q 80 Gáspár Salamon 1.3 Die Nation zur Schau gestellt Anlass für die Errichtung von Architekturdörfern und somit für die Neudimensionierung der musealen Präsentation des architektonischen Erbes in Ungarn war die im Jahr 1896 in Budapest veranstaltete Millenniumsausstellung (Abb. 5).25 Mit der monumentalen Landesausstellung feierte Ungarn das tausendjährige Jubiläum der sogenannten Landnahme, des Einzugs der nomadisierenden ungarischen Stämme in das Pannonische Becken. Die Bezugnahme auf die uralten Wurzeln der Ungarn, die durch Árpád, den Häuptling der Reiterstämme, verkörpert wurden, zog eine Bilanz der tausend Jahre umfassenden ungarischen Vergangenheit imKarpatenbecken nach sich, wobei in diesemZusammenhang – als Pendant zur tribalistischen und heidnischen Urgeschichte – der Staatsgründung und der Christianisierung des Landes um 1000 durch den Heiligen Stephan ein besonderes Augenmerk galt.26 Neben demhistorischen Rückblick wurden als logische Folge aus der geschichtlichen Entwicklung des Landes die damals aktuellen nationalen Leistungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Industrie gewürdigt, deren Expositionsmodus sich nicht nach den Leitbildern der Universalausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte. So dominierten neben Gebäudekomplexen, etwa der Historischen Hauptgruppe, und den in ihnen präsentierten Exponaten, die retrospektiv prägende Momente der ungarischen Historie und Kultur darstellen sollten, staatliche, industrielle und kommerzielle Pavillons das Gelände, die den Entwicklungsstand Ungarns in diesen Gebieten veranschaulichen sollten. Mit dem Präsentieren der Kulturgegenstände aus der tausendjährigen Geschichte und den Errungenschaften des gegenwärtigen Ungarn verfolgte man das in vielen Begleittexten formulierte Ziel, den ungarischen nationalen Geist und dessen Persistenz durch die Weltgeschichte hindurch zu proklamieren. Mit den folgenden Worten fasste der gefeierte Schriftsteller Mór Jókai in seinem Prolog zur Millenniumsausstellung diese Grundidee zusammen: »Die Geschichte hat über die Jahrhunderte hinweg eine stete Wandlung erlebt und damit wandelt sich alles: das Leben, die Schöpfung und die Erschaffung von Neuem, im Guten und im Schlechten – aber durch all das zieht sich der ungarische nationale Geist hindurch – er baut, er gebiert, er erweckt. Und wenn er sich dorthin emporarbeitet, was als europäisches Niveau bezeichnet wird, und wenn die nationale Kultur mit der Weltkultur verschmilzt, behält dann diese ihren ungarischen nationalen Charakter noch immer bei, wie dies die größten Nationen auch beibehalten hatten. Davon spricht die ungarische Millenniumsausstellung. Davon sprechen die Steine und die Schöpfungen des Landes – davon spricht die Wundermacht der neuen Zeit: dieMaschinenwelt – davon sprechen das gedruckte Papier, das gemalte Bild, die gemeißelte Skulptur, alle Erzeugnisse der Industrie [. . .].«27 Die im Rahmen der Millenniumsausstellung eingesetzten historisch-politischen Narrative und die aufdringliche Propaganda nationaler Errungenschaften lassen sich nur vor dem Hintergrund des hochkomplexen politischen Konstrukts der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nachvollziehen. Der 1867 ausgehandelte österreichisch-ungarische Ausgleich, dem die Niederschlagung des ungarischen Freiheitskriegs 1848/49 und daraufhin knapp zwei Jahrzehnte absolutistischer Machtausübung der Habsburger vorausgegangen waren, gewährte Ungarn bis auf die Außen-, die Kriegs- und die Finanzpolitik unter der Schirmherrschaft des Habsburger Kaisers Franz Joseph I. eine stabile politische Autonomie.28 Der auf relativ breitemKonsens beruhenden Konsolidierung des Staatswesens und der daraus resultierenden jahrzehntelangenwirtschaftlichen Prosperität zum Trotz blieb die nationalpolitische Spaltung der beiden Reichshälften bis zum Ersten Weltkrieg präsent. Auf diese Weise verfolgte die Repräsentation vergangener und gegenwärtiger Leistungen der Nation nach außen hin zweierlei Ziele: Eines davon ist das nation branding, das in der Manier der Weltausstellungen gestaltet an ein breites internationales Publikum adressiert war;29 zum anderen galt die Millenniumsausstellung für die übrigen Länder der Doppelmonarchie als eine Art Schaufenster, in demdie kulturelle, die wirtschaftliche und die industrielle Autonomie Ungarns präsentiert werden sollte. In diese politische Feier von bisher ungekanntem Ausmaß wurde das gesamte Territorium des Landes Ungarn einbezogen, indemauch jenseits der Hauptstadt in sämtlichen Gebieten innerhalb der Staatsgrenzen Festivitäten abgehalten wurden. Hierfür sorgten nicht nur die lokalen Behörden sowie kirchliche und bürgerliche Verbände, die lokale Veranstaltungen organisierten,30 sondern auch der Beschluss des ungarischen Kultusministeriums, demzufolge in allen staatlichen Schulen Ungarns Millenniumsfeierlichkeiten zu begehen waren.31 Neben diesen ephemeren feierlichen Akten
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