Leseprobe

Technisches Kulturgut Zirkulation, Ansammlungen und Dokumente des Entzugs zwischen 1933 und 1945 1 HERAUSGEGEBEN VON RON HELLFRI TZSCH, SÖREN GROSS UND T IMO MAPPES

HER AUSGEGEBEN VON RON HELLFR I TZSCH, SÖREN GROSS UND T IMO MAPPES STIFTUNG DEUTSCHES OPTISCHES MUSEUM SANDSTEIN

Technisches Kulturgut 1 Zirkulation, Ansammlungen und Dokumente des Entzugs zwischen 1933 und 1945

UWE HA R TMANN 7 Grußwort RON HEL L F R I T Z S CH , SÖR EN GROS S UND T I MO MA PPE S 11 Einleitung Erschließungs- und Identifizierungsmethoden in Sammlungen BERNHA RD WÖRR L E 18 Wo anfangen? Ein Grob-Survey zu möglichen NS-Provenienzen am Deutschen Museum EL I S A BE TH WEBER UND PE T ER PRÖL S S 25 Provenienzforschung im Deutschen Technikmuseum Herausforderungen und Möglichkeiten Kunsthandel mit technischen Instrumenten PE T ER PL A S SME Y ER 34 Ankaufsstrategien und -möglichkeiten Die Sammlungserweiterung des Mathematisch-Physikalischen Salons in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts CHR I S T I AN K LÖS CH 39 NS-Raubgut und Verdachtsfälle auf Raubgut bei Erwerbungen aus dem (Kunst-)Handel im Technischen MuseumWien

Fallbeispiele aus dem Deutschen Optischen Museum SÖR EN GROS S 52 Die Guckkastenbildersammlung des Deutschen Optischen Museums Sammlungsgenese, Erwerbungsrekonstruktion und Objektidentifizierung RON HEL L F R I T Z S CH 82 »Der Mann ist für unsere Sammlung recht wichtig ...« Das Optische Museum in Jena und der Frankfurter Kunsthändler Walter Carl Aufzeichnungen unrechtmäßigen Entzugs in der NS-Zeit K ATHR I N K L E I B L 100 Optisch-technische Instrumente auf Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg Der Fall des Fotofachgeschäftsinhabers Leo Bernstein aus Berlin I R A B AG ANZ 117 Die Wiedergutmachungsakten im Landesarchiv Berlin Anhang 125 Die Arbeitsgruppe Technisches Kulturgut 126 Autor*innen 128 Impressum

Erschließungs- und Identifizierungsmethoden in Sammlungen

18 Wo anfangen? Ein Grob-Survey zu möglichen NS-Provenienzen am Deutschen Museum B ERNHA RD WÖRRLE | DEUT S CHE S MUS EUM , MÜNCHEN Die Überprüfung der Sammlungsbestände auf NS-verfolgungs- bzw. -kriegsbedingt entzogenes Kulturgut gehört zu den Kernaufgaben der öffentlichen Museen in Deutschland.1 Wo fängt man bei einer Sammlung von ca. 125 000 Exponatenmit dieser Überprüfung an? Im Vergleich zu den Erwerbungen in den Jahren davor ist die Anzahl der unmittelbar in der NS-Zeit erworbenen Objekte am Deutschen Museum mit knapp 4 600 Inventarnummern zwar relativ gering.2 Auch bei dieser Menge muss man aber Prioritäten setzen, bevor man mit der Untersuchung einzelner Fälle und aufwändigen Archivrecherchen beginnt. Hinzu kommt, dass es sich auch bei späteren Erwerbungen aus zweiter oder dritter Hand unter Umständen um NS-Raubgut handeln kann. Sofern das Objekt vor 1945 entstanden ist, sind daher auch spätere Zugänge auf ihre Provenienz zu prüfen.3 Summa summarum sind das imDeutschen Museumüber 30 000 Objekte. – Was davon ist wirklich verdächtig? Systematisch untersucht ist bislang nur die in der NS-Zeit stark ausgebaute Kraftfahrzeugsammlung des Hauses: Bei einemViertel der zeitlich infrage kommenden und heute noch vorhandenen Autos, Motorräder und Motoren wurde die Provenienz im Rahmen einer 2010 vom Technischen MuseumWien ausgehenden Studie als unbedenklich eingestuft. Beim Rest war die Herkunftsgeschichte anhand der vorhandenen Unterlagen nicht mehr genauer zu ermitteln.4 Der 2010 erschienene Sammelband »Das Deutsche Museum im Nationalsozialismus« erwähnt zwar, dass das Museum 1941/42 aus Wehrmachtskreisen einige Objekte aus den besetzten Gebieten erhalten hat. Da diese Objekte bereits 1946 bis 1948 restituiert worden sind, wird die Frage möglicher 1 Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) (Hrsg.): Handreichung zur Umsetzung der »Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz« vom Dezember 1999, Neufassung 2019 (Onlinezugang: www.kulturgutverluste.de/handreichung, letzter Abruf 25. 3. 2022). 2 Knapp die Hälfte des heute vorhandenen Exponatbestands wurde in der Gründungsphase des Hauses 1903 bis 1925 eingeworben. Danach geht die jährliche Zahl an Neuzugängen signifikant zurück und nimmt erst in den 1980ern allmählich wieder zu. 3 BKM: Handreichung (wie Anm. 1), S. 22; siehe auch Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (Hrsg.): Leitfaden Provenienzforschung, 2019, S. 30 (Onlinezugang: www.kulturgutverluste.de/leitfaden, letzter Abruf 25. 3. 2022). 4 Kühschelm, Oliver: Kraftfahrzeuge als Gegenstand von »Arisierungen«: Provenienzforschung zur Kraftfahrzeugsammlung des Deutschen Museums und Forschungen zur Enteignung von Kraftfahrzeugen in Bayern. Deutsches Museum, Preprint 4, München 2012 (Onlinezugang: www.deutsches-museum.de/assets/Verlag/ Download/Preprint/Preprint_004_2012.pdf, letzter Abruf 25. 3. 2022).

19 Wo anfangen? | Bernhard Wörrle NS-Provenienzen im Sammlungsbestand des Hauses aber nicht weiter beleuchtet.5 Spätestens seit 2020 ist jedoch klar, dass auch das Deutsche Museum nicht frei von Verdachtsfällen ist: Die im Rahmen einer konservierungswissenschaftlichen Masterarbeit vorgenommenen Untersuchungen an einem Jagdflugzeug des Typs Fokker D.VII, das das Museum 1948 von der amerikanischen Militärregierung zugesprochen bekam, bestärken den schon länger bestehenden Verdacht, dass es sich um ein Flugzeug aus der Sammlung des Nationalen Luftfahrtmuseums der Niederlande handeln könnte, das 1940 vom NS-Regime für die Deutsche Luftfahrtsammlung in Berlin requiriert worden ist.6 Eine abschließende Klärung steht allerdings noch aus. Wie filtert man aus 30 000 Exponaten, bei denen eine NS-Provenienz rein zeitlich theoretisch möglich ist, diejenigen heraus, bei denen es tatsächlich weitergehende Anhaltspunkte für eine NS-verfolgungs- bzw. -kriegsbedingte Herkunft gibt? Automatisierte Prüfung auf einschlägige Namen Die Sammlung des Deutschen Museums ist vollständig in einer Datenbank erfasst. Diese beinhaltet auch die (bei älteren Beständen aus den originalen Inventarbüchern übertragenen) Erwerbungsdaten: Zugangsdatum, -art und -wert, Name des Verkäufers/Einlieferers, Adresse, ggf. Institution, nicht selten mit Angaben zu Abteilung und Position/Beruf. Gleichzeitig sind, ebenfalls digital, Listen mit einschlägigen Namen von in den NS-Kulturgutraub involvierten Personen und Institutionen verfügbar, z. T. öffentlich imNetz wie die noch von den Alliierten erstellte ALIU-List of Red Flag Names7 oder die Proveana-Datenbank des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste,8 z. T. in geschlossenen Forschungsforen wie demRessourcenrepositoriumdes Forschungsverbunds Provenienzforschung Bayern.9 Die Idee lag nahe, das eine mit dem anderen automatisch abzugleichen. Technisch braucht es dazu nicht mehr als zwei Tabellen mit den jeweiligen Namen, eine kleine Abfrage, die festlegt, auf welche Weise die Daten aus der einenmit den Daten aus der anderen verglichen werden sollen, und ein wenige Zeilen langes Skript, das für die Abarbeitung sorgt. Als Plattform wurde MS Access verwendet, das Gleiche lässt sich aber auch mit beliebigen anderen Datenbanksystemen machen. In der Praxis stellt sich das Problem, dass die Namenslisten im Netz in der Regel nicht ausreichend strukturiert vorliegen. Sie müssen erst aufbereitet werden, um sicherzustellen, dass Nachnamen immer mit Nachnamen und Vornamen mit Vornamen verglichen werden etc. Hinzu kommen abweichende Schreibweisen, Abkürzungen und andere Probleme. Eine zentrale Bereitstellung bereits bereinigter, einheitlich strukturierter Listen (mit Namensvarianten!) wäre enorm hilfreich. 5 Vaupel, Elisabeth/Wolff, Stefan L. (Hrsg.): Das Deutsche Museum in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme. Göttingen 2010, S. 24. Zu den restituierten Objekten s. auch Wörrle, Bernhard: Kriegsbeute Russland 1942, in: Der Blog des Deutschen Museums, 24. 9. 2021 (Onlinezugang: blog.deutschesmuseum.de/2021/09/24/kriegsbeute-russland-1942, letzter Abruf 25. 3. 2022). 6 Mitschke, Dennis: Deutsch oder »Dutch«? Untersuchungen an der textilen Bespannung und dem Anstrich der Fokker D.VII aus demDeutschen Museum (Masterthesis, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart), München 2020. 7 www.lootedart.com/MVI3RM469661, letzter Abruf 25. 3. 2022. 8 www.proveana.de, letzter Abruf 25. 3. 2022. 9 www.provenienzforschungsverbund-bayern.de, letzter Abruf 25. 3. 2022.

20 Erschließungs- und Identifizierungsmethoden in Sammlungen Obwohl im Rahmen des durchgeführten Surveys nur eine grobe Datenaufbereitung möglich war, erbrachte der Namensabgleich doch einige interessante Treffer, darunter ein imDezember 1933 als Schenkung der wenige Jahre später »arisierten« Kunst- und Antiquitätenhandlung Bernheimer, München, zugegangener Handwebstuhl, mehrere zwischen 1933 und 1948 vom (auch in der Sammlung des Deutschen Optischen Museums vertretenen) Münchner Kunsthändler Erich Junkelmann angekaufte Antiken und Asiatika sowie zwei 2005/2009 als Depotfunde inventarisierte Grafiken aus dem 1937 von den Nazis liquidierten Münchner Antiquariat von Emil Hirsch. Ebenfalls im Ergebnis des Abgleichs enthalten: ein im Mai 1933 von E. Kahlert & Sohn, Berlin, für 150 Reichsmark angekauftes Reißzeug von 1775 (Abb. 1). Kahlert steht wegen Verbindungen zum NS-Raubkunsthandel auf der ALIU-Liste. Zusätzlich hellhörig macht die imSchriftwechsel zu diesemAnkauf enthaltene Bitte nach baldiger Bezahlung, da die Kaufsumme des offensichtlich bei Kahlert in Kommission gegebenen Reißzeugs vom Besitzer desselben »dringendst« benötigt werde.10 Das könnte auf eine Notveräußerung hindeuten. Die gewaltsamen Übergriffe und Drangsalierungen des NS-Regimes hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.11 Ob tatsächlich ein NS-Verfolgungskontext vorliegt, muss sich, wie in den anderen Fällen, natürlich erst erweisen. In jedem Fall liefert der automatisierte Namensabgleich erste Ansatzpunkte für solche tiefer gehenden Recherchen. 10 Deutsches Museum Archiv, VA 1744/2. Laut Kahlert kommt das Reißzeug »aus adeligem Besitz«, ein konkreter Name wird nicht genannt. 11 Siehe z. B. Bickhoff, Nicole: Gesetze und Verordnungen gegen die Juden – Teil I. Vom planmäßigen Boykott zur beruflichen Ausgrenzung (März 1933 bis Sommer 1935), in: Högerle, Heinz /Müller, Peter /Ulmer, Martin (Hrsg.): Ausgrenzung, Raub, Vernichtung. NS-Akteure und »Volksgemeinschaft« gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, Stuttgart 2019, S. 35–40. 1 Offenbar aus Not verkauft – aber mit welchemHintergrund? ImMai 1933 bei E. Kahlert & Sohn, Berlin, erworbenes Reißzeug von 1775 (Deutsches Museum, Inv.-Nr. 65490). Foto: Deutsches Museum, K. Rainer.

21 Wo anfangen? | Bernhard Wörrle 2 Zugangsdaten der Jahre 1933 bis 1948: automatische Gruppierung der Einträge im Datenbankfeld Position/Beruf. Suche nach einschlägigen Institutionen und Begriffen Auf ähnliche Weise wurden die in der Datenbank erschlossenen Zugangsdaten für denZeitraum 1933 bis 1948 halbautomatisiert nach Begriffen und Wortbestandteilen durchsucht, die auf am Raub von Kulturgütern und jüdischen Vermögenswerten beteiligte Institutionen des NS-Staates (z. B. *leih*, *stab*, *heer*, *reichs*, *amt* etc.) oder auf Profiteure des NS-Kunstraubs (Kunst- und Antiquitätenhandel, andere Museen ...) hindeuten.12 Aufschlussreich kann es auch sein, die Daten in bestimmten Feldern einmal zu gruppieren, z. B. in Position/Beruf. Das geht auch ohne Datenbank mit der AutofilterFunktion in jedem Tabellenkalkulationsprogramm: Da die Menge zu sichtender Daten dadurch auf eine überschaubare Menge schrumpft (jeder Wert wird nur noch einmal angezeigt), lassen sich auffällige Begriffe schnell entdecken (Abb. 2). Für weitergehende Recherchen konnte so eine Reihe von in der NS-Zeit erfolgten Ankäufen bei Antiquitätenhändlern identifiziert werden, deren Namen nicht auf den oben erwähnten Listen stehen. Dennoch erscheint eine genauere Prüfung dieser Erwerbungen ratsam. So durchlief etwa der Antiquar Walter Carl, bei dem das Deutsche Museum 1936 ein wertvolles Grafometer kaufte, nach Recherchen des D.O.M., das ebenfalls Objekte von Carl erworben hat, wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft 1947 ein Spruchkammerverfahren, in dem ein ehemaliger Mitarbeiter angab, Carl habe auch 12 Vgl. BKM: Handreichung (wie Anm. 1), S. 22ff.; Deutsches Zentrum Kulturgutverluste: Leitfaden (wie Anm. 3), S. 44ff. Um auch nach Kriegsende erfolgte Zuweisungen durch die Alliierten zu erfassen (vgl. den oben beschriebenen Fall der Fokker D.VII), wurde der Betrachtungszeitraum bis 1948 ausgedehnt.

22 Erschließungs- und Identifizierungsmethoden in Sammlungen 3 Kriegsbeute Russland 1942. (Deutsches Museum, Inv.-Nr. 70292) mit in der Datenbank erfassten Zugangsdaten und dazugehörender Feldpostkarte. Foto: Deutsches Museum, C. Tylla; Deutsches Museum, VA 1374.

23 Wo anfangen? | Bernhard Wörrle nach 1933 Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Händlern unterhalten.13 Auffällig erscheinen auch ein größeres Konvolut von Schreibmaschinen aus der Zeit von 1879 bis ca. 1925, das 1936 vom heute nicht mehr existierenden Handels- und Industrie-Museum Hannover übernommen wurde, sowie eine 1943 vomBayerischen Nationalmuseum als Schenkung erhaltene Zeigerschreibmaschine von 1890. In beiden Fällen könnte es sich um Abgaben nicht mehr benötigter Altbestände handeln.14 Denkbar ist aber auch eine Herkunft aus verfolgungsbedingt veräußertem oder entzogenem jüdischem Besitz.15 Aufgrund der Adressangabe »Feldpost Nr L 04308« geriet bei der Suche nach verdächtigen Begriffen auch ein 1942 in die Sammlung aufgenommenes »russisches Vorhängeschloss mit Einschraubschlüssel« ins Visier (Abb. 3). Mithilfe einschlägiger Internet-Datenbanken16 ließ sich schnell rekonstruieren, dass der Absender des Schlosses bei einer Flak-Abteilung im Einsatz war, die ab Juni 1941 am Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion beteiligt war. Der naheliegende Verdacht, dass es sich um ein Kriegsbeuteobjekt handelt, bestätigte sich schließlich bei einer kurzen Archivrecherche: Laut einer in den Verwaltungsakten abgehefteten Feldpostkarte vom 25. Februar 1942 wurde das Schloss von einem deutschen Soldaten »imDorfe Bal-Samosch« bei Nowgorod »gefunden«.17 Auch bei mehreren aus Frankreich stammenden Flugzeugmotoren, die zusammenmit der eingangs erwähnten Fokker D.VII 1948 über die »Militärregierung von Bayern, aus Beständen des Luftfahrtmuseums Berlin« ans Haus gekommen sind, könnte die Provenienz verdächtig sein. Eine genauere Betrachtung verdienen sicher auch die zwischen 1933 und 1945 inventarisierten Zugänge von »unbekannt«. Ankäufe & Schenkungen von Privatpersonen im Zeitraum 1933 bis 1945 Das Technische MuseumWien (TMW) hat in der 2015 erschienenen Publikation »Inventarnummer 1938« eindrücklich gezeigt, dass auch Alltagsgegenstände und technische Geräte, die in der NS-Zeit von privat erworben wurden, mitunter problematische Provenienzen haben: sei es, weil es sich umÜbergaben von »Ariseuren« handelt, oder aber um verfolgungsbedingte Angebote jüdischer Personen, die ihren Besitz vor der Flucht oder Deportation notgedrungen veräußerten oder verschenkten. In der Sammlung des 13 Siehe hierzu den Beitrag von Ron Hellfritzsch in diesem Band. 14 Das Handels- und Industrie-MuseumHannover wurde ab 1934 neu konzipiert und umgebaut (siehe hierzu Onlinezugang: www.wikipedia.org/wiki/Handels-_und_Industriemuseum_(Hannover), letzter Abruf 25. 3. 2022), auch das Bayerische Nationalmuseum hat zur »Purifizierung« seiner Sammlung immer wieder Abgaben von Altbeständen an andere Häuser vorgenommen (Information Dr. Matthias Weniger, BNM, 17. 5. 2021). 15 Bspw. aus notgedrungenen oder erzwungenen Geschäftsaufgaben. Ab dem 13. November 1941 waren dann »sämtliche in jüdischem Privatbesitz befindliche Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, Vervielfältigungsapparate, Fahrräder, Photoapparate und Ferngläser [...] zu erfassen und abzuliefern«, Antijüdische Gesetze und Verordnungen, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Die Nacht als die Synagogen brannten. Texte und Materialien zum 9. 11. 1938, Stuttgart 1998, S. 11 (Onlinezugang: www.lpbbw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/bausteine_materialien/Die_Nacht_als_die_Synagogen_brannten. pdf, letzter Abruf 25. 3. 2022). 16 Z. B. Feldpostnummer-Database auf www.photo-war.com/ru, letzter Abruf 25. 3. 2022. 17 Deutsches Museum Archiv, VA 1374; siehe auch Wörrle: Kriegsbeute (wie Anm. 5).

Kunsthandel mit technischen Instrumenten

34 Ankaufsstrategien und -möglichkeiten Die Sammlungserweiterung des Mathematisch-Physikalischen Salons in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts PETER PL A SSME Y ER MATHEMAT I S CH - PH Y S I K A L I S CHER S A LON , DRE SDEN Der Mathematisch-Physikalische Salon (MPS) ist eines von 15 Museen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Er wurde 1728 als eine höfische Sammlung gegründet und lässt sich unmittelbar auf die etwa 1560 gegründete Kunstkammer der sächsischen Kurfürsten im Dresdner Residenzschloss zurückführen. Seit 1728 ist er im Dresdner Zwinger beheimatet. Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurde vor allem zeitgenössisch gesammelt und der ältere Bestand verwaltet. Sammeln bedeutete bis dahin: kaufen, in Auftrag geben, als Geschenk entgegennehmen. Aktives und passives Sammeln halten sich mehr oder weniger die Waage. Erst im 19. Jahrhundert begann der Ausbau der Sammlung nachmusealen Erwägungen, was auch historische Objekte begehrlich werden ließ. Die Auflösung der Restbestände der einstigen Kunstkammer in den 1830er Jahren bildete gewissermaßen den Auftakt. Dabei gelangten vor allem Uhren und Figurenautomaten in den MPS. Andere Exponate wurden dem Grünen Gewölbe übertragen oder sogar verkauft. Eine Strategie ist hinter der Aufteilung nicht zu erkennen. Erstmals gelangten aber (historische) Räderuhren in den Bestand des Salons. Bis dahin befanden hier sich nur Sonnenuhren und mechanische Uhren, die für die Himmelsbeobachtung im Observatorium des MPS erworben bzw. gebaut worden waren. Bei der Transformation in eine museale Sammlung im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert stand vor allem der Aufbau einer Uhrensammlung im Vordergrund, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Globensammlung ein weiterer Schwerpunkt. Für die weitere Genese der Uhrensammlung war vor allemdie Erwerbungspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegweisend. In quantitativer Hinsicht wirkten sich diese Ankäufe allerdings in ungleich geringeremMaße aus, als man vielleicht erwarten würde. Schwerpunkte bildeten die Kontakte zu privaten Besitzern und Sammlern, die Entstehung eines professionellen Handels mit historischen wissenschaftlichen Instrumenten und Uhren und die Enteignung von Gegenständen vor politischemHintergrund. Die damals erfolgten Zugänge lassen sich anhand der imMPS aufbewahrten Zugangsbücher, Inventare, Erwerbungskorrespondenzen sowie weiterer erhaltener Aktenbestände des Salons rekonstruieren. Aus den Akten und der Erwerbungskorrespondenz lassen sich zudem auch abgelehnte Angebote ermitteln.

35 Ankaufsstrategien und -möglichkeiten | Peter Plaßmeyer Weitere wichtige Informationen können Publikationen entnommen werden, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden, teilweise aber erst nach dem Krieg publiziert wurden, denn sie dokumentieren den Bestand aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Hierzu gehören vor allem die Werke von Maximilian Bobinger1, Ernst Zinner2 und Alfred Rohde (Abb. 1).3 Zu den wichtigen Erwerbungen des 20. Jahrhunderts zählt die 1905 erfolgte Übernahme der Instrumente aus der Universitätssternwarte in Leipzig.4 In diesemZuge wurde ein Vollkreis von Edward Troughton (1753–1835) aus dem Universitätsbestand an das Deutsche Museum in München abgegeben. Im Gegenzug bekam der MPS eine Luftpumpe des bedeutenden Augsburger Instrumentenbauers Georg Friedrich Brander aus demBestand des Deutschen Museums übertragen. Der für die Neuausrichtung der Sammlung des MPS wichtigste Ankauf war 1909 der Erwerb von 120 Objekten, überwiegend Taschenuhren, aus der Uhrensammlung des Uhrmachers Robert Pleissner (1849–1916), Dresden, Rosmariengasse 2 (Abb. 2). Die Firma wurde nach Pleissners Tod von seinem Sohn Paul (1876–1950) weitergeführt. Taschenuhren und kleine Sonnen1 Bobinger, Maximilian: Alt-Augsburger Kompassmacher, Augsburg 1966; ebenso ders.: Kunstuhrmacher in Alt-Augsburg, Augsburg 1969. Bobingers Aufzeichnungen befinden sich im Stadtarchiv Augsburg, siehe hierzu Keil, Inge: Der Nachlass von Maximilian Bobinger, in: Beiträge zur Astronomiegeschichte, Bd. 5 (2002), S. 238–240. Ausgewählte Korrespondenz mit Museen und Archiven zu historischen technischen Instrumenten enthält zudem ein imMaximilianmuseum in Augsburg zugängliches Zettelarchiv der Museen der Stadt Augsburg. Darin finden sich auch Abschriften von Archivalien, die heute nicht mehr zugänglich sind. 2 Zinner, Ernst: Deutsche und niederländische astronomische Instrumente des 11.–18. Jahrhunderts, München 1956. Zinners Materialsammlung für dieses Buch befindet sich im Archiv der Universität Frankfurt amMain. 3 Rohde, Alfred: Die Geschichte der wissenschaftlichen Instrumente vom Beginn der Renaissance bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1923; Rohde, Alfred: Hamburgische Instrumentenmacher des 17. und 18. Jahrhunderts, Flensburg 1923. 4 Die folgenden Beispiele sind alle dem Zugangsbuch des MPS von 1874 entnommen. 1 Titelseite von Alfred Rohdes 1923 in Leipzig veröffentlichtemWerk »Die Geschichte der wissenschaftlichen Instrumente«.

36 Kunsthandel mit technischen Instrumenten uhren bildeten einen Schwerpunkt der in den folgenden Jahrzehnten getätigten Erwerbungen. Ab 1916 erfolgen wiederholt Ankäufe aus dem Kunsthandel M. Salomon, Dresden, Prager Straße. Diese wurden u. a. von Kommerzienrat Georg Arnhold (1895– 1926) unterstützt. Eine größere Anzahl Sonnenuhren konnte 1917 auf der Versteigerung der Sammlung Richard Kaufmann in Berlin erworben werden. Im selben Jahr trat auch der Kunsthandel Gebr. Colli, Innsbruck, in Erscheinung. Ein amKarlsplatz 5 in München ansässiges Antiquariat erscheint ab 1924 wiederholt. 2 Reisewagenuhren aus der Sammlung Robert Pleissner, in: Dresden in der Geschichte der Uhrmacherei. Erinnerungsgabe zum 50jähr. Jubiläum der Firma Robert Pleissner, Dresden 1924, Tafel 1.

37 Ankaufsstrategien und -möglichkeiten | Peter Plaßmeyer 1925 erfolgte über den Kunsthandel Alexander Ericsson in Dresden einer der spektakulärsten Ankäufe, als das »Blaue Seechronometer« von Thomas Mudge (Abb. 3), eine Wegmarke aus der Entstehungsgeschichte des Seechronometerbaus, erworben werden konnte. Ericsson (?–?) war ein schwedischer Uhrmacher, der in St. Petersburg einen Handel betrieb und sich in den 1920er Jahren in Dresden niederließ. Ebenfalls wiederholt taucht ab 1935 Karl Franz Heym, Kaulbachstraße 30, Dresden als Verkäufer auf. Eine zentrale Gestalt beim Ausbau der Sammlung des MPS war der Restaurator Max Engelmann (1874–1928). Er publizierte in großem Umfang die Bestände und war bestens vernetzt. Gemeinsammit demHändler und Sammler Carl Marfels (1854–1929) und demKunsthistoriker Ernst von Bassermann-Jordan (1876–1932), der 1905 eine umfangreiche Abhandlung zur Geschichte der Räderuhr veröffentlicht hatte (Abb. 4), schuf Engelmann in Deutschland ein Interesse und einen Markt für historische Uhren. Dabei trafen sie sich wiederholt in Dresden, wo Marfels auch seine privaten Sammlungen präsentierte. Es ist anzunehmen, dass Engelmann durch Robert Pleissner auf die Bedeutung historischer Uhren aufmerksam gemacht wurde. Pleissner hielt sich von 1868 bis 1871 in Paris auf, wo er mit höchster Wahrscheinlichkeit auf die Uhren in den Sammlungen des Prinzen Petr Soltikoff (1804–1889) und des Kunsthändlers Frédéric Sámuel Spitzer (1815–1890) aufmerksamwurde. So ließe sich jedenfalls erklären, wieso er eine Uhr aus der Sammlung Soltikoff nachbaute. Engelmann pflegte auch Kontakt zumAmsterdamer Händler und Sammler Anton Mensing (1866–1936). Mensing besaß privat eine bedeutende Sammlung von wissenschaftlichen Instrumenten. Sie bildeten später den 3 Das »Blaue Seechronometer« von Thomas Mudge, Plymouth 1777 (Mathematisch-Physikalischer Salon Inv. Nr. D IV b Nr. 11). Foto: Mathematisch-Physikalischer Salon, Jürgen Karpinski.

38 Kunsthandel mit technischen Instrumenten Grundstock der historischen Sammlung des Adler-Planetariums in Chicago. Über Mensing gelangten auch Fotografien der Sammlungen des MPS nach Chicago, die dort den Aufbau der Sammlung nachhaltig prägten. Mensing verkaufte aber nicht jedemKäufer das erhoffte Original, sondern lieferte wiederholt Kopien ab, weil er sich von den Originalen nicht trennen wollte. Der Handel mit Uhren ist immer wieder mit der Frage nach Original und Fälschung verbunden. Das Thema »Fälschung« kann in diesemZusammenhang an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Ein anderes Thema ist die Frage nach dem Ankauf widerrechtlich enteigneter Objekte. Für die bis 1945 erworbenen Exponate konnte die Provenienzforschung im MPS keines ausfindig machen. Bei den Angeboten gibt es allerdings einen Fall, bei dem davon ausgegangen werden darf. Auf Vermittlung von Paul Pleissner wurde die Uhrensammlung des jüdischen Arztes Dr. Rosenthal zum Verkauf angeboten. Alfred Beck (1896–1976, 1928 bis 1946 Restaurator am MPS, von 1942 bis 1945 mit dessen Leitung betraut) begutachtete 1938 die Uhrensammlung für das Landesfinanzamt, nachdem sie dem Eigentümer auf Grundlage der sogenannten »Reichsfluchtsteuer« von den Nationalsozialisten entzogen worden war. 1939 kontaktierte Beck die Gestapo, um die Sammlung für den MPS zu übernehmen. Eine Aneignung kam nicht zustande. Um in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerrechtlich enteigneten Kunstbesitz in den Museumsbeständen zu ermitteln, scheint es unerlässlich, auch die Zugänge in den Jahren nach demZweiten Weltkrieg daraufhin zu überprüfen. Hier gibt es Zugänge, die keine klare Provenienz haben. Das trifft auch auf Uhren zu, die in den 1950er Jahren aus demBesitz der Witwe von Paul Pleissner erworben wurden. ImRahmen der digitalen Erfassung des Sammlungsbestandes des MPS in den Jahren von 2007 bis 2009 wurden die Provenienzen überprüft. 4 Ernst Bassermann-Jordans Abhandlung zur Geschichte der Räderuhr, Frankfurt 1905, Titelseite.

39 NS-Raubgut und Verdachtsfälle auf Raubgut bei Erwerbungen aus dem (Kunst-)Handel im Technischen MuseumWien CHR I S T I AN K LÖSCH | TECHN I S CHE S MUS EUM W I EN , W I EN Das Technische MuseumWien und seine Bestände Das Technische Museum Wien (TMW) wurde anlässlich des 60. Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs im Jahr 1908 auf Initiative von Industrie und Gewerbe gegründet und im Mai 1918 als privates Vereinsmuseum eröffnet. Das neu gegründete Museum musste seine Sammlung aber nicht von Grund auf neu schaffen, da es auf die Bestände einer Reihe von so unterschiedlichen Institutionen und Kollektionen wie dem »Museum der österreichischen Arbeit«, dem »k. k. National-Fabriksproduktenkabinett« oder der »Modellsammlung der Wiener Jesuitenuniversität« aufbauen konnte. Besonders wertvolle historische Objekte entstammen der »Kunst- undWunderkammer« der Habsburger und dem »Physikalischen Kabinett« der Hofburg. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzten Bestrebungen ein, das private Museum in staatliche Hände zu überführen. Mit der Verstaatlichung 1922 konnte das Technische Museum einen erheblichen Teil dieser staatlichen Leihgaben regulär in seinen Bestand übernehmen. Im Neubau an der Wiener Mariahilferstrasse waren neben dem zunächst privaten Technischen Museumnoch zwei staatliche Museen untergebracht: Dem »k. k. Postmuseum«, das bereits 1913 einzog, folgte ab 1918 auch das »Historische Museum der k. k. Staatsbahnen«. Erst 1980 wurden diese beiden Institutionen in das TMW eingegliedert. Seit 1999 ist auch die 1960 gegründete »Österreichische Mediathek«, als audiovisuelles Archiv der Republik, dem TMW zugeteilt. Die vielfältige Institutionengeschichte des Museums hat ihre Spuren in einer breiten Palette an Objekten und Sammlungsgebieten hinterlassen. Zeitlich spannt sich der Bogen von der Prähistorie bis zu Gegenwart; materiell umfasst die Sammlung neben Objekten im engeren Sinn auch Bücher, Archivalien, Gemälde, Fotografien und audiovisuelle Medien. Das Haus ist somit eine Art Universalmuseum, dessen Sammlungen – einen sehr breit gefassten Technikbegriff voraussetzend – eine große Bandbreitemenschlicher Erzeugnisse und Kreativität umfassen.1 Seit 2002 ist eine Generalinventur imGange, die voraussichtlich erst 2025 abgeschlossen wird; dann werden wohl an die 250 000 Inventarnummern vergeben sein, mit insgesamt mehreren Hunderttausenden Objekten. 1 Zur Geschichte des Museums und der Sammlungen: Lackner, Helmut / Jesswein, Katharina/Zuna-Kratky, Gabriele (Hrsg.): »Den Vorfahren zur Ehre, der Jugend zur Lehre«. 100 Jahre Technisches MuseumWien, Wien 2009, S. 22–47; ebenso Burger, Hannelore: Maschinenzeit Zeitmaschine. Technisches MuseumWien 1918–1988, Wien 1991.

Aufzeichnungen unrechtmäßigen Entzugs in der NS-Zeit

100 Optisch-technische Instrumente auf Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg Der Fall des Fotofachgeschäftsinhabers Leo Bernstein aus Berlin K ATHR I N K LE I B L | DEUT S CHE S S CH I F F FAHR T SMUS EUM , BREMERHAV EN Einführung Die aufgrund der NS-Ideologie verfolgten Jüdinnen und Juden emigrierten ab 1933 vermehrt aus demDeutschen Reich. Das zu transportierende Hab und Gut – in Liftvans und Kisten verstaut – wurde dabei über unterschiedliche europäische Häfen ins Exil verschifft; häufig auch via Hamburg und Bremen.1 Zuvor musste die Auswanderung bei den NS-Behörden beantragt werden.2 Für dieses aufwendige und kostspielige Prozedere waren unter anderem detaillierte Umzugsgutlisten einzureichen, in denen auch der Wert und der Anschaffungszeitpunkt der auszuführenden Gegenstände anzugeben waren. Daraufhin folgten Kontrollen der Listen durch die Devisenstellen bzw. von dort beauftragte Zollbeamte, gegebenenfalls ein Mitnahmeverbot bestimmter Objekte mit entsprechender Anweisung für den Zwangsverkauf und schlussendlich die Taxierungen des verbliebenen Übersiedlungsgutes für die Berechnung der Abgabe an die Deutsche Golddiskontbank (Dego).3 Entsprachen die Umzugsgutliste und alle weiteren Auflagen den behördlichen Anforderungen, erteilte sie die Freigabe zur Ausfuhr. Das Verpacken des Hausrates erfolgte wiederumunter Augen von Zollbeamten, die die einzelnen Frachtstücke (z. B. Liftvan, Kiste (Kolli), Verschlag, Koffer oder dergleichen) abschließend 1 Kleibl, Kathrin/Kiel, Susanne: Der Umgang mit Übersiedlungsgut jüdischer Emigrant*innen in Hamburg und Bremen nach 1939: Beteiligte, Netzwerke und »Verwertung« – Ein Zwischenstand, in: Arbeitskreis Provenienzforschung e. V. (Hrsg.): Entzug, Transfer, Transit. Menschen, Objekte, Orte und Ereignisse, erscheint 2022 bei Heidelberg University Press. 2 Kleibl, Kathrin: Auswanderungsgenehmigungsverfahren der Devisenstelle-Oberfinanzpräsident Hamburg als Quelle für die Recherche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern, in: Der Archivar, Heft1/2022, S. 37–40. 3 Die Höhe der sogenannten Dego-Abgabe bezog sich auf die ins Ausland zu transferierenden Werte. Im Juni 1938 betrug diese 90 Prozent, im September 1939 96 Prozent des Wertes. Für Gegenstände, die nach 1933 erworben wurden, wurde eine Abgabe in Höhe des Anschaffungswertes festgesetzt.

101 Optisch-technische Instrumente auf Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg | Kathrin Kleibl versiegelten. Das Verladen und die Verschickung des Übersiedlungsgutes übernahm eine Speditionsfirma am Heimatort im Auftrag der Emigrant*innen, die wiederum mit überregional tätigen Speditionen und Seespediteuren kooperierte. Sie organisierten die für den Transport günstigste Verbindung. Im Falle einer reibungslosen Versendung wäre das Transportgut in einer Hafenstadt über den dortigen Freihafen auf ein Schiff verladen worden, um schließlich via See zum Zielhafen transportiert und weiter zum endgültigen Zielort verschickt zu werden. Die Beförderung des Übersiedlungsgutes erfolgte meist auf anderen Schiffen und Routen als die Flucht der Emigrant*innen selbst. Der Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhinderte das Auslaufen ziviler deutscher Schiffe. Daraus resultierend konnten die bereits in die Hafenstädte transportierten Ladungen nicht mehr verschifft werden. Die Umzugsgüter jüdischer Auswanderer und Auswanderinnen stauten sich somit in den Lagerstätten des Hamburger Hafens und der dortigen Speditionen. Hinzu kam, dass zuvor ausgelaufene Schiffe nach Kriegsausbruch in den nächsten Hafen zurückbeordert wurden; deren Fracht – u. a. Übersiedlungsgut – befand sich nach dem Löschen nun zusätzlich in den Hafenlagern und oft auch aus Platzmangel aufgereiht amKai, womit sie unmittelbar den Witterungsverhältnissen ausgesetzt waren. In Hamburg wuchs das sich aufgestaute Umzugsgut jüdischer Emigrant*innen auf etwa 5 000 bis 7 000 Liftvans und Kisten an, was ungefähr 3 000 bis 4 000 Eigentümer*innen/ Familien entspricht. Das Deutsche Reich wusste durch die Auswanderungsgenehmigungsverfahren und die Dego-Abgabe um die Werte in den Übersiedlungsgütern der jüdischen Emigrant*innen. Es sann nach rechtlich abgesicherten Wegen, diese »verwerten« zu können. Die drohende Feuergefahr bei Bombenangriffen wurde zunächst als Argument dafür genutzt, die Kisten aus demHamburger Hafen zu entfernen. Die Gestapo beschlagnahmte ab Frühjahr 1940 die Umzugsgüter und beauftragte Gerichtsvollzieher4 und Auktionshäuser, die Gegenstände meistbietend zu versteigern. Legitimiert wurde die Beschlagnahme durch die bestehende Regelung, dass Personen, die das Deutsche Reich nach 1933 dauerhaft verließen, als ausgebürgert galten. Die sich noch auf deutschem Boden befindlichen Besitztümer der Entrechteten gingen automatisch in den Besitz des Reiches über – somit auch die in Hamburg gestrandeten Übersiedlungsgüter. Diese Form der Beschlagnahme bedurfte jedoch für jeden einzelnen Fall eines Ausbürgerungsverfahrens und war entsprechend aufwendig. Bis November 1941 waren die Behörden bestrebt, die Übersiedlungsgüter in den Häfen und Speditionslagern zu erfassen;5 sie diskutierten über deren effektivste Verwertungsmethode und versteigerten bereits gleichzeitig im großen Umfang das Hab und Gut der jüdischen Emigrant*innen.6 Die am 5. November 4 Gerichtsvollzieherei, Lager- und Versteigerungshaus, Drehbahn 36. 5 Ein Schreiben des Reichsfinanzministers an die Oberfinanzpräsidenten vom 8. 7. 1941 wies die Hauptzollämter an, das bei den Speditionen eingelagerte und unter Zollverschluss zurückgehaltene »Umzugsgut den Stapo(leit)stellen zum Zwecke der Versteigerung freizugeben«. 6 Der Gauleiter und Reichstatthalter Hamburgs Karl Kaufmann beauftragte ab März 1941 die Gestapo, das »Umzugsgut deutscher Juden« öffentlich versteigern zu lassen. In einem späteren Schreiben vom 4. 9. 1942 erklärte Kaufmann dem Reichsmarschall Hermann Göring: »Im Freihafen lagerte eine große Menge jüdisches Umzugsgut, das zu einer großen Gefahr zu werden drohte, wenn diese große Menge beim Luftangriff etwa in Brand geriete. Es ist deshalb auf meinen Vorschlag hin von seiten der Gestapo das Umzugsgut beschlagnahmt worden, damit es zur Verwertung von Bombengeschädigten versteigert werden konnte.«– National Archives Washington, Miscellaneous German Records Collection, Microscopy No. T84 Roll, No. 7.

102 Aufzeichnungen unrechtmäßigen Entzugs in der NS-Zeit 1941 verabschiedete 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz regelte schließlich einen gesetzlich vereinfachteren Umgang mit dem verbliebenen Umzugsgut. Laut dieser Verordnung verloren alle aus dem deutschen Reichsgebiet emigrierten Juden ihre deutsche Staatsangehörigkeit und ihr gesamtes Vermögen, das komplett an das Deutsche Reich fiel. Diese Bestimmung vereinfachte – aus Sicht der Behörden – das bisherige Ausbürgerungsverfahren, da nun keine Einzelverfahren mehr nötig waren. Informationen über die Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen erhielten potenzielle Käufer*innen aus der Tageszeitung über aufklärende Artikel und über extra, zu jeder anstehenden Auktion geschaltete Anzeigen. In Hamburg wurde üblicherweise das zu einem Haushalt gehörige Umzugsgut bei einer Auktion versteigert – dies kann einen Liftvan, mehrere Kisten oder auch neun Liftvans umfasst haben. In Sonderfällen – wie z. B. die durch das Auktionshaus Carl F. Schlüter 7 organisierten Kunstauktionen – wurden Gemälde und Bilder aus den Übersiedlungsgütern separiert und gesondert angeboten.8 Man erhoffte sich womöglich höhere Erlöse, wenn nur eine bestimmte Klientel anwesend sei. Für alle Versteigerungen galt jedoch, dass ab dem Zeitpunkt des Verkaufs die ehemals zu einemHaushalt 7 Das Auktionshaus Carl F. Schlüter in Hamburg versteigerte nach bisherigen Erkenntnissen das Übersiedlungsgut von über 400 Emigrant*innen. Es versteigerte ebenso den Hausrat von über 650 deportierten Hamburger Jüdinnen und Juden, siehe hierzu: Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg (im Folgenden: StAHH) 314-15_47 UA 19. 8 Kunstversteigerung bei Carl F. Schlüter am 24. 9. 1941, in der sich nach bisherigem Kenntnisstand ausschließlich Kunstwerke aus beschlagnahmten Übersiedlungsgut befanden; siehe hierzu den aufgezeichneten Vortrag von Kathrin Kleibl am 7. 10. 2020 anlässlich des Internationalen Symposions »Der Umgang mit Umzugsgut jüdischer Emigranten in europäischen Häfen«, Haus der Wissenschaft Bremen (Onlinezugang: www.youtube.com/watch?v=p2pKh4WHTec [YouTube Kanal des Deutschen Schifffahrtsmuseums], letzter Abruf 25. 3. 2022).

103 Optisch-technische Instrumente auf Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg | Kathrin Kleibl gehörigen Gegenstände unwiderruflich auseinandergerissen waren; erworben von NS-staatlichen Institutionen, Museen, Händlern und Privatpersonen waren sie somit in unterschiedliche (geografische, soziale, kulturelle, öffentliche, private) Räume und Kontexte umverteilt. Die Erlöse der Versteigerungen flossen – nach Abzug ausnahmslos aller durch die Lagerung, den Transport und die Versteigerung des Umzugsguts entstandenen Kosten – zunächst auf ein Konto der Hamburger Gestapo bei der Deutschen Bank, umdann (teils Monate bis Jahre später) an die für die jeweiligen Heimatorte der Emigrant*innen zuständigen Oberfinanzdirektionen oder deren Finanzämter weiter transferiert zu werden.9 Versteigerte optisch-technische Instrumente in Hamburg In den bisher recherchierten Einzelfällen im Rahmen des »LIFTProv«-Forschungsprojektes zu beschlagnahmten und versteigerten Übersiedlungsgüter jüdischer Emigrant*innen in Hamburg nach 1939 fanden sich vielfach optisch-technische Geräte wie Fotoapparate, Fern- und Operngläser sowie Mikroskope. Ferner sind auchmedizinischoptische Instrumente angeboten worden, die zu ärztlichen Praxisausstattungen oder Laboratorien gehörten. Exemplarisch für die um die 3 000 bis 4 000 in Hamburg stattgefundenen Versteigerungen wird im Folgenden die Verauktionierung des Hab und Gutes von Leo Bernstein aus Berlin stehen. An diesem Fall sind die ausbeuterischen Mechanismen der 9 Eine Ausnahme bildeten Versteigerungen von konnossementverbrieften Übersiedlungsgütern, deren Erlöse von gerichtlich bestellten Treuhändern auf extra eingerichtete Pflegschaftskonten hinterlegt wurden. 1 Ausschnitt aus Lagerbuch D der Gerichtsvollzieherei Hamburg, in: StAHH 214-1_100.

105 Optisch-technische Instrumente auf Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg | Kathrin Kleibl  2 Versteigerungsauftrag, in: StAHH 214-1_151 Bernstein, Leo. Beraubung der jüdischen Emigrant*innen durch das NS-Regime und zahlreicher Beteiligter (u. a. Speditionen, Handwerker, Zeitungen, Taxatoren, Käufer) besonders erdrückend sichtbar. Ferner kann aufgezeigt werden, dass spezialisierte Händler – in diesem Fall Fotohändler und Fotografen – unmittelbar von den Versteigerungen profitiert haben; sie waren nicht nur Schätzer des Umzugsguts, sondern gleichzeitig auch Käufer. Versteigerung des Übersiedlungsgutes Leo Bernsteins, Berlin Im Januar 1991 entdeckte man im sogenannten Lager- und Versteigerungshaus des Amtsgerichts Hamburg Dokumente zu Vorgängen des Gerichtsvollzieheramts sowie Versteigerungsunterlagen aus den Jahren 1941 bis 1945. Das Konvolut befindet sich heute im Staatsarchiv Hamburg unter dem Bestand »214-1 Gerichtsvollzieherwesen«. Die Akten beziehen sich u. a. auf das beschlagnahmte Übersiedlungsgut jüdischer Emigrant*innen. Wichtige Quellen sind dabei die Lagerbücher (A und B fehlen, C und D erhalten) samt Indexen und zahlreichen Einzelfallakten, in denen Versteigerungen in allen Einzelheiten dokumentiert sind. Im Index des Lagerbuchs D aus dem Jahr 1941 ist unter demBuchstaben B unter Registernummer 7 der Name »Bernstein, Leo Israel, Berlin« eingetragen.10 Aus dem Lagerbuch D ergeben sich dann unter der laufenden Nummer 7 weitere Details (Abb. 1):11 eingestempelt ist das Datum des Eingangs mit dem »7. Mai 1941«. Unter der »Bezeichnung der Angelegenheit und des Auftrags« ist handschriftlich notiert: » Tgb. [Tagebuchnummer] II B 2 – 1809/41 12 VA. S 341 Leo Israel Bernstein Bln. [Berlin], Potsdamerstr. 35 « In der nächsten Spalte ist verzeichnet, dass am »7. 5. 41 eingel[iefert]« und »am 12. 5. 41 versteig[ert]« wurde. Als »Brutto Erlös« sind »[R]M 4 950,10 + 800« vermerkt. Ausführender Gerichtsvollzieher war in diesem Fall Heinrich Johannes Amandus Bobsien.13 Die folgenden drei Spalten fanden eine andere Verwendung, als ursprünglich durch das gedruckte Buch vorgesehen (Abb. 1); dort steht notiert: 10 StAHH 214-1_101 Index Lagerbuch D. 11 StAHH 214-1_100 Lagerbuch D. 12 Die Tagebuchnummer lässt sich wie folgt entschlüsseln: II B 2 bezeichnet das Judenreferat der Hamburger Gestapo. 1809 ist die laufende Nummer des Vorgangs. 41 bezeichnet das Jahr, hier 1941, in dem der Vorgang angelegt wurde. 13 StAHH 241-2_B 203 (Personalakte Bobsien, Heinrich Johannes Amandus, 1915–1968). StAHH 314-15_31 UA 1 Gerichtsvollzieher Bobsien, 1942 (Unterakte zu: Abrechnungen von Gerichtsvollziehern über Erlöse aus Versteigerungen von Hausrat deportierter Juden und von Umzugsgut jüdischer Emigranten, 1941–1948); siehe auch: Martin, Bernd: Die Versteigerungen des Eigentums deportierter Hamburger Juden durch die Gerichtsvollzieherei Hamburg zwischen 1941 und 1945, Magisterarbeit Universität Hamburg 2000, S. 80ff.

Im vorliegenden Band präsentieren Provenienzforscher*innen und aus namhaften Museen in Deutschland und Österreich in acht Fachbeiträgenmethodische Vorgehensweisen und gewonnene Erkenntnisse aus aktuellen Forschungsprojekten. Darin wird deutlich, dass der systematische Raub von Kunst- und Kulturgütern imNationalsozialismus sich nicht nur auf hochwertige Kunstgegenstände beschränken lässt. Ebenso wurden technische Alltags- und Gebrauchsgegenstände ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen entzogen. Neben der Untersuchung von Erwerbungsstrategien und Ankaufspolitiken stehen dabei spezifische Herangehensweisen zur Objektidentifizierung und Erwerbungsrekonstruktion besonders im Fokus. Dieser Band ist damit zugleich eine erste Hilfestellung für alle, die sichmit der Geschichte technischer Kulturgüter imNationalsozialismus befassen. 9 783954 987245 S A N D S T E I N

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