Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 21 q durch den Bereich der vom Staat besonders geförderten keramischen Produktion.12 Als innovativ, auch gegenüber der ersten Industrieausstellung 1881 in Mailand, präsentierte sich die Elektrotechnik, insbesondere die Beleuchtungstechnik, die von internationalen Ausstellern beherrscht war.13 Im Bereich der telegrafischen Kommunikation waren vor allem italienische Firmen wie Pirelli präsent.14 Die Eisenbahn konnte als zukunftsträchtiger Industriezweig für das durch eine schwache Infrastruktur gekennzeichnete Italien präsentiert werden. Das Piemont nahmhier eine avancierte Rolle ein, da es seit 1871 durch den zwölf Kilometer langen Tunnel unter dem Mont Cenis mit Frankreich verbunden war. Der Bau eigener Eisenbahnen stand in Italien vor allemdurch englische Konkurrenz unter Druck, weshalb es 1884 von großer Bedeutung war, wenn mit der Lokomotive »Vittorio Emanuele« ein eigenes Produkt gezeigt werden konnte.15 Eine Besonderheit der Turiner Ausstellung war, dass sie nicht auf die Sphäre der Produktion beschränkt blieb. Vielmehr sollten, wie Minister Grimaldi bei der Eröffnung der Ausstellung ausführte, alle Bereiche der Arbeit dargestellt sein, auch die öffentliche Verwaltung oder das Gesundheitswesen. So präsentierten sich die Kommune der Stadt Turin, verschiedene Ministerien oder – vielbeachtet – die Arbeitervereinigungen.16 Im Fokus stand das gesamte soziale Leben und seine Rahmensetzung durch den jungen Nationalstaat. Dies wies voraus in Richtung der Pariser Weltausstellung von 1889, die ein »Musée social« errichtete.17 1.2 Kulturelle Herausforderungen der industriellen Produktion Der Begriff »industriell« wurde in der Epoche der Weltausstellungen umfassender als im heutigen Sinn verstanden – eher nach Diderots »Encyclopédie«, wonach dies alle menschlichen Tätigkeiten meint.18 Ein solch umfassendes, anthropologisch grundiertes Verständnis von »Herstellen« erklärt nicht nur das weite Spektrum ausgestellter Waren, sondern auch die Tatsache, warum im Rahmen von Welt- und Landesausstellungen die Architektur eine so wichtige Rolle spielte: Sie galt als Teil der menschlichen Kulturtätigkeiten. Die weite Aufgabenstellung der »Esposizione Generale« von 1884 verwies auf ein übergreifendes kulturelles Problem der Industriegesellschaften, das Gottfried Semper in seinemAufsatz »Wissenschaft, Industrie und Kunst« nach dem Besuch der Londoner Ausstellung (1851) und später in seiner zweibändigen Schrift »Der Stil« (1860/63) beschrieb: Die industriell möglich gewordene Produktion von Gütern war nicht durch eine »Verhüllung der structiven Theile«, also ein Ornament, zu bewältigen. Vielmehr verlange die Industrialisierung nach neuen Typen, die den durch sie offenkundig gewordenen Zwiespalt zwischen ornamentierter Kunst- und konstruktiver Kernform wieder schlossen.19 Diese Suche nach zweckgerichteten Typen konnte demnach nur eine umfassende Bildung des Geschmacks gewährleisten, die Kunstgewerbeschulen und Museen durch eine breite Wirkung in die Öffentlichkeit tragen sollten. In Italien ging diese Reformbewegungmit der Gründung von fünf regionalen Schulen (1876–1882) der angewandten Künste einher (Venedig, Neapel, Mailand, Palermo, Florenz), teilweise begleitet von Museen.20 Zwei der ersten musealen Einrichtungen dieser Art waren in Turin das »Museo Civico« (1860) und das »Regio Museo Industriale Italiano« (1862).21 Das 1859 in Florenz eröffnete »Museo Nazionale del Bargello«, nach dem Vorbild des Londoner South Kensington Museum eingerichtet, nahmzumindest teilweise die Funktion eines Nationalmuseums wahr. Jedoch sollte, laut einer 1884 geführten Diskussion, jede Stadt, welche die Einrichtung eines solchen Museums für ihre gewerbliche Entwicklung förderlich hielt, dieses errichten können.22 Das Konzept der »Esposizione Generale Italiana in Turin 1884« war daher sowohl edukativ auf die Förderung des »buon gusto« als auch auf die Erweckung von »Schaulust« ausgerichtet.23 Unter dem Druck der industriellen Produktion war Architektur besonders hinsichtlich des Zusammenhangs von Konstruktion und künstlerischer Gestaltung interessant. Die damit aufgeworfenen Fragen zu ihrer Nutzung, ihremZweck, hatte Gottfried Semper erstmals zivilisationshistorisch untersucht und dabei Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Gattungen festgestellt.24 Im Borgo Medievale waren die neuen kulturellen Herausforderungen nicht nur anhand des Interesses an Konstruktion, Materialität und Techniken der bis dahin unbekannten, spätmittelalterlichen Architektur greifbar. Kapitel 5.2 wird zeigen, dass er die im Piemont des 15. Jahrhunderts verbreiteten Portikusbauten als architektonische Bedingung einer mit dem Wohnhaus verbundenen Produktionsweise veranschaulichte. Um dies darzustellen, nutzten die Konzeptionisten geschickt die neuen Schnittstellen von kunstwissenschaftlicher Forschung und Ausstellungswesen.
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