Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 25 q 2 Kunstwissenschaft im konkurrierenden Geflecht von Region/Nation 2.1 Die Inszenierung des Borgo: ein städtebaulich geprägter Wahrnehmungsraum Durch das seit den frühen 1860er Jahren im Stil des Landschaftsgartens gestaltete Areal des Parco Valentino führte ein großzügig gestalteter Außenweg (Belt-walk) in Richtung Süden (Abb. 2).40 Sowohl mit Hilfe des Weges als auch durch die zum Ufer des Flusses Po abfallende Topografie separierte sich der Borgo deutlich vom oberen, kommerziellen Bereich. In diesen hinein ragt die Vierflügelanlage des Kastells mit einemmassiven Vierkantturm. Der Rundturm des Kastells wendet sich dagegen nach Süden zumPo hin. Längs des Flusses erstreckt sich die Hauptansicht des Borgo von außen (Abb. 4, 5). Die Architekturen stehen nicht frontal, sondern sind in zwei Schichten zum Ufer hin organisiert (Abb. 4). Diese Nutzung der Topografie lässt das architektonische Ensemble als gleichsam »naturwüchsig« erscheinen. Die Einbeziehung des Wassers diente – wie bei der historischen Hauptgruppe auf der Millenniumsausstellung in Budapest (1896) und beimFreilichtmuseumSeurasaari in Helsinki (1909) – als Mittel zur Distanzierung des Borgo Medievale: »quell’ampia gaiezza della natura«, wie es in der Besprechung Camillo Boitos zum Borgo heißt.41 Der räumliche Entzug, der Blick aus der Ferne, sollte zugleich den zeitlichen Abstand des Ensembles, hier des Quattrocento, zur Gegenwart vermitteln.42 D’Andrades Konzept schreibt dem Architekturprospekt am Fluss eine doppelte Wirkung zu: Wer über den Fluss hinweg von außen auf den Borgo blicke, erhalte einenmalerischen Anblick. Umgekehrt könne derjenige, der vom Inneren der Ausstellung auf den Fluss schaue, den hinreißenden Ausblick ganz erfassen.43 Dieses inszenierte Architekturbild entsprach der italienischen Urbanistik des 19. Jahrhunderts, in der das Panorama als eine besondere Art von Stadtansicht von außen vor allem in Verbindungmit demWasser neu entdeckt wurde.44 Dabei spielte die Aufhebung der frühneuzeitlichen Fortifikationen eine wichtige Rolle, da sie – wie in Turin mit dem Ensemble Piazza Vittorio Emanuele und der Kirche GranMadre di Dio – zu neuen, bildhaften Architekturensembles geführt hatte.45 Der BorgoMedievale gestaltete eine künstlicheWelt, die aufgrund ihres Ausstellungs- und didaktischen Charakters eine Architektur zweiter Ordnung bildete.46 Den Konzeptionisten war dies bewusst; sie sprachen nicht vom Nutzer oder Bewohner, sondern vom »pubblico«, »visitatore« sowie von den Augen des Betrachters (»gli occhi dell’osservatore«).47 Einer Sammlung oder einem Museumvergleichbar, schuf der Borgo eine Stätte der zur Schau gestellten Exponate. Doch wurden hier keine Originale ausgestellt, sondern die Kunst im Piemont des 15. Jahrhunderts sollte durch Nachbauten von Architekturen veranschaulicht werden. Eine Analyse des Borgo muss daher klären, welche Momente der Nachbildung benutzt wurden, umdie gewünschten Repräsentationen herzustellen. Da das Borgo-Konzept der Wahrnehmung des Betrachters/des Publikums einen hohen Anteil einräumt, erscheint es methodisch sinnvoll, die Dramaturgie dieser Inszenierung zu verfolgen. Damit verbinden sich zwei Ziele: Im Sinne des »nachgebauten Artefakts« zeigt sich die Konstruiertheit des Borgo, sprich: die Architektur als zweite Ordnung. Dennoch aber besaß diese Architektur durch die starke Ansprache des Betrachters eine hohe Performanz,48 die nicht nur auf historisches Wissen abzielte, sondern sogar Eingriffsmöglichkeiten für die eigene Gegenwart versprach. Die Tatsache der Inszenierung zeigt sich besonders anhand der »veduta«, der Ansicht des Borgo zum Fluss, die kontrastiv gesetzte, bauliche Massen kennzeichnen (Abb. 5). Gleich vom Tor her bilden die Türme markante Höhenlinien. Mit der »Ästhetik des Performativen« gesprochen, vollzieht sich ein »Umspringen« der Wahrnehmung des Zuschauers, da die sich nach oben verbreiternde Torre d’Alba das Dahinter, die zweite räumliche Schicht des Borgo, signalisiert.49 Schon aber schieben sich amFluss zwei versetzt zueinander gestellte Fronten in den Blick: die Casa di Malgràmit Durchgang sowie die Casa di Borgofranco, erstere in Backstein undmit farbig gefassten, spätgotischen Fenstern, die zweite als ausgemauerte Fachwerkkonstruktion. Vertikal setzt die nach hinten gerückte, auf einem polygonalen Unterbau errichtete Torre d’Avigliana ein, welche die Höhenlinie der Türme der Stadtmauer sowie der Torre d’Alba fortführt. Diese wiederholte Vertikalität verlangsamt den Vorgang des Betrachtens (Fischer-Lichte: »slow motion«)50 und ermöglicht Assoziationen zu existierenden oder dargestellten Ortsbildern. Zugleich zeichnet sich der Borgo durch eine starke Binnenorientierung aus. Dies gewährleistete in erster
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