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23 Studia Jagellonica Lipsiensia DOROTHÉE ANTOS Das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel (1525) Historischer Kontext – Stilfrage – Werkstatt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022, Sandstein Verlag, Goetheallee 6, 01309 Dresden Umschlagabbildung: Ausschnitt aus der Apostelzone des Schreins des ehemaligen Zwettler Hochaltarretabels, heute Adamov, Röm.-kath. Pfarrkirche St. Barbara (Foto: Miroslav Zavadil) Bildredaktion: Sarah Weiselowski, Berlin Gesamtredaktion: Markus Hörsch, Leipzig/Bamberg Korrektorat: Sandstein Verlag, Dresden Einbandgestaltung: Sandstein Verlag, Dresden Gestaltung, Satz, Reprografie: Sandstein Verlag, Dresden Druck: FINIDR, s.r.o., Český Těšín www.sandstein-verlag.de ISBN 978-3-95498-727-6 Gedruckt mit Unterstützung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) e.V. in Leipzig. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Der Titel ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.sandstein-verlag.de, DOI: 10.25621/sv-gwzo/SJL-23 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Non Commercial 4.0 Lizenz (BY-NC). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für nicht kommerzielle Zwecke (Lizenztext: https://creativecommons.org/ licenses/by-nc/4.0/deed.de). Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. Die vorliegende Studie wurde von der Philosophischen Fakultät und dem Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Tag der mündlichen Prüfung: 30. Juni 2017 Vorsitzende des Promotionsorgans: Prof. Dr. Heike Paul Gutachter*innen: 1. Prof. Dr. Heidrun Stein-Kecks 2. PD Dr. Jiří Fajt PhD 3. Prof. Dr. Christina Strunck

23 Das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel (1525) Historischer Kontext – Stilfrage – Werkstatt DOROTHÉE ANTOS SANDST E I N

Inhalt 8 Vorwort 11 1 Einführung 18 2 Beschreibende Analyse des Retabels 19 2.1 Aufbau und technische Informationen 19 2.2 Restaurierungen 24 2.3 Polychromie 25 2.4 Der Schrein 31 2.5 Rekonstruktion des Retabels nach den Bildquellen 38 3 Forschungsstand 42 4 Stifter und Stiftungsumstände des Hochaltarretabels 43 4.1 Abt Erasmus Leisser (1485–1545) 43 4.1.1 Klostereintritt und Studienjahre an der Universität Wien 44 4.1.2 Die Wahl zum Abt 1512 45 4.1.3 Die Voraussetzungen für die Ausstattungskampagne ab 1512/13 50 4.1.3.1 Das Bernhardiretabel (1500) 53 4.1.3.2 Chorgestühl (1502) und Kreuzaltar (1515) 56 4.1.3.3 Wandmalereien (1513) 57 4.1.3.4 »tabula [...] ad gradu presbiterii posita«: Das zweite Bernhardiretabel (1517/18) 59 4.1.3.5 Eichentruhe (1520) und Familienwappen (ab 1512) 60 4.1.3.6 Das Hochaltarretabel (1525 vollendet) 62 4.1.3.7 Das Sakramentshaus (vermutlich 1526 vollendet) 64 4.1.3.8 Die Kanzel (1556) 65 4.2 Johann IV. von Kuenring-Seefeld (1481–1513) und seine Stiftung zu Ehren der Deipara Assumpta (1509) 70 4.3 Die Kuenringer und Stift Zwettl 70 4.3.1 Zur Frühgeschichte der Familie 72 4.3.2 Die Gründung des Klosters Zwettl 1137 als Hauskloster der Kuenringer 75 4.3.3 Die Kuenringer und Zwettl zu Beginn des Spätmittelalters 76 4.3.4 Die Kuenringer im 15. und 16. Jahrhundert 78 4.3.5 Besitzungen Johanns IV. und das kuenringische Erbe 79 4.3.6 Anknüpfung an die Kuenringer-Stiftung: Der neue Standort Adamov

86 5 Ikonografische Analyse 87 5.1 Besondere Akzente früherer Forschung 87 5.2 Ein mariologisches Programm 89 5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel 91 5.3.1 Martin Luthers Haltung zu Ablass, Heiligenverehrung und Bildgebrauch – ein chronologischer Überblick 96 5.3.2 Das Marienverständnis anderer Reformatoren 96 5.3.3 Die Reformation im habsburgischen Österreich 97 5.3.4 Frühe antireformatorische Bilder und »katholische« Bildthemen 104 5.4 Das Zwettler Retabel – ein konfessionsparteiliches Bildprogramm 104 5.4.1 Assumptio Mariae 106 5.4.2 Regina Coeli 110 5.4.3 Maria als Mediatrix 113 5.4.4 Die Mondsichelmadonna und die Bedeutung der Apokalypse im Schrein 116 5.4.5 Maria – Ecclesia triumphans 117 5.4.6 Der Eichenbaum – Monasterium triumphans 118 5.4.7 Gottvater mit der Tiara? 121 5.4.8 Der heilige Hieronymus in der Hohlkehle 121 5.4.8.1 Die Bedeutung des Kirchenvaters für reformatorische und antireformatorische Kräfte 124 5.4.8.2 Ein Identifikationsporträt des Erasmus von Rotterdam 126 5.4.8.3 Der Evangelist Lukas? 127 5.4.8.4 Im Kontext der anderen Hohlkehlenfiguren 128 5.4.9 Regina virgo – ein bildgewordener Marienhymnus 129 5.4.9.1 Die Walnuss 130 5.4.9.2 Beata Dei Genitrix Maria 131 5.4.10 Sakramentshaus und Schmerzensmann 134 5.5 Memoria und Erlösung: Flügel und Gesprenge 136 5.6 Zusammenfassung

146 6 Öffentlichkeit im Kloster 147 6.1 Die Mönche 147 6.2 Die Konversen 148 6.3 Adelige Laien in der Kirche 148 6.3.1 Entwicklung adeliger Grablegen und zugehöriger Stiftungen 150 6.3.2 Totengedächtnisfeier für Johann IV. von Kuenring (1513) 152 6.4 Das Retabel als bildgewordene Lehre des alten Glaubens 152 6.4.1 Bildung einer neuen katholischen Elite 153 6.4.2 Reformatorisch gesinnte Adelsfamilien 155 6.4.3 »betreffend erhaltung alter guter christlicher ordnung und geistlichs wesens«: Landesfürstliche Rekatholisierungsmaßnahmen 156 6.4.4 Erasmus Leisser und Johann Fabri 159 6.4.5 Ein Vergleichsbeispiel: Das Hochaltarretabel der Zisterzienserabtei Heilsbronn 162 6.4.6 Tizians Assunta (1516–1518) als kompositorisches Vorbild? 168 7 Stilfragen 169 7.1 Stilbegriffe in der Forschung 172 7.2 »Donaustil«, »Donauschule«, »expressiver Stil« 173 7.3 Gleichzeitigkeit und Bedeutungsvielfalt von Stilen 176 7.4 Zur Stilgenese des Zwettler Retabels – Funktionen und Bedeutung 176 7.4.1 Spätgotischer Formenschatz versus »welsche Form« – Stil als visuelle Argumentation 184 7.4.2 Stil und Ikonografie 186 7.4.2.1 Die Fassung 188 7.4.2.2 Schnitzkunst immedialen Konzert: Das Zwettler Retabel und die Rezeption der Druckgrafik, vor allem Albrecht Dürers, Leonardos und Mantegnas 201 7.4.2.3 Das Astwerk und die nordalpine Renaissance q 6 Inhalt

214 8 Die für Zwettl tätige Werkstatt 215 8.1 Gestaltungsmerkmale 215 8.1.1 Gestaltungstypen der Gesichtsmodellierung, von Körperteilen und Draperien 218 8.1.2 Die Figuren in der Hohlkehle 219 8.1.3 Fazit 220 8.2 Verwandte Werke –Untersuchungen zur Formfindung der Zwettler Werkstatt 220 8.2.1 Das Zwettler Bernhardiretabel (1500) 225 8.2.2 Das Valentinsretabel in der Eligiuskapelle des Wiener Stephansdoms (um 1507) 226 8.2.3 Das ehemalige Hochaltarretabel der Wallfahrtskirche Mauer (etwa 1509–1518) 228 8.2.3.1 Das Mauerer Retabel und die Zwettler Werkstatt 235 8.2.3.2 Das Mauerer Retabel und Veit Stoß 236 8.2.3.3 Zwei »Meister«? 240 8.2.4 Das Gnadenstuhlrelief aus dem Lesehof der Zisterzienserabtei Gottestal (Säusenstein) in Fels amWagram (nach 1511) 245 8.2.5 Das Portal der Wiener Salvatorkapelle (1515 oder kurz danach) 249 8.2.6 Der Ölberg der Melker Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt (nach 1515) 256 8.2.7 Das Epitaph des Stefan Wintperger 256 8.2.8 Thronende Muttergottes mit Kind im Liebieghaus, Frankfurt (um 1520/25) 257 8.2.9 Heiligenfiguren in Pilsen und Eggenburg (um 1525) 258 8.2.10 Das einstige Zwettler Sakramentshaus (wohl 1526 vollendet) 262 8.3 Stilistische Tradition und künstlerische Einflüsse 262 8.3.1 Die Wirkung der Werkstatt des Kefermarkter Retabels 266 8.3.2 Die Kriechbaum-Werkstatt? 268 8.4 Die »Zwettler Werkstatt« im historischen Kontext 268 8.4.1 Bildhauer- und Stifterporträts? 269 8.4.2 Die Werkstatt und Erasmus Leissers Netzwerk 271 8.4.3 Die Lokalisierung der Werkstatt 280 9 Schluss 281 10 Anhang 282 10.1 Quellen, allgemein 282 10.2 Quellen, einzeln chronologisch 288 10.3 Literatur und gedruckte Quellen 301 10.4 Übersicht der für diese Arbeit relevanten Zwettler Äbte 302 10.5 Register 314 10.6 Stammbaum der Kuenringer Inhalt 7 q

Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der ausführlichen Bearbeitung ikonografischer und stilistischer Fragen – Fragen, die bisher den Großteil der Forschung beschäftigten. Weit über eine grundlegende mariologische Betrachtung des Bildprogramms hinausgehend, bietet die ikonografische Analyse einen ganz neuen Interpretationsansatz, der erstmals nahezu alle ikonografischen Elemente – auch den ekstatischen Stil – sinnvoll zu erklären vermag. 1 Einführung Das im Jahre 1525 fertiggestellte Hochaltarretabel des Zisterzienserklosters Zwettl, von dem heute nur noch der Mittelschrein erhalten ist, hat die Retabelforschung von jeher fasziniert, ihr aber auch große Rätsel aufgegeben. Eindrucksvoll sind nicht nur seine Ausmaße mit einer ursprünglichenHöhe von etwa 19m, sondern auch sein außergewöhnlicher, »expressiver« Stil sowie das bisher nur zum Teil überzeugend geklärte Bildprogramm. Bemerkenswert ist zudem, dass ein qualitativ so anspruchsvolles Monumentalwerk in einer Zeit entstand, in der die Nachfrage nach Retabelaufsätzen im Zuge der reformatorischen Umbrüche bereits stark eingebrochen war. Obwohl es sich also um einen in vielerlei Hinsicht interessanten Forschungsgegenstand handelt und es auch nicht an Versuchen gefehlt hat, die Ikonografie, den Stil und die Entstehungsumstände zu erhellen, sind noch viele Fragen ungeklärt. Die vorliegende Arbeit – die erste Monografie über das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel – wird nicht alle dieser Fragen restlos klären können. Doch tragen die gewonnenen Erkenntnisse erheblich zumVerständnis für das Retabel selbst, für die mit dem Auftrag verbundenen gesellschaftlichen wie historischen Hintergründe sowie allgemein für die Bedeutung spätmittelalterlicher Schnitzretabel bei. Einwesentlicher Teil der Studie basiert auf Quellenarbeit. Dabei eröffnen sowohl bereits bekannte Quellen als auchmit demRetabel und dessen Stiftern in Zusammenhang stehende unbekannte Archivalien einen ganz neuen Blick auf die bislang kaum näher untersuchten Stiftungsumstände des Werks: So kann neben dem Zwettler Abt Erasmus Leisser ein weiterer Mitstifter des Retabels bestimmt werden. Auch lässt sichmithilfe von Archivalien das personelle Netzwerk Abt Leissers rekonstruieren, das zum einen Einblicke in dessen umfassende Stiftungskampagne und in gesellschaftliche wie politische Hintergründe im Kloster Zwettl erlaubt und zum anderen die Verbindung möglicher weiterer Auftraggeber der Werkstatt des Zwettler Retabels mit dem Abt andeutet. Abb. 1 Gesamtansicht des Mittelschreins des ehem. Hochaltarretabels der Zisterzienserabteikirche Zwettl. Werkstatt des Zwettler Hochaltars, 1525 vollendet. Linde, H. 650 cm, B. 300 cm. Adamov, Röm.-kath. Pfarrkirche St. Barbara (Foto: Achim Bunz, München) Abb. 2 Zwettl, Gesamtansicht des ehem. Hochaltarretabels im Hochchor der Zisterzienserabteikirche. Unbekannter Künstler, um 1639. Feder, laviert, an mehreren Stellen geknickt; sekundär auf Leinwand kaschiert. H. 53 cm, B. 31,3 cm. Stift Zwettl, Stiftsarchiv, Hs. 3/19 (Foto: Andreas Gamerith, Zwettl, Stiftsarchiv)

q 12 Einführung

 13 q Schließlich wird die Werkstatt des anonymen Meisters des Zwettler Retabels erstmals zusammenhängend erforscht. Auf stilkritischer Basis kann ihr ein großes Œuvre zugewiesenwerden, das zeitlich bis zum Jahr 1500 zurückreicht. Auch neue, der Zwettler Forschung bislang unbekannte Stücke können den bisherigen Zuschreibungen zur Seite gestellt werden. »Die altar seint etwas altvätterisch und ist das Hauptaltar vor ein par hundert Jahren von zweienMüllern [sic] verfertigt worden, so ein baum repräsentirt, da die Sculptur eine grosse embsigkeit aber kein Judiciumweiset, und stehet dieses altar an demjenigen Orth, wo die Aichen gestanden, die am neuen Jahrstag allain gegrünet.«1 Diese um 1730 zu datierende Äußerung des Barons von Hackelberg über das ehemalige Hochaltarretabel des Zisterzienserklosters Zwettl (Abb. 1, 2) stammt aus einer Zeit, in der die Planungen für ein neues, modernes Hochaltarretabel bereits so weit fortgeschritten waren, dass der seit 1722 von Matthias Steinl erarbeitete Entwurf an den Wiener Marmorierer Balthasar Haggenmüller, den Architekten Joseph Munggenast und den Passauer Bildschnitzer Joseph Matthias Götz übergeben werden konnte. Zwischen 1731 und 1733 lieferte Götz den gesamten Skulpturenbestand (Abb. 3). Laut Abt Stephan Rössler (1878–1923) wurde der spätgotische Retabelaufsatz 1732 endgültig durch das barocke Werk ersetzt, das der Kirche noch heute als Hochaltarretabel dient.2 Dem Zitat sind zwei wesentliche Aspekte zu entnehmen, denen sich die vorliegende Monografie über das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel widmet. Der erste Aspekt betrifft die Frage nach der Funktion und der Rolle des außergewöhnlichen Stils. Mit Sicherheit dürfte er die zeitgenössischen Betrachter in ihrer Gesamtwahrnehmung wie in ihrem Verständnis hinsichtlich des ikonografischen Programms stark beeinflusst haben. Noch heute übt er größte Faszination auf sein Publikum aus, wie an den bisweilen fassungslos wirkenden Besuchertrauben der DoppelAusstellung Fantastische Welten – Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500 in Frankfurt am Main und Wien 2014/153 zu beobachten war, die Abb. 4 Zwettl, Westfassade der Zisterzienserabteikirche Mariä Himmelfahrt. Matthias Steinl, Joseph Munggenast, Joseph Matthias Götz, 1727 vollendet (Foto: open source/ Duke of W4) Abb. 3 Zwettl, das barocke Hochaltarretabel der Zisterzienserabteikirche. Joseph Matthias Götz (Bildschnitzer), 1732 aufgestellt (Foto: open source/uoaei1)

q 14 Einführung Abb. 5 Apostelzone des ehem. Hochaltarretabels der Zisterzienserabteikirche Zwettl. Adamov, St. Barbara (Foto: M. Zavadil) Abb. 6 Detail der Apostelgruppe mit Wolkenband und Mondsichel der Mariendarstellung des ehem. Zwettler Hochaltarretabels. Adamov, St. Barbara (Foto: M. Zavadil)

 15 q Abb. 7 Marienzone des ehem. Hochaltarretabels der Zisterzienserabteikirche Zwettl. Adamov, St. Barbara (Foto: M. Zavadil) Abb. 8 Maria und Engelsheer, Detail der Marienzone des ehem. Zwettler Hochaltarretabels (Foto: M. Zavadil)

q 16 Einführung Abb. 9 Trinitätszone des ehem. Hochaltarretabels der Zisterzienserabteikirche Zwettl. Adamov, St. Barbara (Foto: M. Zavadil) sich vor der dort ausgestellten Apostelzone versammelten. 200 Jahre nach seiner Aufstellung im Hochchor (1526) wirkte das Retabel auf den damaligen Betrachter jedoch offenkundig unmodern, »altvätterisch«. Der Begriff »embsigkeit« dürfte den unruhigen, ausdrucksstarken Stil der Figuren umschreiben. Auchwenn nicht auszuschließen ist, dass jene Äußerung die Planungen für einen barocken Nachfolger nachdrücklich unterstützen sollte, spiegelt sie gewiss den damaligen Zeitgeschmack wider. In den 1720er und 1730er Jahrenwurden sowohl die Zwettler Turmfassade (Abb. 4), das Stiftsportal im Abteihof als auch die Bibliothek barockisiert.4 Im Zuge dieser Neuausstattung wurde neben etlichen Seitenaltären auch das zentrale liturgische Ausstattungsstück ersetzt.5 Wiederumvon einem geänderten Zeitgeschmack zeugt die Bewertung des spätgotischen Mittelschreins durch Eduard Freiherr von Sacken im Jahr 1855: Während der qualitativ hochwertigen »Durchführung und [...] Virtuosität« höchstes Lob zukommt, entspreche der Schrein in ästhetischstilistischer Hinsicht nicht dem allgemeinen »Schönheitssinn«.6 Der zweite Aspekt macht durch den Hinweis auf die Gründungslegende auf den engen Zusammenhang des Retabels mit dem Kloster Zwettl aufmerksam. Nicht das ikonografische Programm war offenkundig eine Erwähnung wert, sondern der Eichenbaum, das Alleinstellungsmerkmal des Klosters: Der den spätgotischen Mittelschrein rahmende Eichbaum bezieht sich unmittelbar auf die Zwettler Gründungslegende, der zufolge dieMuttergottes demBabenberger Ministerialen Hadmar I. von Kuenring († 1138), dessen Familie zu einemder bedeutendsten österreichischenMinisterialengeschlechter im Mittelalter werden sollte, in einem Traum ein Wunder geweissagt hatte. Als er am darauffolgenden Tag bei einemwinterlichen Ritt durch

 17 q Anmerkungen 1 RÖSSLER 1892, 4. – Zwettl, Stiftsarchiv, Hs. 126, Angabe bei DWORSCHAK 1944, 391. 2 RÖSSLER 1892, 4. – SEIBERL 1936, 106. – KUBES/RÖSSL 1979, 71, 89. – GAMERITH 2015. 3 Ausst.-Kat. Frankfurt/Wien 2014/15. 4 KUBES/RÖSSL 1979, 84 f., 90. 5 KUBES/RÖSSL 1979, 89. 6 SACKEN 1855, 60. 7 ZIEGLER 2008, 17, 20. 8 An dieser Stelle seien insbesondere ein kleinformatiges Verkündigungsrelief im Belvedere (um 1515), zwei Engel aus der Bollert-Sammlung im Bayerischen Nationalmuseum in München und die Beweinungsgruppe im Kunsthistorischen Museum in Wien (um 1515) genannt. Zu den BollertEngeln WENIGER 2005, 200–205. – SCHULTES 2008, 91. 9 LINCK 1725, 363, 386. 10 SEVERINOVÁ/SEVERIN 2008, 37. – Zur Größe KAHSNITZ 2005, 370. 11 Nach SACKEN 1855, 60, wurden die Retabelteile in der Allerheiligenkapelle aufgestellt. – RÖSSLER 1892, 4, geht davon aus, dass die übrigen Retabelteile verbrannt sind. – Nach HOMOLKA 2008, 126, wurde das Gesprenge bei einem Brand im Jahr 1702 vernichtet. den Wald eine grünende und zum Kreuz verschränkte Eiche vorfand, ließ er als Reaktion auf das Wunderzeichen den Chor des Zisterzienserklosters errichten, nämlich »an demjenigen Orth, wo die Aichen gestanden, die am neuen Jahrstag allain gegrünet«. Auch im barocken Retabelaufsatz wurde der Baumals identitätsstiftendes Merkmal dargestellt.7 Nicht allein seine Monumentalität macht das Retabel noch heute zu einem der bedeutendsten und beeindruckendsten Werke spätgotischer Schnitzkunst. Als besonders außergewöhnlich gelten sein ekstatischer Stil und die handwerkliche Qualität der Skulpturen. Diemarkanten Figuren bestechen durch ihre drastische Mimik und extreme Gestik auf eine geradezu übertriebene Art undWeise. ImGewirr von jubilierenden und singenden Engeln, exaltierten Aposteln, wulstigen Wolkenformationen und virtuos geschnitzten, wie von einemWirbelsturm erfassten Gewandpartien ist es zunächst schwer, Haupt- und Nebenprotagonisten voneinander zu unterscheiden. Nahezu alle Bereiche des Schreinkastens sind mit Figuren und anderen Elementen gefüllt. Der immensen Größe und expressiven Ausdrucksform vergleichbar und teilweise stilverwandt sind lediglich die Retabel von Mauer bei Melk (um 1509–um 1518, Abb. 123) und Breisach (1523–1526, Abb. 117). Daneben existieren nur wenige Bildwerke, die die genannten Charakteristika in ähnlicher Dichte aufweisen.8 Von dem 1525 vollendeten spätgotischen Zwettler Hochaltarretabel – in der frühbarocken Klosterchronik, den Annales Austrio-Claravallenses, wird um 1639 Abt Erasmus Leisser (amt. 1512–1545) als Auftraggeber genannt9 – ist heute lediglich der 6,5 m hohe rundbogigeMittelschrein erhalten, der sich seit 1857 in der St.- Barbara-Kirche der mährischen Kleinstadt Adamov (Adamsthal) bei Brünn befindet.10 Die Szenen mit dem Tod Mariens, ihrer Auffahrt in den Himmel und ihrer Krönung zur Himmelskönigin (Abb. 5–9) sind in drei horizontalen Zonen angeordnet. Das knapp bis unter das Gewölbe reichende Gesprenge, die beiden Flügel sowie die Predella gelten seit dem Abbruch des Retabels und der Errichtung des barocken Nachfolgers als verloren.11

3 Forschungsstand

39 q Als grundlegende Quelle zum Auftraggeber, zum Zeitraumder Fertigung sowie zur Aufstellung des Retabels diente der Forschung von jeher die Klosterchronik der Annales Austrio-Claravallenses, zusammengestellt gegen 1639 durch den späteren Zwettler Abt Johann Bernhard Linck (amt. 1646–1671).1 Seinerzeit amtierte er noch als Subprior und Novizenmeister und war von Abt Martin II. Günter (amt. 1625–1638) mit der Abfassung der Klosterchronik beauftragt worden.2 Erst 1723 bis 1725 wurde das Werk auf Veranlassung des Abtes Melchior Zaunagg (amt. 1706–1747) gedruckt. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass darin weit mehr Informationen zum Retabel, zu seinen Stiftern, ihren personellenNetzwerken und den Stiftungshintergründen enthalten sind, als bisher erkannt wurde. Dafür wurden in der vorliegenden Arbeit neben der gedruckten Version auch erstmals ausführlich die handschriftlichen Fassungen Lincks herangezogen, aus denen vermutlich der Zwettler Historiograf Johann von Frast schöpfte. Es existieren heute vier handschriftliche Exemplare der Klosterchronik imArchiv des Stifts Zwettl (Hs. 3/19, 3/20, 3/21, 3/22), die mit großer Wahrscheinlichkeit Vorarbeiten für die lateinische Druckfassung darstellen, aber nicht vollkommen deckungsgleichmit der lateinischen Ausgabe sind. Vereinzelt enthalten sie wertvolle Details, die keinen Eingang in die Druckfassung fanden; andererseits fallen einige Beschreibungen weniger ausführlich aus. Viele der in der lateinischen Chronik genannten Namen werden nicht aufgeführt. So bleibt der Kistler Andreas Morgenstern in den Handschriften unerwähnt. Im Folgenden beziehe ich mich auf drei inhaltlich größtenteilsmiteinander übereinstimmende Versionen (Hs. 3/19, 3/21 und 3/22).3 Eine Transkription der Passagen zwischen 1505 und 1526 findet sich im Anhang. Erstmals wurde das Retabel durch den Bericht Eduard von Sackens über »den in der Kirche zu Augustin neu aufgestellten Schnitzaltar aus dem Stift Zwettl« von 1855 einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Das 1852 an Graf Samuel Festetics und später nach Wien verkaufte Retabelkorpus wurde 1853 einer Restaurierung durch Georg Plach unterzogen und fand ein Jahr später für kurze Zeit Aufstellung in der dortigen Augustinerkirche. Aus finanziellen Nöten hatte sich der damalige Abt Augustin Steiniger (amt. 1847–1875) gezwungen gesehen, es der Zentralen Denkmalskommission zu überlassen, die sich erfolglos umden Rückkauf desWerks bemühte, bevor es durch Alois II. Fürsten von Liechtenstein nach Adamov verbracht wurde. Sackens detaillierte Beschreibung gibt Aufschluss über den damaligen Zustand des Schreins. Der Verfasser führte zudem die erwähnten Annales Austrio-Claravallenses in die Erforschung des Retabels ein, aus denen er einige wesentliche Informationen zu den Stiftungshintergründen schöpfte.4 In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts verfasste der Zwettler Abt Stephan Rössler zwei Schriften zum Kloster und seiner Einrichtung, in denen das Retabel als Teil der vorwiegend spätgotischen Ausstattung des Hochchors Erwähnung fand. Sein Engagement für das Kloster war neben den Schriften auch von dem gescheiterten Versuch gekennzeichnet, im Jahr 1891 den in Adamov aufgestellten Mittelschrein wieder in den Besitz des Stifts zu bringen.5 Eingang in die breite kunsthistorische Forschung fand das Retabel mit Adolf Feulners (1926) undWilhelm Pinders (1929) Überblickswerken zur deutschen Plastik des Spätmittelalters und der Neuzeit, die sich jeweils in aller Kürze vor allem der stilistischen Einordnung des Werks widmeten.6 Die erste, nur 46 Seiten umfassendemonografische Abhandlung über das Retabel stammt aus dem Jahr 1936 und wurde in tschechischer Sprache verfasst.7 Die Beiträge Herbert Seiberls von 1936 und 1944 gehören zu den ersten ausführlicherenwissenschaftlichen Abhandlungen über das Retabel. In seinem ersten Beitrag beschäftigte er sich neben einer eingehenden Beschreibung und ikonografischen Abhandlung insbesonderemit der Einordnung des Werks in einenWiener Kunstkreis, in dem vor allemdas Kefermarkter Retabel als stilistischer Vorgänger bestimmt wird. Des Weiteren werden darin bereits dem Retabel stilistisch nahestehende Werke genannt, wie etwa das Retabel inMauer bei Melk (Abb. 123) oder dasjenige von Altmünster (vollendet 1518, Abb. 164). Der zweite Aufsatz geht über die allgemeine stilistische Einordnung hinaus und behandelt konkrete Zuschreibungsfragen an den Zwettler Meister. Darinwerden erstmals der steinerne Ölberg der Pfarrkirche in Melk (Abb. 187) sowie das ebenfalls steinerne Weltgerichtsrelief amWiener Stephansdom genannt.8 Die Frage nach Entstehung und Hintergründen des ausdrucksstarken Stils streifte Karl Oettinger 1939, indem er das Zwettler wie auch das Mauerer Retabel in

q 40 3 Forschungsstand den Kontext der kultur- und gesellschaftshistorischen Umwälzungen der Reformation stellte.9 Mit seinemBuch über die Kunstdenkmäler des Zisterzienserklosters Zwettl lieferte Paul Buberl 1940 das wichtigste Überblickswerk zum Kloster und seiner Ausstattung, auf das nachfolgende Forschungen im Wesentlichen rekurrierten.10 Die gleiche Publikation, in der 1944 Seiberls Artikel zum Melker Ölberg und Weltgericht am Stephansdom in Wien erschien, enthält Fritz Dworschaks Exkurs über Spätgotische Altäre in der Ostmark. Sein Versuch, die Bedeutung des Puttos mit der Walnuss imWolkengeflecht der auffahrendenMaria zu klären, indemer darin einen Hinweis auf den Namen des Hauptschnitzers – Martin Kriechbaum oder Hans Nussbaum – vermutete, fand in der Literatur zu Recht kaum Beachtung.11 In seinembis heute viel rezipiertenWerk über Anton Pilgram und die Bildhauer von St. Stephan ordnete Karl Oettinger 1951 das Zwettler Retabel in den künstlerischen Umkreis Wiens zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein, wodurch es weitreichende Bekanntheit erlangte. Neben einigen stilkritischen Ergänzungen widmete er sich hauptsächlich ikonografischen Deutungen, die in der nachfolgenden Literatur größtenteils übernommen wurden. Die imAnhang zitierten Quellenabschnitte aus der Klosterchronik bildeten die Grundlage für weitere Forschungen.12 In darauffolgenden Überblicks- und Katalogbeiträgen vornehmlich der 1960er Jahre wurde das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel der sogenannten Donauschule zugeordnet, ohne jedoch näher auf das Retabel einzugehen.13 Die erste »Monografie« in deutscher und tschechischer Sprache war 1974 eine vier Seiten umfassende Schrift Ivo Hlobils.14 Immerhin gab er darin einige nicht unwichtige ikonografische Hinweise. Mit dem 1979 von Karl Kubes und Joachim Rössl herausgegebenen Band über das Stift Zwettl und seine Kunstschätze, der inweiten Teilen auf BuberlsWerk von 1940 beruht, wurde der Grundstein für eine intensivere Beschäftigungmit den historischen Entwicklungen des Stifts und seiner künstlerischen Ausstattung gelegt. Die gleichermaßen kunsthistorische wie historische Auseinandersetzung basiert auf grundlegender Quellenarbeit.15 Selbstverständlich fand das Retabel in diversen Überblickswerken zu mittelalterlichen Schnitzaltären Beachtung, so etwa 1978 (in zweiter Auflage) bei Herbert Schindler, dem es vornehmlich um die Einordnung des Retabels als »Schlussakkord« des »expressiven« Stils ging.16 Michael Baxandall verwies 1980 nur an wenigen Stellen auf das Zwettler Retabel, dessen Bildhauer er der sogenannten »dritten Generation« zuweist, deren »aufgewühlt-schnörkelreiche[r]« Stil ihr Erkennungsmerkmal darstelle.17 Demgegenüber muss der Schnitzaltäre-Band von Rainer Kahsnitz aus dem Jahr 2005 hervorgehoben werden. Durch die hervorragenden Abbildungen von AchimBunz wurde das Retabel erst so richtig ins kunsthistorische Bewusstsein gehoben. Die übersichtliche Gliederung aller bedeutenden Fakten und die knappe Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse vereinfachen den direkten Vergleich mit anderen im Band behandelten Werken.18 Den umfassendsten Forschungsbeitrag leistete 2008 der zweisprachige Tagungsband des Symposiums vom Juni 2007 auf Schloss Mikulov (Nikolsburg, Tschechien), für das eine grundlegende Restaurierung des Retabels in den Jahren 2006/07 den Anlass bot.19 Besonders in restauratorischer Hinsicht leistet der Band Grundlagenarbeit, ergänzte ansonsten in den Beiträgen einige bisherige Annahmen der Forschung und förderte vereinzelt interessante Aspekte zutage.

Anmerkungen 41 q Anmerkungen 1 RÖSSLER 1891/I, 166. – BUBERL 1940, 5. – Ausst.-Kat. Zwettl 1981, 352, Kat.-Nr. 384. 2 RÖSSLER 1891/I, 159. – KUBES/RÖSSL 1979, 72 f. 3 An manchen Stellen fehlen Satzteile, was auf Ungenauigkeiten beim Abschreiben zurückzuführen sein dürfte. Indem drei handschriftliche Fassungen herangezogen wurden, konnten Fehler oder Auslassungen korrigiert bzw. ergänzt werden. 4 SACKEN 1855, 59 f. – Zu Ver- und Ankauf des Mittelschreins SEVERINOVÁ/SEVERIN 2008, 37. – SEIBERL 1936, 106. 5 Aus dieser Zeit datiert eine Fotografie, die der Adamover Pfarrer Jan Straka an das Stift schickte. – RÖSSLER 1892, 2–4. – RÖSSLER 1893, 10. – SEVERINOVÁ/SEVERIN 2008, 31. – ZIEGLER 2008, 31. 6 FEULNER 1926, 12–15, 38 f., 59. – PINDER 1929, II, 479. 7 ROZMAHEL 1936. Aus sprachlichen Gründen konnte sie in dieser Arbeit nicht rezipiert werden. Doch selbst im zweisprachigen Aufsatzband der Tagung 2007 (FABIÁNOVÁ/VÁCHA 2008) wird nur an wenigen Stellen auf den damaligen Adamover Pfarrer und Autor Jakub Rozmahel rekurriert. 8 SEIBERL 1936, 105–130. – SEIBERL 1944, 218–230. 9 OETTINGER 1939, 16 f., 22. 10 BUBERL 1940. 11 DWORSCHAK 1944. 12 OETTINGER 1951, 64–72, 113 f. 13 DWORSCHAK 1965/I. – DWORSCHAK 1965/II, 93. – LEGNER 1965. – LEGNER 1967. 14 HLOBIL 1974. 15 Zum Retabel KUBES/RÖSSL 1979, 70 f. 16 SCHINDLER 1978, 70, 74, 79, 82, 215–223 (wörtliches Zitat: »dramatische[r] Akkord des Schlusses« S. 79). 17 BAXANDALL 1984, 33 f., 368 (Zitate S. 33). 18 KAHSNITZ 2005, 364–370. 19 FABIÁNOVÁ/VÁCHA 2008.

5 Ikonografische Analyse

5.1 Besondere Akzente früherer Forschung 87 q 5.1 Besondere Akzente früherer Forschung Die Forschung schenkte dem Bildprogramm des Zwettler Retabels meist besondere Beachtung, nicht zuletzt deshalb, weil diesesWerk aufgrund seines ekstatischen Stils, seiner Monumentalität und der Dichte der Figuren eines der ungewöhnlichsten Beispiele seiner Gattung darstellt. Der ästhetisch-stilistische Eindruck verunklärte jedoch häufig die ikonografische Interpretation. Zu Unrecht attestierte man dem Retabel einen ausgesprochen rätselhaften Charakter,1 vor allemwenn es um die Interpretation von Einzelelementen ging. Anzusprechen wären hier die von einem Putto präsentierte Walnuss (Abb. 23), eine Büstemit Perlenhaube (Abb. 24),2 die in der Wolkenbank unter Maria erscheint, die Hohlkehlenfigur mit rotem Birett (Abb. 37), die Mondsichel (Abb. 6) sowie jüngst auch die Inschrift des auf der Tumba liegenden, aufgeschlagenen Buches (Abb. 16). Insbesondere die Nuss und die Büste gaben bei Fragen zum Künstler und der Werkstatt Anlass zu wilden Spekulationen. In frühen Abhandlungen stand eine grundlegende Analyse der mariologischen Ikonografie im Vordergrund. So bemerkte Herbert Seiberl 1936 lediglich amRande, dass sowohl die Bedeutung der Nuss als auch des Mannes mit der Perlenhaube noch nicht zufriedenstellend geklärt seien.3 Dworschak wollte 1944 die Nuss wenig überzeugend als Hinweis auf den Künstler – seines Erachtens Hans Nussbaumaus Bamberg, der sich in der Büste selbst verewigt haben sollte – verstandenwissen, was jedoch in der Forschung zu Recht kaumBeachtung gefunden hat.4 Mit Karl Oettinger 1951 setzte sich weitgehend die Ansicht durch,5 dass das Bildprogramm eine humanistische wie auch rätselhaft-volkstümliche Prägung besäße, die bis heute noch vereinzelt das Meinungsbild bestimmt. Hier war von einer »Zauberwelt« die Rede, der »auch die Puttengnomen an[gehören], die um die Dreifaltigkeit ihr Wesen treiben [... und die] aber wieder in spukhafteWaldgeister mit zumTeil abnormen Fratzen verwandelt [werden]«.6 Auch die Gewänder schienen »durch Hexenkunst gegen die Schwere [anzutanzen]«.7 Sinnfällig wird die Annahme, der ästhetische Eindruck habe die ikonografische Analyse größtenteils beeinflusst, wenn Oettinger die Identität des Puttos mit der Walnuss kryptisch mithilfe einer Sage entschlüsseln will: Bei dem Putto handele es sich um eine »in der österreichischen Volkssage mehrfach überlieferte Gestalt, die alle Fragen beantwortet bis auf eine, warum das Kreuz in der Nuß sei«. Sie »ist Symbol desWissens von der Welt und die Nuß selbst das Welträtsel, um das sich alles Fragen und Forschen umsonst bemüht.«8 Erasmus Leisser sei als Bakkalaureus der Wiener Universität mit diesen Volkssagen sowiemit der »humanistischen Naturpoesie«9 in Berührung gekommen; für das Waldhafte und Verzauberte des Stils zeichne dagegen der Künstler verantwortlich.10 An entsprechender Stelle wird der Bedeutung dieser Motive nachgegangen. Es sei vorausgeschickt, dass sie größtenteils durch den ikonografisch-theologischen Kontext zu erklären sind und sich nahtlos in das mariologische Programm einfügen. 5.2 Ein mariologisches Programm DieWahl des Hauptthemas des Zwettler Retabels erklärt sich in erster Linie aus dem Patrozinium der Aufnahme Marias in den Himmel (Assumptio Mariae). Alle zisterziensischen Gründungen waren Maria, der Königin des Himmels und der Erde, geweiht; dies wurde in den Ordensstatuten von 1134 verbindlich festgelegt.11 Die im Zwettler Schrein dargestellten Szenen des Todes und der Auffahrt Mariens gehen nicht auf kanonische Evangelientexte, sondern auf die Apokryphen zurück. Die populärste Sammlung der durch patristische Legendenbildungen entstandenenMarienepisoden stellt die Legenda Aurea des Jakobus de Voragine (um 1262–1272)12 dar, die als sogenannte Transitus-Texte (de transitu beatae Mariae virginis oder de dormitione) zusammengefasst wurden und seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert starke Verbreitung erfuhren.13 Daneben war vor allem im lateinischen Sprachraum der frühchristliche Text über den Heimgang der seligenMaria des Pseudo-Melitos bekannt, der sich in manchen Teilen von der Legenda Aurea unterscheidet, so vor allemdarin, dass er nicht die Krönung Mariens enthält.14 In der Goldenen Legende wirdmit Verweis auf das Hohelied 4,8 auf die Krönung Bezug genommen, wenn Christus die Seele seiner Mutter mit den Worten »Komme vom Libanon meine Braut, komme vom Libanon, komm zu mir, daß du gekrönt werdest«15 in den Himmel begleitet.16 Das Zwettler Bildprogramm nimmt Motive und Themen beider Texte auf und steht kompositorisch der mittelalterlichen Bildtradition nahe, die üblicherweise den Abschied der umdie Tumba versammelten Apostel von der

q 88 5 Ikonografische Analyse Abb. 74 Marienkrönung. Krakau, Marienkirche, Hochaltarretabel, Gesprenge. Veit Stoß, 1477ff. (Foto: open source/H. A. Rosbach) Abb. 75 Aufnahme Marias in den Himmel. Krakau, Marienkirche, Hochaltarretabel, Schrein. Veit Stoß, 1477 ff. (Foto: open source/T. Thaler)

5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel 89 q darüber schwebenden, meist von Engeln oder Gottvater bzw. der Trinität gekrönten Assumpta zeigt. In Zwettl gehen nicht nur die leibliche und seelische Aufnahme der Muttergottes im Beisein der Apostel als Zeugen dieses wunderhaften Ereignisses auf die Apokryphen zurück.17 Die Erzengel Gabriel heraldisch rechts (Abb. 25) und Michael heraldisch links (Abb. 26) flankieren nicht zufällig Marias Engelsheer; sie lassen sich konkret auf den frühchristlichenMelitos-Text beziehen. Beiden Erzengeln als »Hüter[n] des Paradieses und Fürst[en] des hebräischen Volkes« übergab Christus »die Seele seiner hochheiligen Mutter Maria«.18 Michael fungiert bei Marias leiblicher Aufnahme in den Himmel als Begleiter;19 Gabriel tritt zudem als Palmzweig tragender Verkünder von Marias Tod zu Beginn der Erzählung auf: »[D]a erschien ihr ein Engel in strahlendem Lichte, begrüßte sie und sprach: Ich grüße dich, vomHerrn Gebenedeite [...]; siehe ich bringe dir einen Palmzweig aus Gottes Paradies; lasse ihn vor deinem Sarge hertragen, wenn du in drei Tagen in deinem Leibe in den Himmel entrückt sein wirst.«20 Höchstwahrscheinlich war dem Zwettler Gabriel ein Palmzweig beigegeben. Aber auch der nach oben blickende Jüngling Johannes muss in den Fingern seiner linken Hand eben jenen Palmzweig gehalten haben (Abb. 15),21 den Maria zuvor von Gabriel erhalten hatte und anschließend Johannes in einemZwiegespräch anvertraute: »[D]ort zeigte sie ihm die für ihr Begräbnis bestimmten Gewänder und den leuchtenden Palmzweig, den sie vomEngel empfangen hatte, und riet ihm, er solle diesen Zweig vor ihrem Sarge tragen lassen, bis man sie an ihre Grabstätte gebracht hätte.«22 Ebenfalls auf die Überlieferung des Pseudo-Melitos geht die Beschreibung der »große[n] Schar von Engeln«, die »Lobgesänge [sangen] und den Herrn [priesen]«,23 zurück. Als nahezu wortwörtliche Umsetzung darf die Darstellung der leiblichen Aufnahme Mariens, die von der seelischen Aufnahme zeitlich getrennt wird, gelten: »Und siehe, da geschah ein weiteres Wunder. Denn ein großer Wolkenkranz erschien über dem Sarge, dem großen Ringe gleich, der den Glanz des Mondes zu umgeben pflegt. Und die himmlischen Heerscharen waren in den Wolken und sangen Hymnen, und die Erde hallte wider von den Klängen einer köstlichen Harmonie.«24 Die Wolken, die den auffahrenden Leib der Muttergottes einrahmen und die von jubilierenden und singenden Engeln bevölkert werden, wirken wie Abbilder der »Klänge einer köstlichen Harmonie«. Als eine der ersten skulpierten Umsetzungen der assumptio animae et corporis gilt das Krakauer Marienretabel von Veit Stoß (1477–1489, Abb. 74, 75).25 5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel Es ist deutlich geworden, dass das Zwettler Hochaltarretabel zunächst ein konventionelles mariologisches Bildprogrammgemäß den apokryphen Überlieferungen aufweist. Dennoch bleibt der Betrachter in Hinsicht auf die bereits zum Teil angesprochenen Einzelelemente – die Walnuss, die Mondsichel und das Buch in der Mitte, die Hohlkehlenfigur, die von den Engeln gehaltenen großen Spruchbänder wie auch den Eichenbaum – mitunter ratlos zurück. Bisher ließen sie sich nur in Ansätzen erklären. So wurde dieMondsichel zwar zu Recht als bildtraditioneller Hinweis auf die Darstellung Mariens als Apokalyptisches Weib erwähnt, jedoch wurde der engere Zusammenhang des Schreinbilds mit Apokalypse 12,1 nicht erkannt. Die Identifizierung des Hohlkehlenheiligen mit rotem Birett konnte ebenso wenig zufriedenstellend geklärt werden wie etwa die Bedeutung der Walnuss. Mit der folgenden These und der ihr zugrunde liegenden Analyse soll neben der allgemeinen Interpretation ein weiterer Deutungsansatz des ikonografischen Programms des ehemaligen Zwettler Hochaltarretabels vorgestellt werden, der sowohl die schwer identifizierbaren und einzuordnenden ikonografischen Elemente als auch die Ausprägung des »expressiven« Stils schlüssig erklären kann. Mit der ikonografischen Untersuchung untrennbar verbunden ist nämlich die Frage nach demkirchenpolitischen und historischen Kontext und nach den Intentionen des Konzeptors Erasmus Leisser, das heißt hinsichtlich der Funktionen des Schnitzretabels und seiner Gestaltung. Wird man zunächst vom Gesamteindruck überfordert, wird bei näherer Betrachtung die dichte Überlagerungmehrerer mariologischer Themen augenscheinlich, die für mittelalterliche Bilder und Bildwerke zwar nicht grundsätzlich eine Seltenheit ist, die jedoch gemessen an ihrer Betonung und ihrer Summe im Zwettler Retabel eine große Besonderheit darstellt. Überhaupt muss erstaunen, dass mitten in den ersten Jahren der »konfessionellen« Debatte ein Schnitzretabel dieses Ausmaßes in Auftrag gegeben wurde. Kam dem

q 90 5 Ikonografische Analyse überbordenden mariologischen Programm eine besondere Funktion zu? Weshalb wurde auf einen derart ausdrucksstarken Stil zurückgegriffen? Bislang wurden diese Fragen nur unter allgemeinen Gesichtspunkten angesprochen, nämlich in Bezug auf das Patrozinium, auf den allgemeinen Zeitstil der sogenannten Donauschule, in Bezug auf den Stil als Ausdruck einer Umbruchszeit, wie auch in Bezug auf die Tradition der großen Schnitzaltäre.26 Meiner Erörterung liegt die These zugrunde, dass das Retabelprogramm eine Reaktion auf die lutherischen Neuerungen darstellt. Diese wird sowohl ikonografisch als auch durch die quellenmäßig belegbare Beteiligung Erasmus Leissers an Rekatholisierungsmaßnahmen des österreichischen Erzherzogs begründet. Dabei sei nachdrücklich auf die Problematik bei der Unterscheidung von traditionellen altgläubigen Programmen und den subsidiär als »gegenreformatorisch« oder »konfessionsparteilich« zu bezeichnenden Bildprogrammen hingewiesen: Handelt es sich »lediglich« umein rein traditionelles oder schon umein auf Martin Luthers Neuerungen reagierendes Programm? Mutet das Retabel nicht allein vor demHintergrund der erbitterten Auseinandersetzungen um Bilder, um deren Kult und schließlich umdie Existenz der alten Kirche bereits wie eine bewusste Gegenreaktion an? Lässt sich das mariologische Programm von den kirchenpolitischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Umwälzungen trennen? Diesen Fragen muss mit Bedacht nachgegangen werden; allein aufgrund einer allgemein »apokalyptischen« Gemengelage, zu der neben der Reformation unter anderem auch die Türkenbedrohung vor Wien gehörte, lassen sie sich nicht schlüssig beantworten. Dass eine derart monumentale und stilistisch wie handwerklich beeindruckende Stiftung wie das Zwettler Retabel – unter anderem– eine ausgesprochen emotionale Ansprache der Betrachter zumZiel gehabt haben muss, ist kaum zu bezweifeln. Auf den Stil wird im Kapitel 6 einzugehen sein. Bevor das ikonografische Programmauf eine »antireformatorische« Bildstrategie hin untersucht wird, müssen die historischen und kirchenpolitischen Hintergründe zumindest in groben Zügen beleuchtet werden. Die dichte Aufeinanderfolge der umstürzenden reformatorischen Vorgänge und ihre rasche Verbreitung und Rezeption lassen erahnen, dass auch Erasmus Leisser, das Kloster Zwettl und damit letztlich das dortige Retabel von ihren Auswirkungen nicht unberührt blieben. Dass die Marienikonografie dabei in erster Linie stark in der Tradition vorausgehender (Zisterzienser-) Retabel und des zisterziensischen Marienverständnisses steht, schließt die These nicht aus. Die fast schon apodiktische Inszenierung der alten Glaubenswahrheiten im Schrein ist es, die vor diesemHintergrund Zweifel an einer ausschließlich traditionellen Bildfunktion aufkommen lässt. Das Hochaltarretabel diente selbstverständlichwie üblich der Verehrung der Patronin und der Veranschaulichung der feierlichen Messliturgie, ebenso wie es memoriale Funktion besaß. Eine weitere Funktion von Retabeln und zugehörigen Messstiftungen, welche die finanzielle Versorgung von Priestern in Form von Pfründen garantierten, war die Verpflichtung der Konventualen zu immerwährenden Memorialdiensten für den oder die Stifter. Mit der mittelalterlichen Stiftungspraxis gingen das fest im Glauben verwurzelte Verständnis von der Heilswirkung von Bildern sowie die Überzeugung von der Werkgerechtigkeit einher, die dem Stifter die Sicherung seines Seelenheils ermöglichte. Dass das Retabel in dieser Tradition steht, wird insbesondere an der Flügel- und Gesprenge-Ikonografie deutlich, welche die Erlösungshoffnung vor Augen führt, in deren Rahmen Maria die prominenteste Mittlerin war.27 Für die hier formulierte Hypothese ist die Datierung des Retabels von großer Bedeutung, worauf bereits im vorausgegangenen Kapitel hingewiesen wurde. Hauptgrund für den Umstand, dass das Retabel bislang kaum mit den reformatorischen Umbrüchen in näheren Zusammenhang gebracht wurde, ist die irrige Annahme, das Retabel sei im Jahr 1516 begonnen und somit noch vor Luthers Thesenanschlag konzipiert worden. Der Fertigungszeitraumkann jedoch quellenmäßig nicht näher bestimmt werden. Aufgrund von Beobachtungen, die eine unmittelbare Reaktion auf die Reformation erkennbar werden lassen, ist allerdings von einemBeginn der Arbeiten nach 1518 auszugehen. Die Einschätzung der Fertigungsdauer eines solch großen Altaraufsatzes erweist sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage als sehr schwierig. Sicherlich war sie von der Größe der Werkstatt abhängig, aber auch Bezahlung und Werkstattorganisation oder äußere Umstände, die eine Unterbrechung veranlassten, konnten den Herstellungszeitraum beeinflussen.28

5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel 91 q 5.3.1 Martin Luthers Haltung zu Ablass, Heiligenverehrung und Bildgebrauch – ein chronologischer Überblick Zunächst scheint es wichtig, die zeitlich dichte Aufeinanderfolge der Ereignisse umMartin Luthers »Aufbruch in die Reformation« zu rekapitulieren, umaufzuzeigen, dass eine Reaktion darauf schon in einem vergleichsweise frühenWerk wie demZwettler Retabel zumindest nicht auszuschließen ist. Der Reformtheologe verurteilte in seinen 95 Thesen vomOktober 1517 bekanntlich die päpstliche Ablasspraxis und den damit verbundenen Glauben an die Verdienstlichkeit von gutenWerken und speziell Kunstwerken aufs Schärfste. Bereits im Frühjahr des darauffolgenden Jahres waren seine Thesen an die Öffentlichkeit gedrungen, sodass sie zu einem heiß diskutierten Anliegenwurden. Bis 1519 wurden allein 45 seiner Schriften massenhaft vervielfältigt.29 Die Sicht auf die altkirchliche Frömmigkeitspraxis und damit auch auf Kunststiftungen in ihrem traditionellen Gebrauch veränderte sich rasch. Auch wenn in diesen frühen Jahren eine Spaltung in zwei Konfessionen noch längst nicht »ausbuchstabiert« war, verbreiteten sich Luthers radikale Ansichtenwie ein Lauffeuer. Seine Kritik beschränkte sich nicht bloß auf die Ablasspraxis, an der sich das Kirchenoberhaupt bereichert hatte. Zugleich lehnte er Gebetsübungenmit und vor Bildern und Bildwerken sowie den damit zusammenhängenden Glauben an deren Heilsnotwendigkeit ab.30 Gerade die Debatten umFunktion und Berechtigung der Verehrung von Heiligen und ihrer Anrufung als Mittler, die zugunsten einer rein auf der Heiligen Schrift beruhenden Lehre und Liturgie (sola scriptura) abzutun seien, dürften anmonastischen Vertretern nicht vorübergegangen sein. Den offiziellen Bruch mit der alten Kirche vollzog Luther mit seinen 1520 publizierten Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation und Von der Freiheit eines Christenmenschen. Einen entscheidenden Beitrag zur tiefgreifenden Verunsicherung der monastischen Welt, die in eine langanhaltende Identitätskrise mündete, leistete Luthers Schrift De votis monasticis iudicium (Urteil über das Mönchsgelübde) von 1521, der ein Widmungsbrief an seinen Vater vorangestellt war (Abb. 76). Seiner persönlichen Abrechnung mit dem Mönchsgelübde lag eine fundamentale Kritik an der mönchischen Lebensformund damit denmonastischen Institutionen zugrunde, die umso glaubhafter schien, da sie aus Sicht eines ehemals Zugehörigen formuliert wurde. Diese neue theologische Gedankenbildung wirkte als unmittelbare Existenzbedrohung auf die Klöster und ihre Geistlichen, da sie sowohl das gesamte Frömmigkeitswesen mit Ausrichtung auf die Rettung des Seelenheils als auch das Selbstverständnis der Geistlichen infrage stellte. Die Ablehnung der mönchischen Gelübde ergab sich gemäß der Reformtheologie aus der Tatsache, dass die Bibel nicht zwischen den Geboten für Laien und denjenigen für Mönche unterschied, weshalb eine Unterscheidung zwischen höheren und niederen Christen nicht gerechtfertigt war. Damit wurde auch dasmönchische Vollkommenheitsideal grundsätzlich infrage gestellt. Nach Gustav Reingrabner ging es Luther vornehmlich »um die Herzensechtheit der agape, nicht um den Stand«.31 Folglichwar auch kein Verlassmehr auf die erwartete Heilsseligkeit als Folge der mönchischen Gelübde, da nicht das Handeln, sondern allein der Glaube zur Seligkeit führe. Mit der Verabschiedung vom Verständnis desmönchischen Lebens als eines per se guten Werks ging auch der Glaube an die Verdienstlichkeit von Abb. 76 Martin Luther: De votis monasticis, Martini Lutheri iudicium. Basel 1522. Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München. Titel (https://api.digitale-sammlungen.de/iiif/image/v2/bsb10204238_ 00005/full/full/0/default.jpg [30. 1. 2022])

6 Öffentlichkeit im Kloster Der Kreis der Rezipienten

6.1 Die Mönche 147 q Die grundsätzliche Diskussion über Funktionen von Kunst im sakralen Kontext, wie sie seit Gregor demGroßen und dembyzantinischen Bilderstreit geführt wurde, ist hier nur kurz in Erinnerung zu rufen. Auch im 15. Jahrhundert war die Definition des Dominikaners Johannes’ von Genua († 1298) im Catholicon (1286) gängig: »Wisse, daß es drei Gründe für die Institution von Bildern in den Kirchen gibt. Erstens zur Unterweisung der einfachen Menschen, weil sie durch Bilder belehrt werden, als wären es Bücher. Zweitens, um das Geheimnis der Inkarnation und Beispiele der Heiligen dadurch stärker auf unser Gedächtnis wirken zu lassen, daß wir sie täglich vor Augen haben. Drittens, um Empfindungen der Frömmigkeit hervorzurufen, die durch Gesehenes leichter wach werden als durch Gehörtes.«1 Die Frage ist, wem und in welchem Maße die Hauptzwecke der Bilder – Didaktik für Ungebildete, Inhaltsvermittlung und Verstärkung von Empfindungen und Frömmigkeit – in einer Zisterzienserkirche dienen sollten. Insbesondere der durch die gewählte Form intensivierte »Aufforderungscharakters« des Zwettler Retabels lässt es sinnvoll erscheinen nachzuforschen, anwelche Gruppe von Betrachtern sich das Bildprogramm richtete, ob außer denMönchen noch andere Personengruppen Zutritt zum Chor hatten und wie die Blickverhältnisse in den Chorbereich etwa vom Umgangschor waren. Noch immer steht die Forschung bezüglich der spätmittelalterlichen Nutzung der Zisterzienserklöster durch Außenstehende auf einer schmalen Quellenbasis. So konstatiert Untermann: »Inwieweit das tägliche Leben der Konvente von der häufigen Anwesenheit weltlicher Großer geprägt wurde, bedarf weiterer Forschung.«2 Fest steht, dass zisterziensische Abteien diesbezüglich wesentlich schärferen Verordnungen unterlagen als Klöster anderer Orden. Dies hing imWesentlichen mit dem strengen Klausurgebot der Mönche zusammen. Trotz der zunehmenden Öffnung eines nichtmönchischen Teils des Kirchenraums für Laien an hohen Festtagen im Laufe des 14. Jahrhunderts ist die Frage nach der Nutzung des Chorbereichs durch weltliche Vertreter vor allem im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch nicht hinreichend beantwortet worden. Da sich diesbezüglich kaum ein allgemeiner Grundsatz formulieren lässt, muss zur Beantwortung der Frage die spezifische Situation vor Ort ausgewertet werden, sofern es die Quellen zulassen. 6.1 Die Mönche Zweifellos konnte und sollte das Retabel täglich von den Mönchen zum Chorgebet und zur Konventsmesse betrachtet werden. Für sie dürfte es sowohl wie eine Bestätigung ihrer Ideale und Glaubenswahrheiten als auch wie eine Mahnung gewirkt haben. Auch in Österreich schlossen sich immer mehr Kleriker, vom Vikar bis hin zum Bischof, der Reformation an.3 Seit den frühen 1520er Jahren verließen immer mehr Mönche wegen des neuen Glaubens ihre Klöster; als Folge von Luthers Einfluss verringerte sich außerdem die Anzahl der Klostereintritte.4 Dies beschleunigte den Verfall der altkirchlichen Ordenslandschaft erheblich. Auch Erasmus Leisser muss sich des Niedergangs schmerzlich bewusst gewesen sein: 1528 verfügte das Kloster nur noch über sechs Mönche, einen Weltpriester und einen Organisten, sodass »[d]er Chorgesang [...] von selbst auf[hörte], und die gestifteten Messen [...] nicht mehr gelesen werden [konnten]«.5 Aus diesem Grund forderte der Erzherzog vom Abt die Aufnahme von rund 20 neuen Novizen innerhalb einer vorgegebenen Frist. DiesemAnliegen kam Leisser ein Jahr später mit 17 neuen Novizen nach. 6.2 Die Konversen Konversen waren vor allem zu Beginn der zisterziensischen Reformbewegung als fester Bestandteil des Klosters weitgehend für das wirtschaftliche Wohl des Klosters verantwortlich. Sie verfügten über keine Weihestufen und ihnen war gemäß der Konversenregel (liber usus conversorum) der rangniedrigere Konversenchor, architektonisch gesprochen das Kirchenschiff, zugedacht. Ihr Altar war der Kreuzaltar westlich einer Chorschranke. Wie zuvor ausgeführt, lag diese in Zwettl beim Neubau der Kirche wohl zunächst auf Höhe der östlichen Vierungspfeiler, später, seit der Fertigstellung zweier Langhausjoche Ende des 15. Jahrhunderts an deren westlichemEnde. Solange die neue Kirche nicht vollendet war, versammelten sich die Konversen also in den noch bestehenden Teilen der älteren. Der Blick auf Mönchschor und Hochaltar dürfte ihnen so gut wie immer verwehrt gewesen sein. Im Stift Zwettl hat sich eine deutsche Konversenregel (Cod. 129, um 1300) erhalten, aus der etwa hervorgeht, dass die des Latein unkundigen Klosterkonversen nicht zumMönch geweiht werden durften, keine Bücher lesen durften und nur an den zwölf kirchlichen Hochfesten

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