Leseprobe

Einführung 11 q suisse« zu beliebten »follies« in den Landschaftsparks der Jahrzehnte um 1800 geworden.20 Diesem Interesse fügte die dynamische Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert einen neuen Akzent hinzu: den des Verlusts. Alois Riegl sah in seinem Buch über den »Hausfleiß« (1894) die familiale, im Verschwinden begriffene Wirtschaftsweise als Grundlage für die zum Sammel- und Ausstellungsobjekt werdende »Volkskunst«.21 Dasselbe galt für die traditionelle ländliche Architektur, die auf die neuen Produktionsweisen reagierte. Wie ambivalent die Anstrengungen und Strategien dominanter Kulturen gerade in der Hochphase der Welt- und Landesausstellungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren, sich durch dieses Medium die Kultur aus Peripherien anzueignen, hat insbesondere die postkolonial orientierte Forschung der jüngeren Zeit untersucht.22 Vernakuläre Architektur, die den Beispielen im vorliegenden Buch zugrunde liegt, fand im Zusammenhang mit dem exzessiven Ausstellungsbetrieb der Jahrzehnte um 1900 vor allemdeshalb ein vitales Interesse, weil neu auf den Plan tretende Akteure hier dieMöglichkeit sahen, auf bis dahin nicht kanonisierte Bauten hinzuweisen. Was aber heißt »vernakulär«? Etymologisch verweist die Bezeichnung auf verna, die im Haushalt ihres Herrn geborenen Kinder von Sklaven. »To vernaculize used to be a verb for adapting to or making someone adapt to the specifity of a region, to make the person feel at home [Hervorhebung wie im Original, Anm. d. Verf.].«23 Die Architekturforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten diese Bindung an den Ort auf solche Bauten bezogen, die in irgendeiner Weise nicht zum universell angelegten Kanon der Kunstwissenschaft gehörten: einfache, nicht über die klassischen Ordnungen verfügende Bauten sowie regionale Architektur.24 Im Gründungsakt der Architektur- und Kunstgeschichte waren solche Bauten ausgeschlossen worden: »[. . .] dass sich [. . .] speziell auch die Architektur, im Kielwasser von Kunstwissenschaft und Ästhetik in einem ungeheuren Akt der Verdrängung, also gegen einen Großteil der Kulturproduktion konstituiert hat (und zwar basierend auf einem Prozess der Wiederaneignung jener historischen, bis in die Antike zurückreichenden europäischen Hochkulturen [. . .] [Hervorhebung wie im Original, Anm. d. Verf.]«.25 Die Disziplin der Kunstgeschichte war also selbst an der Produktion einer als »vernakulär« verstandenen Architektur beteiligt. Deren Erforschung markiert den heutigen Versuchmehrerer kulturwissenschaftlicher Disziplinen, auf dem Hintergrund dieses Wissens nichtkanonisierte Bauten in die Analyse aufzunehmen. Die Kategorisierung »vernakulär« eignet sich für die hier vorgestellten Architekturdörfer, weil genau an diesen Beispielen ein solcher Vorgang historisch greifbar wird. Die fünf Exempla des Buches zeigen, dass die hier präsentierten Bauten aus einem Impuls des Gegensteuerns heraus inszeniert wurden. Zu verstehen ist dies als eine Reaktion, die sowohl gegen die damals aktuelle Architekturproduktion als auch gegen die junge Kunstgeschichtsschreibung gerichtet war.26 DieMotivation, die neben das tradierteMoment der Romantik oder die aus modernen Lebensweisen geborene Folklore trat, war die einer Sachforschung: Sie versuchte, solche Objekte in den Kanon einzugliedern. Die Dynamik der Ausstellungen schien den neuen Akteuren genau das richtige Medium, einen derartigen Kanonisierungsprozess zu initiieren. 3 Architektur aus dem sozialen Gebrauch heraus: der Paradigmenwechsel im späten 19. Jahrhundert Um sich diesem Prozess zu stellen, hilft folgende Frage weiter: Wie konnte es dazu kommen, dass Architektur als eine ortsfeste, immobile Gattung zum beweglichen Ausstellungsobjekt wurde? Die Gründe hierfür finden sich nicht nur in der Dynamik vonWelt- und Landesausstellungen, sondern auch in einer grundlegend neuen Auffassung über die Herkunft von Kunst, die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildete. Dieses neue Verständnis von künstlerischer Produktion hatte seinen Ausgangspunkt in der bereits zuvor gestellten Frage: Wann und wo begann, menschheitsgeschichtlich gesehen, die Kunst? Die Antwort lag für die frühe Kunstgeschichte in einer angenommenen basalen Zäsur, wonach ein als kindlich bezeichneter Schmucktrieb zugunsten der zunehmenden Suche des Menschen nach Transzendenz verschwunden sei. Franz Kugler, einer der ersten Kunsthistoriografen des 19. Jahrhunderts, identifizierte die Entstehung von Kunst mit demBeginn von Kultbauten. Er setzte im »Handbuch der Kunstgeschichte« (1842) die Hinwendung zu einer Gottheit als den zivilisationsgeschichtlichen Zeitpunkt an, an welchemsichKunst herausbildet: »Dann kommt die Stunde, dass dem Menschen die geistigen Mächte des Lebens kund werden. Die Gottheit offenbart sich ihm, [. . .]. Das Ausserordentliche ist in das Leben des Menschen getreten: – er bereitet demGedächtnisse desselben, damit es bleibe, an der Stätte seiner Erscheinung ein festes Mal,

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