Leseprobe

Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 23 q über von Burg (»rocca«) und Dorf (»villaggio«) konzipiert (Abb. 3), ging es insgesamt um Wohnarchitektur des späten 14., insbesondere des 15. Jahrhunderts. Das Ensemble eines »Castello forte dominante un gruppo di abitazioni« sollte die »vita sociale ed artistica di quell’ epoca« fokussieren.36 Der Anspruch, dass die Region Piemont eine eigene Epoche repräsentiere, bedeutete methodisch die Übernahme des kunsthistorischen Stilmodells, das für die italienische Architektur längst definiert war. Frühestes Beispiel für eine Stilgeschichte der mittelalterlichen Baukunst Italiens war das von Séroux d’Agincourt erstellte Tafelwerk »Histoire de l’Art par lesmonuments« (1810–1823), das erstmals eine chronologische sowie typologische Betrachtungsebene präsentiert hatte.37 Im Unterschied zu solchen Tableaus versprach das Konzept D’Andrades eine Wiedergabe der Architektur in ihrer ganzen Räumlichkeit und Materialität, belegt durch Forschungsliteratur sowie schriftliche Quellen. Diese neuartige »autenticità« von Architektur meinte deren Funktionsweisen in der »vita sociale«.38 Die Kommission bewilligte dies; auch die im Laufe der Diskussionenmit einemeigenen Vorschlag unterlegenen Mitglieder Riccardo Brayda und Alfonso Dalbesio stimmten zu. Der Ingenieur Brayda, Übersetzer eines der frühen deutschsprachigen stilgeschichtlichen Handbücher,39 wurde künftig der wichtigsteMitstreiter von D’Andrade. Abb. 3 Alfredo d’Andrade, Erster Entwurf des Borgo Medievale, 8. Mai 1882 (»Mia prima idea del castello e villaggio medioevali di Torino nel 1884 [. . .], vgl. Anm. 25) Torino, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Gabinetto Disegni e Stampe, fondo de Andrade (fl/10230, LT 2057), Foto: © foto Studio Fotografico Gonella (2005).

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