q 22 Cornelia Jöchner 1.3 Museo di paragone vs. Borgo Medievale »Schizzi imaginati« nannte der Künstler, Restaurator und Denkmalpfleger Alfredo d’Andrade die Zeichnung (Abb. 3), die er laut der dort eigenhändig angebrachten Notiz während eines Mittagessens am 8. Mai 1882 anfertigte.25 Mit dieser Imagination gelang es ihm, die Kommission der »Sezione Storia dell’Arte« davon zu überzeugen, dass für die italienische Landesausstellung in Turin 1884 ein »Borgo Medievale« zu errichten wäre. Die Skizze enthält noch keinerlei Hinweise auf einen konkreten Ort, weist jedoch bereits wesentliche Elemente der späteren Ausführung auf: Das zweipolige Ensemble, eingeschlossen durch eine Befestigungsmauer, besteht aus einem Castello am oberen Ende, dem eine kleine Anordnung mit Kirche und öffentlichen Gebäuden zugeordnet ist. Doch war dies nicht der chronologische Anfang der »Sezione Storia dell’Arte«. Vier Monate vor dem Auftreten d’Andrades in der Kommission waren völlig andere Ansätze für eine derartige Ausstellung im Gespräch. Diese Zusammenkünfte (»sedunanze«) im Palazzo Carignano waren geprägt von kontroversen Diskussionen zu divergierenden Konzepten. In die eine oder andere Richtung wurden Argumente ausgetauscht, die zur Findung der endgültigen Idee beitrugen und insofern zur Baugeschichte des Borgo gehören.26 Ex negativo beleuchten die zwischen Mitte Januar und Anfang Mai 1882 geführten Diskussionen, was schließlich das spätere Konzept ausmachen sollte. Die im Entstehen begriffenen Ideen wurden dem Präsidenten der Esposizione, Luigi Rocca, vorgestellt, doch war die Kommission der »Sezione Storia dell’Arte« gegenüber der allgemeinen Ausstellung autonom.27 Ihr personeller Kern bestand aus Francesco Gamba (Direktor der Pinacoteca Sabauda), dem Intendanten des Teatro Regio, Augusto Ferri, dem Antiquar Francesco Ianetti, dem Maler Conte Federico Pastoris sowie den Adligen Ferdinando Scarampi di Villanova und Ottavio Balbi. Hinzu kamen weitere Gelehrte, Architekten, Künstler sowie Freiberufler – kennerschaftliche, oft kaum durch feste Berufsprofile geprägt, wie sie für das späte 19. Jahrhundert typischwaren.28 In der ersten Sitzung des Komitees vom 17. Januar 1882 war der Gedanke aufgekommen, eine Gruppe von Gebäuden zu präsentieren, welche die stilistische Entwicklung vom Rundbogen in der Lombardei bis hin zu einigen der besten Bauten Palladios zeigen sollte. Diese Chronologie sollte Objekte und Fragmente in Kopie präsentieren, ergänzt durch Originalzeichnungen, Abgüsse, fotografische Reproduktionen und Publikationen der entsprechenden Epochen. Wie bei früheren Ausstellungen in Florenz (1861) und Mailand (1881) sollte auch diese Architekturschau die zeitgenössische Geschmacksbildung anregen.29 Dieses konventionelle Programm stieß auf Ablehnung.30 Statt des weiten Spektrums, so der Vorschlag des Malers und Sammlers Vittorio Avondo, solle man sich auf piemontesische Schlösser beschränken. Die Kommission lehnte einen solchen Fokus als zu begrenzt ab. Damit aber war ein Keim für das spätere, qualitativ andere Konzept d’Andrades gelegt. Es gehört zu den Wendungen der Geschichte des Borgo, wie nun zunächst ein völlig gegenteiliges »Programma« entwickelt wurde. Und zwar in Form eines »Museo di paragone«, welches die Genese der dekorativen Künste Italiens vom 11. bis 17. Jahrhundert durchNachbauten (»colla costruzione di diversi corpi di fabbricato collegati insieme«) verdeutlichen sollte.31 Auch dies war als »collezione didattica« geplant, wobei bedeutende Objekte vom 11. bis zum 19. Jahrhundert in chronologischer Ordnung gezeigt werden sollten. Wäre die Kommission dem ersten Konzept gefolgt, hätte sie die internationale Kritik an bisherigen Weltausstellungen ignoriert. Denn die Praxis, bekannte Bauten einer Nation als ikonografische Reihe auszustellen, war bereits unter Beschuss geraten. Diese Art von Architekturpräsentation durch schematisch reproduzierte Monumente war bereits bei der Pariser Weltausstellung 1878 als kulissenhaft bezeichnet worden.32 Ob Alfredo d’Andrade derartige Kritiken kannte, als er seine alternative, durch Zeichnungen visualisierte »idea« einbrachte, ist unklar. Fest steht, dass dieser wichtigste Akteur der Turiner »Sezione Storia dell’Arte« als junger Mann die Weltausstellung in Paris 1855 besucht hatte.33 Allerdings ließe sich sein Vorschlag für die Turiner »Esposizione Generale Italiana« auch nicht allein auf die Kritik zurückführen, die es an den genannten Fassadenreihen gab. Sein Konzept beruhte auf vielfältigen professionellen Tätigkeiten in einem sich festigenden kulturellen Netzwerk, in welchem er durch seinen Vorschlag zu einer Art »Sprecher« wurde.34 D’Andrade warb für ein »concetto che si restringe ad una sola epoca ed una regione« und damit eine Konzentration auf die spätmittelalterliche piemontesische Architektur und Kunst.35 Ein imaginärer befestigter »Borgo« (dt.: Flecken, Ort, Dorf, Weiler) sollte bislang unbekannte Bauten dieser Region präsentieren. Als Gegen-
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