Leseprobe

1 Das Eigene und die Nation: Verschränkungen und Abweichungen 1.1 Von Turin nach Budapest: Architekturdorf als transnationale Verflechtungszone Als eine Offenbarungserfahrung beschrieb der ungarische Architekt Ignác Alpár (1855–1928) seinen imHerbst 1893 erfolgten Besuch im Turiner Borgo Medievale: »Einen außerordentlichen Eindruck hat die Besichtigung dieser Ausstellung auf mich gemacht, denn ich fand darin den Leitgedanken, auf den ich mich beziehen konnte.«1 Der Grund dafür, dass der ungarische Architekt in Budapest kurzerhand in einen Schnellzug einstieg, umzumehemaligen Turiner Ausstellungsgelände zu pilgern, war eine spezielle Bauaufgabe, die ihn zu dieser Zeit intensiv beschäftigte: Alpár arbeitete gerade an den Entwürfen für einen Baukomplex, der imRahmen der künftigen »Millenniums-Landesausstellung« von 1896 in Budapest für die historische Ausstellungssektion vorgesehen war. Den Architekten faszinierten die dem Borgo inhärente schöpferische Innovation und intellektuelle Qualität, wodurch – trotz der Holzkonstruktionen im hinteren Trakt der nachgebauten Wohnhäuser – jede Kulissenhaftigkeit des Ensembles vermieden worden sei. Wie Alpár pointiert, lag der eigenartige Effekt des Borgo darin, dass »die gemauerten Turiner Fassaden anhand von Vorstudien auf eine außerordentlich subtileWeisemiteinander in Einklang gebracht worden waren«.2 Die Lehre, welche der ungarische Architekt aus der Turiner Exkursion gezogen hatte und in seinemBudapester Architekturdorf daraufhin umsetzte, trifft eine der zentralen Fragestellungen des vorliegenden Bandes: Alpár problematisiert konzeptionelle Grundsätze und gestalterische Praktiken, mit derenHilfe Architektur im musealen Kontext über sich selbst sprach. 1.2 Das Eigene konstruieren Nährboden für solche selbstreferenziellen Bauensembles war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts virulente Ausstellungskonjunktur. Als Antrieb für das Zustandekommen jener architektonischen Ausstellungsgattung lässt sich, wie zahlreiche Studien zeigen, die Konstituierung kultureller Differenz durch Architektur an Universalausstellungen bereits mit der »Exposition Universelle« 1867 in Paris identifizieren.3 Sichtbar gemacht wurde dabei die zivilisatorische Selbstidentifikation der industriell-ökonomischen Führungsmächte in Europa und Amerika im Verhältnis zu anderen Kulturen, die als peripher beziehungsweise als exotisch wahrgenommen wurden. Architektur erwies sich gemeinsam mit den entsprechenden Ausstattungen, Gebrauchs- und Kunstgegenständen als ideales Mittel, Kulturkontraste sinnstiftend und taktil zu repräsentieren. Eine kulturelle Differenzierung dieser Art kann als ein fortbestehendes Kernstück länderspezifisch gestalteter Architekturensembles gelten. Insbesondere im imperialistisch-kolonialistischen Setting der Weltausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa in der im Jahr 1878 in Paris angelegten »Rue des nations«, wurde kulturelle Alterität mit Hilfe von Baukomplexen geäußert. Jenseits der imperialistischen Globalperspektive förderte das Architekturdorf der Wiener Weltausstellung von 1873 zum ersten Mal lokalspezifische kulturelle Differenzierungs- und Distanzierungspraktiken zutage. Das Grundkonzept des Komplexes, nämlich die Bündelung unterschiedlicher regionaler Bautypen der multiethnischen Habsburgermonarchie in der Dorfanlage zusätzlich zu den internationalen Schaustücken, sollte nicht nur die ethnische Vielfalt des Reichs zelebrieren. Vielmehr gab es eine deutliche »binnenkolonialistische«4 Trennlinie zwischen der idealisierten Darstellung österreichischer vernakulärer Baukultur (ergänzt von derjenigen deutschsprachiger ethnischer Gruppen) und den als rudimentär erklärten Bauernhäusern anderer Ethnien der Monarchie.5 Dass der Fokus der Differenzkonstruktion in Wien – am östlichsten Austragungsort einer europäischen Universalausstellung – neben dem kolonialen Exotismus auch ein aktuelles nationalpolitisches Anliegen des Gastgebers einschloss, war eine Reaktion auf die kaleidoskophaft zusammengesetzten Ethnien Ostmitteleuropas.6 Wie das frühe Beispiel des Wiener internationalen Dorfes ankündigte, wurden Ausstellungen und Ausstellungsarchitektur zum Instrument in den nationalpolitischen Reibungen in der Vielvölkerregion.7 Diesmachte sich amprägnantesten in den auf Landes- oder regionaler Ebene organisierten, allgemein oder thematisch ausgerichteten Weltausstellungsepigonen – etwa in Lemberg (1894),8 Prag (1895)9 und Budapest (1896) – bemerkbar, deren Dorfkomplexe eine generelle Hinwendung zur vernakulären Architektur aufwiesen. Hierbei wurde der autochtonen Kultur des jeweiligen Volkes (beziehungsweise der Völkergruppe) mit eigenstaatlichen Ambitionen eine politische Legitimationskraft zugeschrieben. Unter nationalpolitischemVorzeichen setzte sich imRahmen der Regional- und Landesausstellungen der Habsburgermonarchie zunehmend eine Praxis des Konstruierens kultureller Differenzmittels Architektur durch, die sich von den Architekturensembles der imperial-kolonialen Universalausstellungen deutlich un-

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