Leseprobe

Die Befreiung der Natur

Die Kunst der Ölstudien im 19. Jahrhundert Die Befreiung der Natur

INHALT 6 VORWORT 8 GRUSSWORT 11 WARUM ÖLSTUDIEN? Zu den großen Fragen einer kleinformatigen Kunst FLORIAN ILLIES 23 STUDIEREN »MIT DEM PINSEL IN DER HAND« Die akademische Ausbildung des Landschaftsmalers und die Funktion der Ölstudie bei Johann Wilhelm Schirmer ANNA CHRISTINA SCHÜTZ 33 DIE ERWEITERUNG DES BLICKS Die Ölstudie und der Norden ALEXANDER BASTEK KATALOG 43 DAS FLÜCHTIGE: DIE MAGIE DES AUGENBLICKS FLORIAN ILLIES 65 DRAUSSEN VOR DER TÜR: HEIMATERKUNDUNG IN ÖL ANNA CHRISTINA SCHÜTZ 81 UNVOLLENDET: EIN NEUES BILD ENTSTEHT JANA KUNST 99 DIE KRONE DER SCHÖPFUNG: BÄUME IM PORTRÄT ANNA CHRISTINA SCHÜTZ 119 VOM AUFGANG DER SONNE BIS ZU IHREM NIEDERGANG: DIE REGIE DES LICHTS ALEXANDER BASTEK 135 NICHTS ZU SEHEN: DAS AUSSICHTSLOSE 19. JAHRHUNDERT FLORIAN ILLIES 149 DIE POETIK DES RAUMES: DIE AUSSENWELT DER INNENWELT FLORIAN ILLIES 167 SCHLECHTES WETTER: DER ZAUBER DER FARBE GRAU FLORIAN ILLIES 172 GRAUWERTE AM HIMMEL EIN WEG IN DIE UNGEGENSTÄNDLICHKEIT PETER SLOTERDIJK 181 IM LAND DES LICHTS: DIE ITALIENISCHE ERLEUCHTUNG ALEXANDER BASTEK ANHANG 200 Werkverzeichnis 206 Impressum 208 Bildnachweis

11 FLORIAN ILLIES WARUM ÖLSTUDIEN? Zu den großen Fragen einer kleinformatigen Kunst Carl Hummel 1 Studie eines Baumes im Park der Villa Carlotta 1855 IN MEMORIAM GER LUIJTEN (1956–2022)

12 ie Entdeckung der Ölstudie ist die Rettung für die Kunst des 19. Jahrhunderts. Zuerst für die Künstler selbst, weil sie sich auf diesem Weg europaweit befreien konnten aus dem Korsett der strengen Vorgaben der Kunstlehre und aus den Erwartungshaltungen der Auftraggeber sowie der Öffentlichkeit. Danach wurde die zweite Entdeckung der Ölstudie durch die Betrachter und Sammler des Genres seit etwa 1970 zu einer Möglichkeit, in der scheinbar altmodischen, romantischen oder biedermeierlichen Malerei der ersten sechs, sieben Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts auch Lebendigkeit und Neugier wahrzunehmen – ja, gar einen ersten Lichtstreifen der Moderne. Wieso entdeckten die Künstler die Ölstudie in dieser Zeit und wie setzten sie sie ein? Worin genau liegt die fast magische Zeitlosigkeit dieser Kunstwerke? Warum erreichen sie uns 200 Jahre später viel direkter als die vollendeten Gemälde ihrer Schöpfer? Und: Seit wann galt die Ölstudie eigentlich als ›sammelwürdig‹ und was sind die Herausforderungen in puncto Zuschreibung und Datierung? Die Welt als Material Zur Funktion der Ölstudie für die Künstler Warum fangen die Künstler kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert plötzlich damit an, die Wirklichkeit unter freiem Himmel in kleinformatigen Werken in Öl auf Papier festzuhalten? Es gibt dafür drei Erklärungen – eine mentalitätsgeschichtliche, eine technische und eine praktische. Nach vielen Jahrhunderten, in denen die Künstler Landschaften mittels Stift auf Papier zu erfassen versuchten, bot die Tatsache, dass die Ölfarbe plötzlich mit auf Reisen genommen werden konnte und in der Luft sehr schnell trocknete, ganz neue Möglichkeiten.1 Dass überhaupt ein Bedürfnis danach bestand, die Natur in Farbe abzubilden, das hatte mit der veränderten Weltwahrnehmung in Zeiten von Aufklärung und Säkularisation zu tun. Je mehr das religiöse Verständnis von Himmel und Erde an Bedeutung verlor, desto mehr gerieten die Realitäten der Natur und der Wirklichkeit ins Blickfeld der Künstler. Und um sie ins Bild zu übertragen, brauchte man Wirklichkeitssplitter, die man fortan im neuen Genre der Ölstudie sammelte (Abb. 1). Hinzu kamen die gleichzeitigen großen naturwissenschaftlichen Erkenntnisschübe in Meteorologie, Vulkanologie, in der Systematisierung der Wolkenformen, in der Analyse des Lichts und der Gesteine, die Künstler parallel zu Genauigkeit und Detailreichtum in der Naturwiedergabe animierten.2 Erst in Öl (und nicht in dem leichtfüßigen und durchlässigen Medium des Aquarells) gelang es den Künstlern, das Farbspektrum des Himmels und der Erde samt all ihrer Naturerscheinungen direkt vor dem Objekt in seiner ganzen Tiefe und Prägnanz auf Papier zu übertragen – und zugleich D 1 Vgl. dazu Ann Hoenigswald, »Making their mark: The Handling of Paint in Plein Air sketches«, in: True to Nature. Open-air Painting in Europe 1780– 1870, hg. von Ger Luijten, Mary Morton und Jane Munro, Ausst.-Kat. Fondation Custodia, Paris/National Gallery of Art, Washington, D. C./The Fitzwilliam Museum, Cambridge, London 2020, S. 31– 42. 2 Legendär in diesem Zusammenhang die Weigerung Caspar David Friedrichs, dem Wunsch Goethes zu entsprechen und die Wolkenklassifikation nach Luke Howard in Ölstudien eins zu eins nachzumalen. Friedrich beharrte auf der Eigengesetzlichkeit von ›Kunst‹ und votierte gegen ihre Aufgabe als Dienstleisterin der Naturwissenschaft (der Weimarer Maler Friedrich Preller d. Ä. erfüllte dann Goethes Wunsch – und Friedrichs Befürchtung). Abb. 1 | Edme-Adolphe Fontain Isidore Dagnan beim Malen in der Natur o. J., Öl auf Leinwand, 18,4×22,7 cm Fondation Custodia, Inv. 2014-S39

Jean-Baptiste Camille Corot 2 Civita Castellana um 1826/1827

14 eine ganz neue Sprache für die Darstellung von Lichteffekten zu finden. Es ist kein Zufall, dass die Ölstudie in Italien entstand. Denn es waren die vom Licht in Rom überwältigten Maler, zunächst aus Frankreich, dann aus Deutschland und Skandinavien, die im ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhundert den ›Goldstandard‹ für ein neues Genre setzten: Das Epizentrum ist Rom – und die Franzosen sind ab 1790 die großen Erneuerer; sie begründen eine strahlende Traditionslinie, die mit Pierre-Henri de Valenciennes und Horace Vernet beginnt und über Simon Denis3 zu den großen Ölstudien Jean-Baptiste Camille Corots in den 1820er-Jahren führt, den bis heute unerreichten Gipfelpunkten dieser Kunstform (Kat. 2). Die große Zeit der deutschen Ölstudienmalerei beginnt ebenfalls Anfang des 19. Jahrhunderts in Italien – Johann Georg von Dillis und Martin von Rohden sind die Pioniere, die den späten Klassizismus in der Landschaftsmalerei überwinden; dann folgen die feinnervigen Künstler wie Heinrich Reinhold, Friedlich Nerly und Ernst Fries und schließlich die beiden furiosen Ausnahmefiguren, die im Genre der Ölstudie ihre bedeutendsten Werke schufen, Johan Christian Clausen Dahl und Carl Blechen. Sehr oft ist es die Überwältigung durch das Licht oder einen flüchtigen Natureindruck, die einer Welle oder einem überraschenden Durchblick gleich die Künstler zu Agenten des Augenblicks werden lässt, zu ›Jägern‹, die den besonderen Moment in Windeseile ins Bild zu bannen versuchen, bevor eine Wolke die Sonne wieder verdeckt und das Gestein zu leuchten aufhört, die Schatten versiegen. Zunächst war jede dieser Arbeiten absichtslos – und das Gros der Ölstudien wurde später nie als Vorlage für die Naturdetails in einem Ateliergemälde 3 Vgl. hierzu grundsätzlich Werner Busch, etwa in: Werner Busch (Hg.), Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Berlin 1997, und in Bezug auf die Himmelsmalerei: Werner Busch, »Die Wolken: protestantisch und abstrakt. Theoretische und praktische Empfehlungen zum Himmelmalen«, in: Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, hg. von Heinz Spielmann und Ortrud Westheider, Ausst.-Kat. Bucerius Kunst Forum, Hamburg/ Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin u. a., München 2004, S. 24 –31. 4 Johann Wolfgang von Goethe, Schriften zur Kunst, Teil 2, München 1962 (dtv-Gesamtausgabe, Bd. 34), S. 31. – Kein Wunder übrigens, dass Goethe die aufkommende Praxis der Ölstudien ablehnte: »Könnte man das Skizzieren nach der Natur überhaupt dem Landschaftsmaler abgewöhnen, damit er gleich lernte, einen würdigen Gegenstand unmittelbar geschmackvoll in einen Rahmen zu beschränken, so wäre viel gewonnen.« Brief an Johann Gottlob von Quandt, 1831, vgl. und zit. n.: Christian Ring, »Form, Funktion und Bedeutung von Ölskizzen und Ölstudien«, in: Magie des Augenblicks. Skizzen und Studien in Öl, Ausst.-Kat. Museum Giersch, Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2009, S. 19–38, hier S. 29. 5 In den Selbstzeugnissen der Künstler ist spätestens ab 1850 nur die Rede von »Studien in Öl« oder »Ölstudien«, die sie vor der Natur angefertigt haben. Vgl. dazu auch Christian Ring, »Zur Terminologie von Ölskizze und Ölstudie«, in: Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 2009 (wie Anm. 4), S. 9–18. verwendet. Sie waren alle sowohl Dokumentations- wie Inspirationsmaterial. Gleichwohl steht in zahlreichen Fällen die Studie direkt am Anfang eines Werkprozesses mit eindeutiger Funktion, um authentische Wetterstimmungen, Details der Atmosphäre oder eines Baumes ins Ateliergemälde zu übertragen. Wenn die Studie so eingesetzt und also nachträglich als ›Vorskizze‹ genutzt wurde, dann fungiert paradoxerweise ebendieser ›moderne‹ Realismus der Studien plötzlich als Steigbügelhalter für ›klassische‹ und ›heroische‹ Ideallandschaften gemäß Goethes Ideal, »glücklich aus der Natur gegriffen und glücklich durch den Gedanken überhöht«4 zu sein. Eigentlich jedoch ist jede Ölstudie gemalte Widerrede gegen diese Erhöhung jedes Kunstwerkes durch den Gedanken, sie sind l’art pour l’art. Ihre wirkliche Anerkennung als Genre geschah dann auch erst, als ihr Stilprinzip – die schnelle, skizzenhafte Strichführung – in die Gemälde ›hineinwuchs‹, wie es dann spätestens im beginnenden Impressionismus geschah. Der Begriff Ölstudie bezieht sich also nicht auf einen künftigen Verwendungszweck, sondern steht für ausschnitthafte Abbildung der Wirklichkeit, das bewusste Pars pro Toto. Wir sprechen in diesem Katalog durchgehend von der »Ölstudie«, wenngleich immer wieder synonym der Begriff der »Ölskizze« verwandt wird5 – dies ist eine in der Forschung noch offene Diskussion, doch erscheint uns die Ölskizze als Begriff nur sinnvoll, wenn darin, im Sinne des klassischen Bozzettos, bereits die gesamte Komposition eines künftigen Gemäldes angelegt ist. Entscheidend für das Genre der Ölstudie ist ferner der ungewöhnliche Malgrund: Während die Leinwand in der Regel dem Gemälde im Atelier vorbehalten war, entstanden die Ölstudien in der Natur meist auf

15 Friedrich Preller d.Ä. 3 Waldinneres (Amselgrund bei Rathen) 1823 einem Stück Pappe, Holz oder, am häufigsten, auf Papier, das war am leichtesten zu transportieren. Und um das Papier auf dem Holz des Malkastens zu befestigen, haben die Maler sehr oft die vier Ecken mit Reißzwecken durchstochen – diese winzigen Nagellöcher sind das sichtbare Indiz für ein Entstehen direkt in der Natur und ein entscheidendes Qualitätssignum für Sammler. Denn wir können ansonsten nur spekulieren, wie viele der Ölstudien tatsächlich vollständig vor der Natur gemalt oder welche größtenteils im Atelier vollendet wurden, schlicht weil es draußen zu dunkel oder zu regnerisch wurde. Mit dem Malen einer Ölstudie setzten sich die Maler also nicht nur dem Licht aus – sondern den Elementen. Ölstudien sind von ihren Schöpfern im 19. Jahrhundert lange Zeit nicht als eigenständige Kunstwerke angesehen worden – das ist ein wichtiges Faktum; erst eine moderne Sehweise und die Umbewertung dessen, was ein ›Kunstwerk‹ ist, hat sie in diesen Status gehoben. Zugleich ist das der

23 ANNA CHRISTINA SCHÜTZ STUDIEREN »MIT DEM PINSEL IN DER HAND«1 Die akademische Ausbildung des Landschaftsmalers und die Funktion der Ölstudie bei Johann Wilhelm Schirmer Johann Wilhelm Schirmer 6 Sträucher am Hang 1827–1830

24 it diesem Bild war der junge Maler offenbar zufrieden. Auffällig hat er seinen Namen samt Datierung unten rechts auf den dunklen Bereich der Leinwand gesetzt (Abb. 2): »H. Schilking 18. Nov.« Zu sehen ist ein dichtes Gestrüpp aus Brombeerranken und anderen Pflanzen, die eine steinerne Mauer überwuchern. Heinrich Schilking malte jenes eigenartige Stück Landschaft, das keinen Ausblick zeigt, sondern die detaillierte Wiedergabe genau zu bestimmender Gewächse, während seiner Ausbildung an der Düsseldorfer Kunstakademie. Den Schülerlisten ist zu entnehmen, dass der 21-jährige Schilking ab 1836 die Landschaftsklasse bei dem nur wenige Jahre älteren Johann Wilhelm Schirmer besuchte.2 Dieser hatte zwischen 1827 und 1830, als er selbst noch Schüler der Akademie war, diverse Ölstudien angefertigt, die er nun als Vorlagenmaterial in seiner Lehre einsetzte. Tatsächlich existiert eine Ölstudie Schirmers mit der gleichen Darstellung einer überwachsenen Mauer (Kat. 6).3 Schilking hat die Arbeit seines Lehrers also nahezu exakt kopiert – von der Größe des Bildträgers über die Details in der Darstellung der Pflanzen bis hin zu den unbestimmten Partien im unteren linken und im rechten Bildbereich. Die Ähnlichkeit der beiden Arbeiten lässt kaum erahnen, dass sie in gänzlich anderen Zusammenhängen entstanden: Während Schilking die Malerei – vermutlich in einem der Studiensäle in der Akademie – mit einer detaillierten Bleistiftzeichnung nach der Studie seines Lehrers vorbereitete und dann in Öl ausführte,4 hatte Schirmer das Motiv direkt ohne Vorzeichnung in der Natur gemalt.5 Schirmers Malerei ist nicht signiert, Schilking hingegen setzte seinen Namen auf das fertige Bild und unterstreicht damit stolz seine Leistung – als Kopist und als Schüler. Die Funktion der beiden Studien ist also grundsätzlich verschieden. Diese Diskrepanz und ihre jeweiligen Bedingungen sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der Situation für angehende Landschaftsmaler an der Kunstakademie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts näher beleuchtet werden. Schirmers systematischer Einsatz von Ölstudien in der Lehre sollte für die Ausbildung der Landschaftsmaler6 an deutschen Akademien im 19. Jahrhundert höchst folgenreich sein: Deutschlandweit hat die Methode Signalwirkung. Um diese Tragweite zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick zurück auf Schirmers eigene Studienzeit an der Düsseldorfer Akademie und ein Vergleich mit der Situation an anderen Kunstschulen in Deutschland. Als Schirmer 1825 an die seinerzeit noch von Peter Cornelius geleitete Düsseldorfer Akademie kam, zielte die Ausbildung der Maler hier vor allem auf die Freskomalerei ab. 1826 wurde dann Wilhelm Schadow als neuer Direktor der Akademie eingesetzt. Er brachte aus Berlin eine Gruppe von Schülern mit, darunter Carl Friedrich Lessing, der im selben Jahr auf der Berliner Kunstausstellung erfolgreich als Landschaftsmaler in Erscheinung getreten war. Schirmer, bald aufgenommen in den Kreis der Schadow-­ Schüler, studierte mit Eifer unter seinem neuen Lehrer und orientierte sich an seinen Kollegen, vor allem an Lessing. In Schirmers Lebenserinnerungen heißt es mit Blick auf diese Zeit: »Eigentlich erfuhr ich erst jetzt, daß man als Künstler eben so gut berechtigt wäre[,] seine Existenz in der Landschaftsmalerei, als in der Historien- und Genremalerei zu suchen. [...] [A]ber wie sollte ich es um Gotteswillen anfangen, Landschaftsmalerei zu studiren, es existirte ja kein Lehrer hierzu [...].«7 Tatsächlich war es um die akademische Ausbildung angehender Landschaftsmaler zu diesem Zeitpunkt in Deutschland recht unterschiedlich bestellt. M 1 Brief Salomon Geßner an Konrad Geßner, in: Salomon Geßners Briefwechsel mit seinem Sohne [...], hg. von Heinrich Geßner, Bern/Zürich 1801, S. 187. 2 Vgl. Rudolf Theilmann, »Die Schülerlisten der Landschafterklassen von Schirmer bis Dücker«, in: Die Düsseldorfer Malerschule, hg. von Wend von Kalnein, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf/ Mathildenhöhe Darmstadt, Mainz 1979, S. 144 –148, hier S. 145. 3 Die Zahl solcher erhaltenen Kopien ist überschaubar. Vgl. Marcell Perse und Börries Brakebusch, »Johann Wilhelm Schirmer und die Ölstudienmalerei der Düsseldorfer Landschafter-Schule«, in: Landschaftsmalerei, eine Reisekunst? Mobilität und Naturerfahrung im 19. Jahrhundert, hg. von Claudia Denk und Andreas Strobl, Konferenzschrift, Berlin/ München 2017, S. 161–185, hier S. 167–170. 4 Die detaillierte Vorzeichnung konnte in einer Infrarotaufnahme sichtbar gemacht werden. Vgl. Marcell Perse, »Heinrich Schilking und die Düsseldorfer Landschaftsmalerei um Johann Wilhelm Schirmer«, in: »... dem Künstler hinterhergereist ...«. Heinrich Schilking. Ein westfälischer Maler des 19. Jahrhunderts, hg. von Petra Sondermann und Alfred Georg Smieszchala, Ausst.-Kat. Dezentrales Stadtmuseum Warendorf, im historischen Rathaus Warendorf, Petersberg 2015, S. 137–153, hier S. 140. 5 Zu Schirmers Ölstudienpraxis aus kunsttechnologischer Perspektive vgl. Börries Brakebusch, »Man nannte das Studie und es fristete in der Kunstbewertung eine armselige Rolle. Die Ölstudie im Werk Johann Wilhelm Schirmers«, in: Jülicher Geschichtsblätter, Bd. 82/83/84, Jahrbuch des Jülicher Geschichtsvereins 2014/2015/2016, Aachen 2018, S. 297–342. 6 Die Bezeichnungen beziehen sich im Folgenden tatsächlich nur auf Männer, denn angehende Künstlerinnen waren in dieser Zeit zum Studium an der Akademie nicht zugelassen und mussten stattdessen privaten Unterricht nehmen. Frauen war ein Studium an der Düsseldorfer Akademie erst ab 1921 möglich. 7 Johann Wilhelm Schirmer, »Fragment einer Autobiographie (1807–1830)«, in: Johann Wilhelm Schirmer. Vom Rheinland in die Welt, 2 Bde., hier Bd. 2: Autobiographische Schriften, hg. von Gabriele Ewenz, Petersberg 2010, S. 31–125, hier S. 91

Abb. 2 | Heinrich Schilking (nach Johann Wilhelm Schirmer) Überwachsene Mauer 18. Nov.[ember 1836?] Öl auf Leinwand, auf Leinwand geklebt 25×29,1 cm Kunsthalle Bremen

Zwar hatte die Landschaft als Gegenstand der Malerei bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts in Kunsttheorie und Ästhetik eine Aufwertung erfahren, doch in den Lehrplänen der zum Teil erst wenige Jahrzehnte zuvor gegründeten Kunstakademien musste sie sich noch etablieren. Lessing hatte in Berlin Unterricht bei Samuel Rösel erhalten, der vor allem mit gezeichneten Landschafts- und Architekturdarstellungen auf Ausstellungen vertreten und als Zeichenlehrer tätig war. Sicherlich ebenso folgenreich für Lessing und seinen Zugang zur Landschaftsmalerei war das gut vernetzte Berliner Umfeld. So hatte ihn etwa Ferdinand Sohn an Schadow vermittelt, für den er »einige Studien des bekannten Landschaftsmalers« Heinrich Reinhold kopieren sollte, die sich im Besitz des Akademieprofessors Karl Wilhelm Wach befanden.8 Reinhold wiederum gehörte zu einer neuen Generation von Landschaftsmalern, für die das Nachdenken über die Farbgebung eines Bildes eine herausragende Rolle spielte – und er war in Künstlerkreisen bekannt für seine Ölstudien.9 Vermutlich hat Lessing für Schadow also keine Zeichnungen, sondern Ölstudien Reinholds kopiert. Dieser Hinweis ist ebenso für Schirmers Ölstudienpraxis relevant, setzte er sich doch seinerseits als Kopist mit den von Lessing angefertigten Kopien nach Reinhold auseinander.10 Die Situation in Berlin deutet an, dass sich die angehenden Künstler ihre Fähigkeiten als Landschaftsmaler im Selbststudium aneignen mussten. Das verdeutlicht auch ein Blick an die Dresdener Akademie, an der Abb. 3 | Johann Wilhelm Schirmer Eine Waldgegend: Landschaft nach eigener Erfindung (»Deutscher Urwald«) 1828, Öl auf Leinwand, 90× 141 cm Krefeld, Sammlung Amendt

27 die Landschaftsdarstellung bereits eine längere Tradition hatte – allerdings im Medium der Grafik. 1766 war der Schweizer Adrian Zingg als Professor für Kupferstecherei an die neu gegründete Kunstakademie berufen worden. Einen seiner Schwerpunkte bildete die Reproduktion von Landschaftsgemälden. Vermutlich verwendete der junge Schirmer 1822 Zinggs Stich nach einer Landschaft von Jacob van Ruisdael aus der Dresdener Sammlung als Vorlage für seine erste Radierung.11 Zinggs eigene Landschaftsbilder beruhten auf Skizzen, die er gemeinsam mit Schülern in der Natur anfertigte. Von den regelmäßig stattfindenden Exkursionen berichtete beispielsweise Konrad Geßner, der von 1784 bis 1786 an der Dresdener Akademie studierte. Konrad war der Sohn des Dichters und Malers Salomon Geßner, dem im Diskurs über die Landschafsmalerei im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert eine wichJohann Wilhelm Schirmer 7 Bachschleuse um 1827/1828 tige Stimme zukam. Dem väterlichen Rat, auch in der Natur »mit dem Pinsel in der Hand zu studieren«,12 musste Konrad eigenverantwortlich folgen – Zingg fertigte seine Naturstudien in der Regel mit der Feder an. 1814 übernahm der Zingg-Schüler Carl August Richter die Professur für Kupferstecherei und bildete auf dieser Position weiterhin vor allem zeichnende Landschaftskünstler aus. Noch sein Sohn Ludwig Richter, der ihm 1837 in dieser Professur nachfolgte, hatte Schwierigkeiten mit der Ölstudienmalerei vor der Natur. Von seinem Italienaufenthalt in den 1820er-Jahren berichtete er, dass er und seine Freunde kopfschüttelnd die Malweise der französischen Künstler in Tivoli betrachtet hätten, die in ihren Naturstudien pastos Farbe auftrugen, während Richter und seine deutschen Freunde vor allem gezeichnete Studien anfertigten.13 In Dresden etablierte in dieser Zeit allerdings 8 Vgl. Friedrich von Uechtritz, Blicke in das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben, Bd. 1, Düsseldorf 1839, S. 315 f. 9 Karl Friedrich Schinkel erwarb 1824 eine Gruppe dieser Bilder. Bevor die Studien in Schinkels Besitz übergingen, kopierte Reinhold selbst einige davon. Vgl. Werner Busch, »Die Ölstudie im Werk von Heinrich Reinold«, in: Heinrich Reinhold. Der Landschaft auf der Spur, hg. von Andreas Stolzenburg, Markus Bertsch und Hermann Mildenberger, Ausst.- Kat. Hamburger Kunsthalle/Klassik Stiftung Weimar, München 2018, S. 89–95. 10 Vgl. Schirmer (1807–1830) 2010 (wie Anm. 7), S. 91. 11 Vgl. Rudolph Theilmann, »Daten zu Schirmers Biographie«, in: Johann Wilhelm Schirmer in seiner Zeit. Landschaft im 19. Jahrhundert zwischen Wirklichkeit und Ideal, hg. von Siegmar Holsten, Ausst.- Kat. Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe/SuermondtLudwig-Museum Aachen, Heidelberg 2002, S. 53. 12 Geßner/Briefwechsel 1801 (wie Anm. 1), S. 187. 13 Vgl. Hans Joachim Neidhardt, Ludwig Richter, Leipzig 2003, S. 19.

43 DAS FLÜCHTIGE: DIE MAGIE DES AUGENBLICKS ie Ölstudie steht für den Einzug der Geschwindigkeit in die Landschaftsmalerei – plötzlich war es möglich, ziehende Wolken, gurgelnde Gischt und Wind in den Bäumen zu malen. Und zwar in Farbe, in Öl, direkt in der Natur. In der Technik der Ölstudie gelang um 1800 zunächst den französischen Malern in Rom und wenig später Künstlern in ganz Europa erstmals eine neuartige Form der Annäherung an den Augenblick, an die Dynamik der sich im Licht und Wind verändernden Wirklichkeit. Eine besondere Rolle kam dabei von Anfang an der Darstellung von Wolken zu: Was mit John Constable und Johan Christian Clausen Dahl um 1820 in England und in Italien begann, entwickelte sich an den Akademien alsbald zur wichtigen Gattung für den Künstlernachwuchs. Bei Johann Jakob Frey hatte dieser Blick zum Himmel während seiner italienischen Lehrjahre etwas Manisches – immer und immer wieder versuchte er, die Wolkenformationen in wechselnden Lichtstimmungen zu erfassen. Ihm gelangen dabei glühende Plädoyers für die Schönheit und die Notwendigkeit der Ölstudie. Auch Johann Wilhelm Cordes verdanken wir eine Serie von außerordentlichen Blicken zum Himmel: »Luftstudien«, wie man das damals nannte – die Zeit scheint stillzustehen in diesen so noblen wie norddeutschen Landschaftsausschnitten, das Flüchtige dauerhaft geworden zu sein. Doch nicht nur nach oben schauten die Maler auf ihrer ›Jagd nach dem Augenblick‹ – es reizte sie auch, Wasser unter oder vor sich in seinen wilden Bewegungen abzubilden. Théodore Gudin malte 1839 das tosende Meer von einem Segelschiff aus, Andreas Achenbach die Gischt in Travemünde und Heinrich Reinhold war so fasziniert von der Mannigfaltigkeit der Natur, dass er an einem Tag am Strand von Sorrent die anbrausenden Wellen zu zwei verschiedenen Tageszeiten und Windstärken malte, gleichsam zwei Vorläufer von Monets legendärem Serienmotiv des Heuhaufens. | FI D Théodore Gudin 11 Marine im Sturm vom Schiff »Le Véloce« aus gesehen 1839

44 Heinrich Reinhold 12 Welle an der Küste Sorrentos 1823

45 Heinrich Reinhold 13 Cocumella bei Sorrent 1823

Johann Jakob Frey 17 Wolkenstudie um 1835/1839

51 Johann Jakob Frey 18 Wolkenstudie um 1835/1839

65 DRAUSSEN VOR DER TÜR: HEIMATERKUNDUNG IN ÖL andschaft mit Künstleraugen zu sehen, das bedeutet, Natur vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Der Darstellung erhabener Berge, stürmischer See oder weiter Himmel ging stets ihre Wahrnehmung voraus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zog es viele Landschaftskünstler ins Freie. Zwar ist schon seit Jahrhunderten auf der für viele Kunstschaffende obligatorischen Italienreise in der Natur gezeichnet worden, doch nun wurde im Freien gemalt. Die Landschaftskünstler traten allein oder zu mehreren Wanderungen an und erkundeten die Umgebungen ihrer Heimatstädte: Johann Georg von Dillis entdeckte für sich die Parks und das Umland Münchens, Carl Blechen wanderte in Berlin und Brandenburg, die Düsseldorfer Akademieschüler durchstreiften die ländliche Umgebung entlang des Rheins bis ins Bergische Land. Ganz ohne Ausrüstung kam das ›Atelier im Freien‹ allerdings nicht aus und so trugen die meisten Ölstudienmaler neben Gehstock und Rucksack diverse Utensilien mit sich. Eine Sitzgelegenheit, einen Sonnenschirm, vielleicht sogar eine kleine Staffelei. Ganz sicher aber einen Malkasten, in dem später die noch feuchten Ölbilder untergebracht wurden. Und natürlich die Farben, die noch im Atelier angerührt und dann in Schweinsblasen verpackt transportiert worden sind – erst die Erfindung der Farbtube 1841 sollte den Künstlern diese umständliche Arbeit abnehmen. Johann Wilhelm Schirmer berichtet in seinen Lebenserinnerungen davon, dass sowohl die Größe der Malgründe als auch die Breite der Farbpalette beim Malen im Freien relativ beschränkt waren. Die Limitierung der Mittel tat dem Anspruch an die Darstellung jedoch keinen Abbruch. Die im Freien gemalten Ölstudien beruhten allesamt auf genauer Beobachtung und hatten das Ziel, das Gesehene präzise zu erfassen und davon ein charakteristisches Bild festzuhalten. | ACS L Johann Wilhelm Schirmer 35 Bachschnelle an der Elz 1847

Johann Wilhelm Schirmer 36 »Parthie« an der Düssel mit Pestwurz (Wiesenbach) um 1827–1830

67 Johann Wilhelm Schirmer 37 Bachufer mit Pestwurz um 1827/1830

68 Eduard Wilhem Pose (zugeschrieben) 38 Waldbach 1831

69 Arnold Böcklin 39 AmWaldrand um 1853

108 Christian Friedrich Gille 77 Baumstudie, Studie freier Äste o. J. Christian Friedrich Gille 76 Baumstudie o. J.

109 Christian Friedrich Gille 78 Baumkrone gegen blauen Himmel o. J.

110 Alexandre Calame 79 Gestürzter Baum, vom Blitz getroffen um 1837

Anonym 80 Komposition mit morschem Baumstamm um 1820

149 DIE POETIK DES RAUMES: DIE AUSSENWELT DER INNENWELT er Radikalität des verweigerten Blicks im vorherigen Kapitel steht die Poetik des Raumes in diesem Kapitel gegenüber. Wo zuvor bewusst die Begrenztheit der Zweidimensionalität der Wirklichkeit gezeigt werden sollte und ihre Undurchdringlichkeit, wird hier das Außen mit dem Innen in eine faszinierende dreidimensionale Wechselbeziehung gesetzt. Genau diese Auffassung − dass also der Blick nach außen ein »Blick nach innen« sei, wie es Otto von Simson formulierte − ist ein zentrales Wesensmerkmal der gesamten Kunst des 19. Jahrhunderts. Im Feld der Interieurmalerei entstanden Studien und Gemälde, die immer wieder das große Thema Room with a View variierten, wie die bedeutende Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum 2011 hieß. Caspar David Friedrich gilt mit den Zeichnungen der Ausblicke aus seinem Atelier um 1810 gleichsam als Initiator der neuen Bildgattung. Wie wirkmächtig dieser Topos vor allem in der Dresdener Malerei war, demonstriert Traugott Fabers geöffnetes Fenster, bei dem sich der Blick des Auges aus der Geborgenheit des Innenraumes in die Landschaft der Elbe ausdehnen darf. Für dieses Erschauen von Weite galt es, einen ›Rahmen‹ zu finden – ein Fenster zumeist, aber es konnte ebenso ein Blick aus einem Boot sein oder aus einer Höhle, der das ›Framing‹ übernimmt. Ja, als ›Innenraum‹ wurde von den Ölstudienmalern oft auch ein natürlicher Raum verstanden, eine Höhle oder eine Schlucht. Unsere Ausstellung führt zahlreiche Beispiele zusammen, die demonstrieren, wie in der deutschen und französischen Malerei etwa die tonige Erfassung von Steinwänden mit großer Zärtlichkeit und Genauigkeit vollzogen wurde. Das signifikante Subthema des ganzen Kapitels ist indes das Licht – das durchs Fenster leuchtet, das man am Ende der Höhle erspäht, das in den Keller hineindämmert – oder das schmerzlich vermisst wird. Erst das Licht sorgt dafür, dass in diesen Studien die Grenzen der Sphären von Innen und Außen überhaupt spürbar werden und sich die Poetik des Raumes entfalten kann. | FI D Jean-Baptiste Gibert 115 Inneres einer Höhle o. J.

150 Frans Vervloet 116 Felsgrotte um 1840

151 Anonym 117 Kellergewölbe in Rom 1828

164 Heinrich Bürkel (zugeschrieben) 132 Aufgang zur Parktor des Palazzo Chigi, Ariccia um 1830

165 Georg Heinrich Crola 133 Umrankte Gartenpforte, Eingang zu einem Landhaus 1828

186 Johann Carl Baehr 152 Straße in Tivoli / Campanile von San Michele 1828

187 Oswald Achenbach 153 Palazzo Ruspoldi in Nemi (Italienisches Bergdorf) 1850

Es ist eine große Revolution auf kleinstem Format: Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts zogen Malerinnen und Maler mit ihren Ölfarben in die Natur, um unter freiem Himmel das aufs Papier zu bannen, was zuvor nicht bildwürdig war – ziehende Wolken, Steine amWegesrand, ein Lichtstrahl in der Baumkrone. Erstmals führt dieser Katalog in Deutschland die zeitlose Frische und magische Leuchtkraft der Ölstudien vor Augen.

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