»Dort umherzuwandern, in diesem großen Glaspalast, so riesig, dass die darin eingeschlossenen Ulmen wie Weihnachtsbäume aussahen, war eine Wanderung durch einWunderland der Schönheit und der menschlichen Erfindungskunst.«1 Die zahlreichen Welt- und Landesausstellungen, die in der Folge der »Great Exhibition« in London 1851 entstanden, markierten den Beginn einer neuen Epoche. James Gordon Farrell spricht in seinem Roman »Die Belagerung von Krishnapur« diese Zäsur als persönliches Erlebnis an: das Zeitalter eines intensivierten Sammelns, Katalogisierens und Ausstellens. Dies sind Tätigkeiten, die der heutigen Geschichtswissenschaft fast als Manie erscheinen, da sie das Ziel verfolgten, »die großen Unterschiede auf der Welt unter Kontrolle zu bekommen, zu ordnen und begreifbar zumachen«.2 Derartige Praktiken des Ordnens und Präsentierens von Umwelt beschränkten sich nicht auf Welt- oder Landesausstellungen. Sie umfassten auch die Umgestaltung bestehender und die Gründung zahlreicher neuer öffentlicher Museen. Ihr Medium, die Ausstellungen, gelten so als »Knotenpunkte« einer Welt, die sich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an immer stärker verflocht und durch das Zeigen von Exponaten überschaubar werden sollte.3 Eine diesbezügliche These der aktuellen globalgeschichtlichen Forschung lautet: Je stärker sich die damaligen Ausstellungen als Knotenpunkte mit umfassenderen globalen Netzwerken verknüpften, desto mehr verloren sie an Kraft, »ihre Bedeutungen zu lenken«.4 Was das hieß, macht die komplementäre Seite dieses forcierten »Zeigens« deutlich: das Schauen des Publikums. Seit der Entdeckung der Weltausstellungen durch die Geistes- und Kulturwissenschaften haben sich mit der Seite des Wahrnehmens und Zeigens insbesondere die Ethnologie und Kunstgeschichte befasst.5 Hierbei geriet nicht nur die teilweise aufsehenerregende Architektur der Ausstellungen in den Blick.6 Die Forschung beschäftigte sich auchmit dem Inneren der Ausstellungen, der enorm angewachsenen DingWelt und deren visueller Erfahrung, die einen immensen Einfluss auf die gesamte kulturelle Produktion in der zweiten Hälfte des 19. sowie des frühen 20. Jahrhunderts hatte.7 Diese immer wieder geschilderte Erfahrung des Sehens und Verarbeitens von Seherfahrungen gibt das Eingangszitat des fiktiven jungen Reverend Hampton wieder, der in Farrells Roman einem britischen Kolonialoffizier in Indien schildert, wie er die sechs Jahre zuvor stattgefundene erste Weltausstellung in London wahrgenommen hatte. 1 Museale Architekturdörfer Das vorliegende Buch nimmt sich dieser besonderen »Welt als Schaustellung« anhand eines hochspezialisierten, jedoch häufig anzutreffenden Ausstellungsobjekts an.8 Es geht um die Konstruktion von Architekturgeschichte anhand vollständiger, nachgebauter oder translozierter Gebäude, die in der synthetischen Form eines scheinbar dörflichen, kleinstädtischen oder ruralen Zusammenhangs präsentiert wurden. Solche besonders sorgfältig errichteten »historischen« Ensembles waren in die Präsentationen insbesondere junger Nationen eingebunden und stellten gerne Architekturen aus entlegenen Gegenden des jeweiligen Landes dar. Zugleich aber waren sie Teil jenes größeren Ausstellungsgeschehens, das zur Konjunktur der Welt- und Landesausstellungen beitrug und der aktuellen Produktion von Industriegütern gewidmet war. Auf dieseWeise bildeten die hier ausgewählten historischen Ensembles der Architekturdörfer einerseits »contact zones« zu der jeweils aktuellen Präsentationsebene eines Landes.9 Andererseits waren sie Schnittstellen zu den anderen, untereinander immer stärker verflochtenen Nationen der Ausstellung sowie drittens – und für die angeführten Beispiele besonders wichtig – zu unterschiedlichen Regionen der jeweils präsentierenden Nation, deren Einigung oft noch nicht sehr lange zurück lag oder noch gar nicht vollzogen war. Derartige architektonische Ensembles waren lange Zeit vor allem Gegenstände der Disziplinen Geschichtswissenschaft und Ethnologie, die auf diesem Gebiet Grundlagenarbeit geleistet haben.10 Erst seit gut zwei Jahrzehnten geraten auch die Architekturen selbst stärker in den Blick,11 die ein neuartiges kunst- und architekturhistorisches Interesse markieren und den Fokus der hier vorliegenden Forschung ausmachen. Die Verantwortlichen dieses Bandes haben sich für ein komparatives Vorgehen entschieden, das fünf, großenteils heute noch bestehende Ensembles miteinander vergleicht, um auf diese Weise deren Tiefenstrukturen zu erfassen: der »Borgo Medievale« in Turin (1884), das »Ethnografische Dorf« und die »Historische Hauptgruppe« in Budapest (1896), das Freilichtmuseum Seurasaari in Helsinki (1909) und das »Poble Espanyol« in Barcelona (1929).12 Diese hier vorgestellten fünf Musealen Architekturdörfer unterschieden sich in ihremKonzept sowohl von den auf die Darstellung nationaler Monumente ausgerichteten Präsentationen der »Rue des nations« (»Exposition universelle de 1878«, Paris) als auch von den sogenannten ethnografischen Dörfern, ebenfalls dort erstmals
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