Leseprobe

q 10 Cornelia Jöchner Die bei der Pariser Ausstellung entlang des SeineUfers gezeigten Haustypen zielten mit ihren 44 Gebäuden aus verschiedenen Epochen und Ländern darauf ab, die kulturelle Entwicklung der Menschheit vorzuführen.15 Gleichsam auf einem Spaziergang sollte so die Entwicklung der Zivilisation abgeschritten werden können, die linear ansteigend die aktuelle Weltausstellung unter demEiffelturmals »point d’arrivée« inszenierte. Ein Kenner des Kunstgewerbes wie Jacob von Falke kritisierte jedoch, dass dabei »die Façade zur Hauptsache geworden« sei, »wir wollten aber wissen und sollten lernen, wie die Menschen gewohnt und sich in der Wohnung eingerichtet haben, und dazu verhilft uns die Façade nicht«.16 Dass, wie der Kulturhistoriker Martin Wörner herausstellt, bei der Weltausstellung 1893 in Chicago erstmals der an der Harvard University lehrende bedeutende Archäologe und Ethnologe Frederick W. Putnam das »Department of Archeology and Ethnology« leitete und dort während der Ausstellung mehrere anthropologische Kongresse abhielt, zeigt den Wandel im Anspruch solcher Präsentationen. Binnen kurzem galten, wie die oben zitierte Kritik von Jacob von Falke deutlich macht, schematische Darstellungen als nicht mehr zufriedenstellend. Ein stärker wissenschaftliches und historisches Interesse stand hinter den Fragen an das Wohnen, welche die Landesausstellungen sowie die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend entstehenden kunstgewerblichen oder ethnologischen Museen zu befriedigen suchten. Bei solchen Präsentationen spielte das Wohnen auf dem Land eine besondere Rolle, besser gesagt das »Bauernhaus«, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins Interesse der europäischenArchitekturhistoriografie rückte.17 Letzteres repräsentierte nicht das gesamte Leben auf demLand, dafür fehltenwesentliche Bevölkerungsgruppen: Tagelöhner, Handwerker, Teile der Administration oder gemischte Gruppen, deren Tätigkeiten etwas von alledem aufwiesen. Diese Reduktion auf das »Bauernhaus« deutet bereits darauf hin, wie sehr hier eine Bauaufgabe, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Aufmerksamkeit erlangte, ideologisch konnotiert war: Nicht nur die Stadtkritik spielte dabei eine Rolle,18 sondern auch für das nation building bot sich das »Bauernhaus« als Projektionsobjekt an.19 Hatte es einfache Wohnbauten in herrschaftlichen Gärten des späteren 18. Jahrhunderts gegeben – etwa das »Dörfle« im Schlosspark von Hohenheim –, so waren mehr oder weniger freie Nachbildungen desWestschweizer »Chalet gezeigt, und von späteren Altstadt-Konglomeraten wie »Oud Antwerpen« (1894) oder »Vieux Paris« (1900), die kanonische Bauten der jeweils ausstellenden Städte zeigten. Das Verbindende der im vorliegenden Buch vorgestellten fünf Ensembles war, dass sie mehrheitlich unbekannte Bauten exponierten, deren Auswahl auf einer empirischen Recherche beruhte, die teilweise wissenschaftliche Züge hatte. Bei diesemgezieltenHerausstellen von Architekturformen ging es darum, dass diese nicht als austauschbar galten, sondern als das jeweils »Eigene« betrachtet werden konnten. Das Insistieren auf »dem Eigenen« erzeugte jedoch ein gewisses Paradox. Denn zugleich waren die fünf Ensembles in die übergreifenden Dispositive des Ausstellens eingebunden, die während der starken Konjunktur von Landes- und Weltausstellungen sowie von Museumsgründungen entstanden und zu einer Art symbolischer Währung der untereinander konkurrierenden Nationen geworden waren. Die imBuch vertretenen fünf Ensembles versuchten hier nicht nur jeweils eigene Präsentationsstrategien zu entwickeln, sondern arbeiteten sich auch erkennbar an bereits stattgefundenen Beispielen von Ausstellungen ab. Im Geflecht der Nationen waren sie ausgeprägte »contact zones« des in jener Zeit übergreifend stattfindenden Diskurses des Eigenen.13 Die fünf Exempla, so die These der Verfasser, zeigen damit einen komplexen Anspruch, dem sämtliche nachfolgenden Fragestellungen gelten. 2 Vernakuläre Architektur wird ausstellungsfähig Wichtig für das Thema der Musealen Architekturdörfer sind signifikante Veränderungen imAusstellungswesen seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, welche die hier vorzustellenden Beispiele in besonderer Weise prägten: erstens die Präsentation des Wohnhauses als eines kulturellen Zeugnisses sowie als Spezifikation davon, zweitens das Bauernhaus. Aus diesen beiden, in Wien 1873 erstmals gezeigten Gebäudegruppen erwuchs für die französische Weltausstellung 1889 in Paris die von dem Architekten Charles Garnier entwickelte Präsentation einer »Habitation humaine«. Sie sollte, wie Jacob von Falke, Direktor des Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, schreibt, »den Fortschritt der Cultur auf einem ihrer wichtigsten und lehrreichsten Gebiete«, der menschlichen Wohnung, zeigen.14

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