilen auch die eigene Biografie und soziale Rolle im Auge hatte – auch er war bürgerlicher Herkunft, hatte den eigenen Adelstitel erst dem Kauf eines Amtes in der Finanzverwaltung von Caens im Jahr 1673 zu verdanken und blickte somit selbst auf eine klassische Parvenükarriere zurück.3 Fest steht aber mit Blick auf seine Beobachtungen, dass schon vor dem Beginn des Zeitalters des vermehrten raschen bürgerlichen Aufstiegs ein Problembewusstsein manifest und öffentlich problematisiert wurde, gemäß welchem man sich gegen die vermeintlich auf Täuschung zielenden Selbstinszenierungen des Parvenüs als eines neuen Sozialtyps wappnen zu müssen meinte.4 La Bruyéres Sorge dokumentiert das Bedürfnis nach einer Gegenstrategie, nach einemWeg der sicheren Entlarvung der Parvenüs auch und gerade mithilfe der visuellen Kommunikationsmedien. Dieses blieb in der Folge virulent. Wollte man den Parvenü als solchen ausstellen, galt es, den Graben sichtbar werden zu lassen, der den von ihm erzeugten Schein von seinem tatsächlichen Sein zu trennen schien. chen über allerlei Finten zu kompensieren trachtet. 2 Ebd., S. 345. 3 1693 wurde La Bruyère in die Académie française aufgenommen, wo er nicht zuletzt als Parteigänger der Anciens gegen die Modernes agieren sollte. 4 Zu diesem Komplex vgl. auch Denise Amy Baxter, Parvenu or honnête homme. The collecting practices of Germain-Louis de Chauvelin, in: Journal of the History of Collections, Bd. 20, Nr. 2 (2008), S. 273 –289. Abb. 1 Élisabeth Vigée-Lebrun, Jean de la Bruyère, 1775 (Kopie eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert), Schloss Versailles

50 Buffon und Shelley Unzählige Male und mit je unterschiedlichen moralischen Gewichtungen ist die Kluft zwischen dem eigentlichenWesen einesMenschen und seiner uneigentlichen Hülle als unüberwindlich ausgewiesen worden. Bereits 1753 erteilte George-Louis Leclerc de Buffon in seiner Antrittsrede in der Académie française mit seinem vielzitiertenWort »Der Stil ist der Mensch selbst«5 wohl nicht zuletzt auch den Hoffnungen des Emporkömmlings auf einen substanziellen und glaubwürdigen Neuentwurf seines Selbst eine klare Absage. Persönlicher Stil – gemeint ist bei Buffon der rhetorische – erwachse aus demDenken, demWesen, der Sprache und demHabitus desMenschen und sei damit sowohl ungleich als auch immun gegenüber jeder äußerlichen Stilisierung: »Wahre Eloquenz setzt die Übung des Genies und die Kultivierung des Geistes voraus. Sie ist etwas völlig anderes als die natürliche Leichtigkeit des Sprechens [...]. Diese Männer [...] markieren sie stark nach außen [...].«6 Das Scheitern jedes entsprechend kalkulierten Schauspiels plausibilisiert Buffon nicht nur über den Verweis auf die nicht zu verkürzende Dauer einer sozialen Identitätsbildung, sondern auch über die bemerkenswerte Fokussierung der Figur des menschlichen Körpers als eigentlichem Fluchtpunkt seiner Argumentation: »Es ist der Körper, der zumKörper spricht.«7 Der Stil sei dieOrdnung der Gedanken und erwachse aus demGeist des Redners: »Die Ideen allein bilden das Fundament des Stils, die Harmonie derWorte ist nur Accessoire und hängt letztlich von der Empfindlichkeit der Organe ab.«8 Im Verbund legen Körper und Sozialisation somit eine geradewegs naturgesetzliche Unterscheidung von echtem, innerlichem und falschem, da äußerlich appliziertem Stil nahe: »Der Stil ist der Mensch selbst. Der Stil kann also weder entfernt noch transportiert noch verändert werden.«9 Ganz im Sinne Buffons wird in der Erzählung ›The Parvenue‹ aus dem Jahr 1836 noch Mary Shelleys in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Ich-Erzählerin Fanny, die die eigene Familie über ihre Eheschließung mit dem sozialen Aufsteiger Reginald vom Joch der Armut zu befreien hofft, an der konfrontativ in Stellung gebrachten Diskrepanz zwischen der eigenen Sozialisation und den äußeren Zwängen eines nicht erlernten Kommunikationssystems scheitern, das zwangsläufig als künstlich empfunden werden muss.10 Da Fannys seelische Entwicklung nicht mit dem Glücksrad der Fortuna schrittzuhalten vermag, muss selbst ein Gefallen am Luxus ausbleiben: »Ich könnte und ich würde nicht zwanzig Guineen für ein Kleid ausgeben, während ich mit der gleichen Summe viele traurige Gesichter einkleiden und viel Freude in viele schwere Herzen bringen könnte.«11 So lässt sich ihre Spannung zwischen sozialem Verantwortungsbewusstsein und gesellschaftlicher Etikette am Ende einzig im Verbund mit der Ehe selbst auflösen – an ihrer statt nimmt Reginald ein »high born girl«12 zur Frau. Wenngleich Shelley diemoralische Überlegenheit somit Fanny undmit ihr entschieden dem dritten Stand zuspricht, eint sie doch mit Buffon die Einsicht, dass die eigene, von Dauer geprägte Sozialisation und Identitätsbildung und mit ihnen auch der eigene Erlebnishorizont sich von einer schnell erlernten oder erkauften Äußerlichkeit nicht substanziell umformen lassen. Dem von Buffon auf dem Gebiet der Rhetorik diskutierten und von Shelley literarisierten Problem hatte freilich auch die bildende Kunst zu begegnen: Der Parvenü als Schlüsselfigur sowohl der Beschleunigung13 als auch der Äußerlichkeit und Nachahmung ist ein Darstellungsproblem – nicht nur für diesen selbst, sondern nicht zuletzt auch aus Sicht seiner Kritiker:innen und vermeintlichen 5 »[...] le style est l’homme même«, George-Louis Leclerc de Buffon, Discours sur le style (1753), in: ders., Œuvres complètes de Buffon, hg. von M.F. Cuvier, Paris 1829, Bd. 1, S. 3 –14, hier S. 12. 6 »La véritable éloquence suppose l’exercice du génie et la culture de l’esprit. Elle est bien différente de cette facilité naturelle de parler [...]. Ces hommes [...] le marquent fortement au dehors [...].«, ebd., S. 4. 7 »C’est le corps qui parle au corps«, ebd., S. 4. 8 »Les idées seules forment le fond du style, l’harmonie des paroles n’en est que l’accessoire, et ne dépend que de la sensibilité des organes.«, ebd., S. 11. 9 »[...] le style est l’homme même. Le style ne peut donc ni s’enlever, ni se transporter, ni s’altérer.«, ebd., S. 12. 10 Mary Shelley, The Parvenue (1836), in: dies., Tales and Stories, o.J., o.O., S. 237–246. 11 »I could not, i would not, spend twenty guineas on a gown, while I could dress many sad faces inmiles, and bring much joy to many drooping hearts, by the same sum.«, ebd., S. 241 –242. 12 Ebd., S. 246. 13 Vgl. hierzu meinen Text ›Figuren der Beschleunigung. Zur Unterscheidung von Stil undMode‹ in diesemBand. 14 La Bruyère (wie Anm. 1), S. 340–341. Wenig später

51 Opfer. Wie ließe sich ein anwechselhaftenModen und dynamischen Repräsentationsanliegen orientiertes Individuumadäquat ins Bild setzen?Welche visuellenMittel könnten seine ›Arglist‹ entlarven, sein ›falsches Schauspiel‹ markieren und dessen geplante Wirkung ins Leere laufen lassen? Bereits La Bruyères Schrift selbst nennt dieses Darstellungsproblem explizit beim Namen, um die untilgbare Kluft zwischen aufgesetztem und echtem Stil über eine geschickte Wendung beiläufig auch in einen Paragone zwischen dem tagesaktuellen Kommunikationsmediumder Kleidung und dem auf Dauer angelegten Medium der Malerei zu überführen. In einem Gedankenexperiment versetzt sich La Bruyère in die Rolle eines Malers, der beauftragt ist, das flatterhafte Wesen seines Auftraggebers auf die Leinwand zu bannen: »Die Farben sind gemischt, die Leinwand ist aufgespannt. Aber wie nun diesen unruhigen, beweglichen, unbeständigen Menschen, der tausend- und aber tausendmal seine Züge und seinen Charakter verändert, auf die Leinwand bringen? Ich male ihn als Frommen, ich glaube ihn getroffen zu haben; aber er entwischt mir, schon ist er wieder Libertin. Möchte er nun wenigstens in dieser üblen Verfassung verbleiben, so werde ich ihn in einem Moment seiner Herzens- und Geisteswüstheit, worin er gewiß wiederzuerkennen sein wird, aufzufassen wissen. Aber die Mode drängt, und er ist wieder Frömmling.«14 Nach Einschätzung La Bruyères offenbart sich also der Wechsel der Mode als zu schnell für den Pinsel des Malers: Der Werkprozess, mitunter bereits die einzelne Modellsitzung sei zu zeitintensiv, als dass ein Gemälde den Volten des Emporkömmlings gerecht werden könnte. Entsprechend waren auch auf visueller Ebene verschiedene Wege zu erproben, um eben diese Differenz einer gleichsam dem Körper eingeschriebenen Sozialisation und seiner nach Tageslaune gewählten äußeren Hülle zu markieren. Einige der geläufigsten Strategien dieser Überzeichnung, mit denen sich die immer gleichen Dichotomien15 – neuerlich ganz im Sinne Buffons – stets in körperbezogene Klassifizierungen übersetzen ließen, denen in ihren Überzeichnungen von Habitus, Spezies oder Geschlecht stets das Mittel der satirischen Überzeichnung gemein blieb, sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Differenzkriterium Habitus: Haltung, Gestik, Mimik Ludwig XIV. von Frankreich war als Zentrum des von La Bruyère so ausführlich beschriebenen sozialen Schauspiels selbst alles andere als ein Emporkömmling. Dennoch mag William M. Thackerays berühmte Karikatur von 1840 (Abb. 2), die den absolutistischen König im Rekurs auf Hyacinthe Rigauds Staatsporträt von 1701/0216 unmissverständlich als eine Art »Anziehpuppe demaskiert«17 und den Sonnenkönig somit retrospektiv buchstäblich als einen Schausteller des Ancien Régime und Rigaud als dessen kunstfertigen Erfüllungsgehilfen ›entlarvt‹ hat, ein instruktives Beispiel für das im Bild zu lösende Problem bieten. Thackerays Verfahren ließe sich dekompositorisch nennen: DieWirerklärt La Bruyère seinen Begriff des Frömmlings wie folgt: »Ein Frömmling ist derjenige, der unter einem atheistischen Könige Atheist sein würde.« Ein wahrer Frommer sei dagegen »geheilt von Prunk und Ehrgeiz«, ebd., S. 342. Der »Scheinheilige« indes »versteht seine Rolle zu spielen« (ebd., S. 343) und behielte sein Publikum gleichsam im Auge. 15 Vgl. hierzu meinen Text ›Figuren der Beschleunigung. Zur Unterscheidung von Stil und Mode‹ in diesem Band. 16 Zu Rigauds im Pariser Louvre befindlichen Porträt Ludwigs XIV. vgl. ausführlich Kirsten Ahrens, Hyacinthe Rigauds Staatsporträt Ludwigs XIV. Typologische und ikonologische Untersuchung zur politischen Aussage des Bildnisses von 1701, Worms 1990. 17 Matthias Müller, Unfassbare Komplexität und überwältigtes Staunen: Die theaterhafte Inszenierung höfischer Räume im Dienst der königlichen Evidenz, in: Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa: Hof – Oper – Architektur, hg. von Margret Scharrer, Heiko Laß, Matthias Müller und Klaus Pietschmann, Heidelberg 2020, S.41 – 65, hier S. 61.

Geschmack Prestige

65 Künstlerinnen- Parvenüs Rosalba Carrieras innovatio und ihre Kunst der Dissimulation Philipp Zitzlsperger An den Künstlerinnen des 18. Jahrhunderts lässt sich das Parvenüwesen wie unter einem Brennglas studieren – denn die Herausforderungen, denen sich Parvenüs in ihrem Kampf um Aufstieg und Anerkennung stellen mussten, galten für sie in verstärktem Maß. Bekanntlich legte das Patriarchat Frauen generell viele Steine in den Weg des Aufstiegs – Hindernisse, die man in der Gegenwart zum Teil immer noch studieren kann. Für das ›Parvenü‹-Forschungsprojekt sind die Karrieren der Künstlerinnen deshalb so interessant, weil sie besonderer Strategien bedurften, um in ein selbstbestimmtes Berufsleben aufzusteigen – Strategien, die von starkem Innovationspotenzial zeugen. Auch an dieser Stelle sei betont, dass der Parvenü-Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch zwar negativ konnotiert ist, im ›Parvenü‹-Forschungsprojekt jedoch ohne Wertung in Gebrauch ist. Wie in meinem Text ›Eine kleine (Begriffs-)Geschichte des Parvenüs‹ in diesem Band dargelegt, ist statt der bisherigen Geringschätzung der Parvenüs1 exemplarisch ihre gesellschaftliche Rolle als Gestalter und Erneuerer zu beleuchten. Denn unterschätzt wird in der Regel, dass Parvenüs demKlischee der Parasiten und Nachahmer weit weniger entsprachen, als es die pejorative Wortbedeutung suggeriert. Das Klischee kolportiert Imitatoren, welche die Eliten nachahmen und sie umschmeicheln, um sich in ihren Kreisen festzusetzen. Die Elitenkreise – so das Narrativ – empfanden Parvenüs als Fremde und Eindringlinge. Das Stereotyp verfestigte sich in der Literatur und Alltagssprache, bildet jedoch nicht den Stand der neueren Forschung ab undwird den historischen Akteur:innen nicht gerecht, wie 1 Da die deutsche Sprachgeschichte den Begriff ›Parvenü‹ im generischen Maskulinum geprägt hat, es in diesem Aufsatz jedoch vornehmlich umweibliche Aufsteigerinnen geht und sich eine unkritische Verwendung (›der Parvenü‹) somit verbietet, wird der Begriff im Folgenden weitgehend im Plural ›Parvenüs‹ verwendet, um unmissverständlich beide Geschlechter einzuschließen. Diese pragmatische Vorgehensweise empfiehlt sich in Ermangelung einer weiblichen oder geschlechtsneutralen Singular-Variante des Wortes ›Parvenü‹.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1