Leseprobe

Catherine Sanke In Nacht und Eis

3 Wegweiser ins Unbekannte „In Nacht und Eis“ – unter diesem Titel erschien 1897 Fridtjof Nansens Bericht über seine Nordpol-Expedition das erste Mal auf Deutsch. Catherine Sanke wählte diesen und nicht den norwegischen Titel für ihre mehrteilige Installation von 2020. Nansen selbst nannte sein Buch „Fram over Polhavet“, wobei Fram der Name seines eigens konstruierten Schiffes war und Vorwärts bedeutet. Also in etwa: „Vorwärts“ zur Polkappe – denn das Ziel war entscheidend. Die Nacht spielte dennoch in Nansens Beschreibungen und Reflexionen eine bedeutende Rolle. Er widmete der Winternacht, die er und seine Crew ab Ende Oktober 1893 das erste Mal sechs Monate lang als durchgehende Dunkelheit erlebten, ein eigenes Kapitel, aber der eigentliche große Gegenspieler war das Eis: als faszinierende Materie, Forschungsgegenstand und bedrohliche Umgebung gleichermaßen. Nansens Buch wurde seinerzeit ein Bestseller, was nicht zuletzt an seiner anschaulichen Sprache gelegen haben mag. Mehr als diese überrascht jedoch, wie er seinen Gefühlen, den Zweifeln, Sorgen, dem Staunen und der eigenen Hybris Raum zu geben weiß. Nansen malt mit knappen Worten Landschaftsszenerien und er sucht nach Vergleichen des Unvergleichlichen. „Eis mit mehr Hindernissen als hier – ob es das wohl gibt?“ Oder: „Zuerst lagen wir im Nebel still, weil wir keinen Weg sahen; jetzt ist es klar, aber wir sind nicht klüger geworden.“ Es sind solche Passagen, die die Künstlerin beeindruckt haben und die sie für ihre Arbeit ausgewählt hat. Sie hat diese und andere kurze Zitate auf Porzellan-Platten in Karteikartengröße gedruckt, denen sie abstrakt bemalte Platten des gleichen Formats an die Seite stellt. Angeordnet werden die Text-Bild-Paare auf Tischen sowie in Karteikästen, in denen sie die Besucher anfassen, herausnehmen und damit auch neu kombinieren können, wobei die malerischen Motive in der Größe variieren.

4 Catherine Sanke hat, angeregt von Nansens poetischer Sprache, für sich zwei Verfahren künstlerisch fruchtbar gemacht und diese aufeinander bezogen: Reduktion und Offenheit. Sie entschied sich für die ausschließliche Verwendung von „Schwarz auf hellem Scherben“ als „Gegenfarbe“ zur Eiswüste und hat dem Monochromen ein reiches Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten abgewonnen. In einem längeren Zeitraum hat sie, unterbrochen durch wiederholte Trocknungsphasen, das Zusammenspiel von Dunkel und Hell und vor allem dessen räumliche Wirkungen ausgelotet. Durch Zugabe von großer Hitze – also dem entgegengesetzten Zustand zur Kälte des Eises – wurde der Malprozess dann abgeschlossen, denn erst nach dem Brand der Keramik wird das eigentliche Ergebnis sichtbar. Neben der Farbigkeit hat die Künstlerin auch die erzählerische Struktur des Malerischen einer Reduktion unterzogen. Ihre Sujets auf Porzellan vermeiden eine beschreibende Darstellung, sie sind ganz aus dem Gestischen formuliert. Die kleinen Platten wirken als Einzelmotive wie Bildsequenzen, die sich in der Handhabung – im Nacheinander oder Nebeneinander – zu veränderlichen Assoziationsräumen zusammenfügen. Denkt man hierbei an Caspar David Friedrichs ikonisches Gemälde „Das Eismeer“, in dem er vor 200 Jahren die Unwirtlichkeit der arktischen Landschaft bildgewaltig in Szene setzte, so scheint Sankes prozesshaftes Herangehen mit der aktuellen Wahrnehmung der Eismeere, die einen gravierenden Wandel erfahren, zu korrespondieren. Nach wissenschaftlichen Prognosen könnte die Arktis im Jahr 2050 völlig eisfrei sein, sie hat bereits drei Viertel ihrer Eismassen verloren. Die daraus resultierenden ökologischen und sonstigen Folgen sind noch nicht absehbar.

5 Die Entscheidung der Künstlerin, den Bildraum in viele kleine Segmente zu fragmentieren, korreliert interessanterweise auch mit Seh-Erfahrungen heutiger Forscher während der durchgehenden Nacht im Eis und deren Wirkung auf das Vorstellungsvermögen. Weil man – trotz technisch moderner Mittel – immer nur das begrenzte Feld sieht, das die Stirnlampe erleuchtet, lässt sich nur mühsam ein Bild des ganzen Geländes im Kopf zusammensetzen. 1 Für den komplexen Charakter ihres Gegenstandes hat Catherine Sanke eine polyvalente künstlerische Struktur entwickelt, die sie in einem installativen Erfahrungsraum und nun auch innerhalb dieses Buches zugänglich macht. Beide fungieren gleichermaßen als Gedächtnisort für eine heroische Phase der Nordpolarforschung und als „Denk- und Vorstellungsgerät“ für sie selbst als Künstlerin sowie für die Betrachtenden. Jede Reise beginnt im Kopf – in diesem Sinne könnte man Catherine Sankes Arbeit als Aufforderung verstehen, sich auf Unbekanntes und Unerforschtes einzulassen, die Option des Scheiterns eingeschlossen – so wie es einst Fridtjof Nansen tat. Auch wenn seine Bestätigung der aktischen Eisdrift wegweisend wurde, sein eigentliches Ziel, den Nordpol, hat er nicht erreicht. Sich dennoch den jeweiligen Herausforderungen zu stellen und dafür etwas oder alles zu wagen, auch dazu regt uns die künstlerische Arbeit „In Nacht und Eis“ an. Jule Reuter 1 Siehe: Ist die Arktis noch zu retten, Markus Rex?, Ein Podcast von Sebastian Spallek. In: Der Spiegel, 26. 7. 2022.

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7 Inhalt Berge I 21 Weiße 35 Schwarze Stürme 49 Dunst 65 Spuren 77 Runde 91 Schleier 109 Nebel, Schleier, Spuren 123 Berge II 151 Ausstellung 171 Überblick 188 Mein Dank gilt 198 Impressum 200

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24 Berge I

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52 Schwarze, Stürme

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63

66 Dunst

67

96 Runde

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136 Nebel, Schleier, Spuren

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163

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167

172 Raumansicht

173

184 Berge II

185 Tisch 1 und Schleier

9 783954 987290

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