Leseprobe

21 Visuelle Geschichtskultur CORNELIA JÖCHNER, CHRISTIN NEZIK, GÁSPÁR SALAMON UND ANKE WUNDERWALD Museale Architekturdörfer 1880–1930 Das Eigene in transnationalen Verflechtungen

Alle Übersetzungen aus anderen Sprachen im Buch wurden – sofern nicht anders gekennzeichnet – durch die Verantwortlichen der jeweiligen Beiträge vorgenommen. Schreibweisen in Zitaten, die – sei es in deutscher oder einer anderen Sprache – von der heutigen Rechtschreibung abweichen, wurden im Original belassen. Die Rechte für die Verwendung von Abbildungen wurden sorgfältig ermittelt. In Fällen, in denen dies trotz aller Bemühungen nicht möglich war, bitten wir umMitteilung. Für möglicherweise nicht mehr bestehende Internet-Links kann keine Verantwortung übernommen werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023, Sandstein Verlag, Goetheallee 6, 01309 Dresden Umschlagabbildung: Cornelia Jöchner (2021) Korrektorat: Sabine Feser Einbandgestaltung: Sandstein Verlag Gestaltung, Satz, Repro: Sandstein Verlag Druck: FINIDR, s.r.o., Český Těšín www.sandstein-verlag.de ISBN 978-3-95498-721-4 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 417645871 Gedruckt mit Unterstützung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) e.V. in Leipzig. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Der Titel ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.sandstein-verlag.de, DOI: 10.25621/sv-gwzo/VG-21 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution – Non Commercial 4.0 Lizenz (BY-NC). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für nicht kommerzielle Zwecke (Lizenztext: https://creativecommons.org/ licenses/by-nc/4.0/deed.de). Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

21 Museale Architekturdörfer 1880–1930 Das Eigene in transnationalen Verflechtungen CORNELIA JÖCHNER, CHRISTIN NEZIK, GÁSPÁR SALAMON UND ANKE WUNDERWALD SANDST E I N

Inhalt Arnold Bartetzky und Maren Röger 7 Vorwort Cornelia Jöchner 8 Einführung Cornelia Jöchner 18 Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt Gáspár Salamon 74 Das Eigene im Bau: Museale Auseinandersetzungen mit dem architektonischen Erbe Ungarns auf der Millenniumsausstellung in Budapest (1896) Christin Nezik 134 Regionale Typologien ausstellen: Das Zusammenwirken von vernakulärer Architektur und Landschaft im Freilichtmuseum Seurasaari Anke Wunderwald 186 Das Poble Espanyol der Weltausstellung 1929 in Barcelona als Imagination nationaler Einheit Cornelia Jöchner 240 Fazit 244 Abstracts und Bio-Bibliografien 252 Anhang

Einführung CORNELIA JÖCHNER

»Dort umherzuwandern, in diesem großen Glaspalast, so riesig, dass die darin eingeschlossenen Ulmen wie Weihnachtsbäume aussahen, war eine Wanderung durch einWunderland der Schönheit und der menschlichen Erfindungskunst.«1 Die zahlreichen Welt- und Landesausstellungen, die in der Folge der »Great Exhibition« in London 1851 entstanden, markierten den Beginn einer neuen Epoche. James Gordon Farrell spricht in seinem Roman »Die Belagerung von Krishnapur« diese Zäsur als persönliches Erlebnis an: das Zeitalter eines intensivierten Sammelns, Katalogisierens und Ausstellens. Dies sind Tätigkeiten, die der heutigen Geschichtswissenschaft fast als Manie erscheinen, da sie das Ziel verfolgten, »die großen Unterschiede auf der Welt unter Kontrolle zu bekommen, zu ordnen und begreifbar zumachen«.2 Derartige Praktiken des Ordnens und Präsentierens von Umwelt beschränkten sich nicht auf Welt- oder Landesausstellungen. Sie umfassten auch die Umgestaltung bestehender und die Gründung zahlreicher neuer öffentlicher Museen. Ihr Medium, die Ausstellungen, gelten so als »Knotenpunkte« einer Welt, die sich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an immer stärker verflocht und durch das Zeigen von Exponaten überschaubar werden sollte.3 Eine diesbezügliche These der aktuellen globalgeschichtlichen Forschung lautet: Je stärker sich die damaligen Ausstellungen als Knotenpunkte mit umfassenderen globalen Netzwerken verknüpften, desto mehr verloren sie an Kraft, »ihre Bedeutungen zu lenken«.4 Was das hieß, macht die komplementäre Seite dieses forcierten »Zeigens« deutlich: das Schauen des Publikums. Seit der Entdeckung der Weltausstellungen durch die Geistes- und Kulturwissenschaften haben sich mit der Seite des Wahrnehmens und Zeigens insbesondere die Ethnologie und Kunstgeschichte befasst.5 Hierbei geriet nicht nur die teilweise aufsehenerregende Architektur der Ausstellungen in den Blick.6 Die Forschung beschäftigte sich auchmit dem Inneren der Ausstellungen, der enorm angewachsenen DingWelt und deren visueller Erfahrung, die einen immensen Einfluss auf die gesamte kulturelle Produktion in der zweiten Hälfte des 19. sowie des frühen 20. Jahrhunderts hatte.7 Diese immer wieder geschilderte Erfahrung des Sehens und Verarbeitens von Seherfahrungen gibt das Eingangszitat des fiktiven jungen Reverend Hampton wieder, der in Farrells Roman einem britischen Kolonialoffizier in Indien schildert, wie er die sechs Jahre zuvor stattgefundene erste Weltausstellung in London wahrgenommen hatte. 1 Museale Architekturdörfer Das vorliegende Buch nimmt sich dieser besonderen »Welt als Schaustellung« anhand eines hochspezialisierten, jedoch häufig anzutreffenden Ausstellungsobjekts an.8 Es geht um die Konstruktion von Architekturgeschichte anhand vollständiger, nachgebauter oder translozierter Gebäude, die in der synthetischen Form eines scheinbar dörflichen, kleinstädtischen oder ruralen Zusammenhangs präsentiert wurden. Solche besonders sorgfältig errichteten »historischen« Ensembles waren in die Präsentationen insbesondere junger Nationen eingebunden und stellten gerne Architekturen aus entlegenen Gegenden des jeweiligen Landes dar. Zugleich aber waren sie Teil jenes größeren Ausstellungsgeschehens, das zur Konjunktur der Welt- und Landesausstellungen beitrug und der aktuellen Produktion von Industriegütern gewidmet war. Auf dieseWeise bildeten die hier ausgewählten historischen Ensembles der Architekturdörfer einerseits »contact zones« zu der jeweils aktuellen Präsentationsebene eines Landes.9 Andererseits waren sie Schnittstellen zu den anderen, untereinander immer stärker verflochtenen Nationen der Ausstellung sowie drittens – und für die angeführten Beispiele besonders wichtig – zu unterschiedlichen Regionen der jeweils präsentierenden Nation, deren Einigung oft noch nicht sehr lange zurück lag oder noch gar nicht vollzogen war. Derartige architektonische Ensembles waren lange Zeit vor allem Gegenstände der Disziplinen Geschichtswissenschaft und Ethnologie, die auf diesem Gebiet Grundlagenarbeit geleistet haben.10 Erst seit gut zwei Jahrzehnten geraten auch die Architekturen selbst stärker in den Blick,11 die ein neuartiges kunst- und architekturhistorisches Interesse markieren und den Fokus der hier vorliegenden Forschung ausmachen. Die Verantwortlichen dieses Bandes haben sich für ein komparatives Vorgehen entschieden, das fünf, großenteils heute noch bestehende Ensembles miteinander vergleicht, um auf diese Weise deren Tiefenstrukturen zu erfassen: der »Borgo Medievale« in Turin (1884), das »Ethnografische Dorf« und die »Historische Hauptgruppe« in Budapest (1896), das Freilichtmuseum Seurasaari in Helsinki (1909) und das »Poble Espanyol« in Barcelona (1929).12 Diese hier vorgestellten fünf Musealen Architekturdörfer unterschieden sich in ihremKonzept sowohl von den auf die Darstellung nationaler Monumente ausgerichteten Präsentationen der »Rue des nations« (»Exposition universelle de 1878«, Paris) als auch von den sogenannten ethnografischen Dörfern, ebenfalls dort erstmals

q 10 Cornelia Jöchner Die bei der Pariser Ausstellung entlang des SeineUfers gezeigten Haustypen zielten mit ihren 44 Gebäuden aus verschiedenen Epochen und Ländern darauf ab, die kulturelle Entwicklung der Menschheit vorzuführen.15 Gleichsam auf einem Spaziergang sollte so die Entwicklung der Zivilisation abgeschritten werden können, die linear ansteigend die aktuelle Weltausstellung unter demEiffelturmals »point d’arrivée« inszenierte. Ein Kenner des Kunstgewerbes wie Jacob von Falke kritisierte jedoch, dass dabei »die Façade zur Hauptsache geworden« sei, »wir wollten aber wissen und sollten lernen, wie die Menschen gewohnt und sich in der Wohnung eingerichtet haben, und dazu verhilft uns die Façade nicht«.16 Dass, wie der Kulturhistoriker Martin Wörner herausstellt, bei der Weltausstellung 1893 in Chicago erstmals der an der Harvard University lehrende bedeutende Archäologe und Ethnologe Frederick W. Putnam das »Department of Archeology and Ethnology« leitete und dort während der Ausstellung mehrere anthropologische Kongresse abhielt, zeigt den Wandel im Anspruch solcher Präsentationen. Binnen kurzem galten, wie die oben zitierte Kritik von Jacob von Falke deutlich macht, schematische Darstellungen als nicht mehr zufriedenstellend. Ein stärker wissenschaftliches und historisches Interesse stand hinter den Fragen an das Wohnen, welche die Landesausstellungen sowie die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend entstehenden kunstgewerblichen oder ethnologischen Museen zu befriedigen suchten. Bei solchen Präsentationen spielte das Wohnen auf dem Land eine besondere Rolle, besser gesagt das »Bauernhaus«, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins Interesse der europäischenArchitekturhistoriografie rückte.17 Letzteres repräsentierte nicht das gesamte Leben auf demLand, dafür fehltenwesentliche Bevölkerungsgruppen: Tagelöhner, Handwerker, Teile der Administration oder gemischte Gruppen, deren Tätigkeiten etwas von alledem aufwiesen. Diese Reduktion auf das »Bauernhaus« deutet bereits darauf hin, wie sehr hier eine Bauaufgabe, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Aufmerksamkeit erlangte, ideologisch konnotiert war: Nicht nur die Stadtkritik spielte dabei eine Rolle,18 sondern auch für das nation building bot sich das »Bauernhaus« als Projektionsobjekt an.19 Hatte es einfache Wohnbauten in herrschaftlichen Gärten des späteren 18. Jahrhunderts gegeben – etwa das »Dörfle« im Schlosspark von Hohenheim –, so waren mehr oder weniger freie Nachbildungen desWestschweizer »Chalet gezeigt, und von späteren Altstadt-Konglomeraten wie »Oud Antwerpen« (1894) oder »Vieux Paris« (1900), die kanonische Bauten der jeweils ausstellenden Städte zeigten. Das Verbindende der im vorliegenden Buch vorgestellten fünf Ensembles war, dass sie mehrheitlich unbekannte Bauten exponierten, deren Auswahl auf einer empirischen Recherche beruhte, die teilweise wissenschaftliche Züge hatte. Bei diesemgezieltenHerausstellen von Architekturformen ging es darum, dass diese nicht als austauschbar galten, sondern als das jeweils »Eigene« betrachtet werden konnten. Das Insistieren auf »dem Eigenen« erzeugte jedoch ein gewisses Paradox. Denn zugleich waren die fünf Ensembles in die übergreifenden Dispositive des Ausstellens eingebunden, die während der starken Konjunktur von Landes- und Weltausstellungen sowie von Museumsgründungen entstanden und zu einer Art symbolischer Währung der untereinander konkurrierenden Nationen geworden waren. Die imBuch vertretenen fünf Ensembles versuchten hier nicht nur jeweils eigene Präsentationsstrategien zu entwickeln, sondern arbeiteten sich auch erkennbar an bereits stattgefundenen Beispielen von Ausstellungen ab. Im Geflecht der Nationen waren sie ausgeprägte »contact zones« des in jener Zeit übergreifend stattfindenden Diskurses des Eigenen.13 Die fünf Exempla, so die These der Verfasser, zeigen damit einen komplexen Anspruch, dem sämtliche nachfolgenden Fragestellungen gelten. 2 Vernakuläre Architektur wird ausstellungsfähig Wichtig für das Thema der Musealen Architekturdörfer sind signifikante Veränderungen imAusstellungswesen seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, welche die hier vorzustellenden Beispiele in besonderer Weise prägten: erstens die Präsentation des Wohnhauses als eines kulturellen Zeugnisses sowie als Spezifikation davon, zweitens das Bauernhaus. Aus diesen beiden, in Wien 1873 erstmals gezeigten Gebäudegruppen erwuchs für die französische Weltausstellung 1889 in Paris die von dem Architekten Charles Garnier entwickelte Präsentation einer »Habitation humaine«. Sie sollte, wie Jacob von Falke, Direktor des Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, schreibt, »den Fortschritt der Cultur auf einem ihrer wichtigsten und lehrreichsten Gebiete«, der menschlichen Wohnung, zeigen.14

Einführung 11 q suisse« zu beliebten »follies« in den Landschaftsparks der Jahrzehnte um 1800 geworden.20 Diesem Interesse fügte die dynamische Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert einen neuen Akzent hinzu: den des Verlusts. Alois Riegl sah in seinem Buch über den »Hausfleiß« (1894) die familiale, im Verschwinden begriffene Wirtschaftsweise als Grundlage für die zum Sammel- und Ausstellungsobjekt werdende »Volkskunst«.21 Dasselbe galt für die traditionelle ländliche Architektur, die auf die neuen Produktionsweisen reagierte. Wie ambivalent die Anstrengungen und Strategien dominanter Kulturen gerade in der Hochphase der Welt- und Landesausstellungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren, sich durch dieses Medium die Kultur aus Peripherien anzueignen, hat insbesondere die postkolonial orientierte Forschung der jüngeren Zeit untersucht.22 Vernakuläre Architektur, die den Beispielen im vorliegenden Buch zugrunde liegt, fand im Zusammenhang mit dem exzessiven Ausstellungsbetrieb der Jahrzehnte um 1900 vor allemdeshalb ein vitales Interesse, weil neu auf den Plan tretende Akteure hier dieMöglichkeit sahen, auf bis dahin nicht kanonisierte Bauten hinzuweisen. Was aber heißt »vernakulär«? Etymologisch verweist die Bezeichnung auf verna, die im Haushalt ihres Herrn geborenen Kinder von Sklaven. »To vernaculize used to be a verb for adapting to or making someone adapt to the specifity of a region, to make the person feel at home [Hervorhebung wie im Original, Anm. d. Verf.].«23 Die Architekturforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten diese Bindung an den Ort auf solche Bauten bezogen, die in irgendeiner Weise nicht zum universell angelegten Kanon der Kunstwissenschaft gehörten: einfache, nicht über die klassischen Ordnungen verfügende Bauten sowie regionale Architektur.24 Im Gründungsakt der Architektur- und Kunstgeschichte waren solche Bauten ausgeschlossen worden: »[. . .] dass sich [. . .] speziell auch die Architektur, im Kielwasser von Kunstwissenschaft und Ästhetik in einem ungeheuren Akt der Verdrängung, also gegen einen Großteil der Kulturproduktion konstituiert hat (und zwar basierend auf einem Prozess der Wiederaneignung jener historischen, bis in die Antike zurückreichenden europäischen Hochkulturen [. . .] [Hervorhebung wie im Original, Anm. d. Verf.]«.25 Die Disziplin der Kunstgeschichte war also selbst an der Produktion einer als »vernakulär« verstandenen Architektur beteiligt. Deren Erforschung markiert den heutigen Versuchmehrerer kulturwissenschaftlicher Disziplinen, auf dem Hintergrund dieses Wissens nichtkanonisierte Bauten in die Analyse aufzunehmen. Die Kategorisierung »vernakulär« eignet sich für die hier vorgestellten Architekturdörfer, weil genau an diesen Beispielen ein solcher Vorgang historisch greifbar wird. Die fünf Exempla des Buches zeigen, dass die hier präsentierten Bauten aus einem Impuls des Gegensteuerns heraus inszeniert wurden. Zu verstehen ist dies als eine Reaktion, die sowohl gegen die damals aktuelle Architekturproduktion als auch gegen die junge Kunstgeschichtsschreibung gerichtet war.26 DieMotivation, die neben das tradierteMoment der Romantik oder die aus modernen Lebensweisen geborene Folklore trat, war die einer Sachforschung: Sie versuchte, solche Objekte in den Kanon einzugliedern. Die Dynamik der Ausstellungen schien den neuen Akteuren genau das richtige Medium, einen derartigen Kanonisierungsprozess zu initiieren. 3 Architektur aus dem sozialen Gebrauch heraus: der Paradigmenwechsel im späten 19. Jahrhundert Um sich diesem Prozess zu stellen, hilft folgende Frage weiter: Wie konnte es dazu kommen, dass Architektur als eine ortsfeste, immobile Gattung zum beweglichen Ausstellungsobjekt wurde? Die Gründe hierfür finden sich nicht nur in der Dynamik vonWelt- und Landesausstellungen, sondern auch in einer grundlegend neuen Auffassung über die Herkunft von Kunst, die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildete. Dieses neue Verständnis von künstlerischer Produktion hatte seinen Ausgangspunkt in der bereits zuvor gestellten Frage: Wann und wo begann, menschheitsgeschichtlich gesehen, die Kunst? Die Antwort lag für die frühe Kunstgeschichte in einer angenommenen basalen Zäsur, wonach ein als kindlich bezeichneter Schmucktrieb zugunsten der zunehmenden Suche des Menschen nach Transzendenz verschwunden sei. Franz Kugler, einer der ersten Kunsthistoriografen des 19. Jahrhunderts, identifizierte die Entstehung von Kunst mit demBeginn von Kultbauten. Er setzte im »Handbuch der Kunstgeschichte« (1842) die Hinwendung zu einer Gottheit als den zivilisationsgeschichtlichen Zeitpunkt an, an welchemsichKunst herausbildet: »Dann kommt die Stunde, dass dem Menschen die geistigen Mächte des Lebens kund werden. Die Gottheit offenbart sich ihm, [. . .]. Das Ausserordentliche ist in das Leben des Menschen getreten: – er bereitet demGedächtnisse desselben, damit es bleibe, an der Stätte seiner Erscheinung ein festes Mal,

Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt CORNELIA JÖCHNER

Der aus Anlass der italienischen Landesausstellung 1884 entstandene Plan (Abb. 1) zeigt Turin als eine betont moderne Stadt: Durch rote Linien markiert, demonstriert die Karte, dass der gesamte historische Kern durch eine Straßenbahn erschlossenwird. Die amsüdlichen Po-Ufer stattfindende, ebenfalls rot hervorgehobene »Esposizione Generale Italiana« ist als ein Teil der Stadt erkennbar, deren tradierte Gitterstruktur hier lediglich unterbrochen wird. Das Ausstellungsgelände selbst (Abb. 2) scheint indes unterschiedliche Zeiten in sich zu vereinen: im oberen, ebenen und axial organisierten Bereich die kommerziellen Pavillons; in der unteren, hügeligen Zone am Fluss die »Sezione Storia dell’Arte«. Diese beinhaltete nicht nur ein »Castello Medievale«, sondern darüber hinaus 17 piemontesische Bauten des 14., vor allem 15. Jahrhunderts in Form eines »Villaggio«.1 1 Hauptstadtfrage, Wirtschaftspolitik und die erste allgemeine Landesausstellung Italiens Durch die 1871 vollzogene nationale Einigung Italiens unter Führung des Savoyerhauses war die 1860 bis 1864 an Turin gegangene Hauptstadtfunktion nach Romübergewechselt. Das in Turin seit 1563 ansässige Herrschergeschlecht der Savoyer, das 1720 die Territorien von Piemont und Sardinien zum Königreich Sardinien zusammengefasst hatte, stellte die Könige der als konstitutionelle Monarchie gebildeten italienischen Nation. Die Fixierung einer Hauptstadt für die neue Einheit war wegen der historischen Bedeutung der Städte und Regionen Italiens sowie aufgrund von deren unterschiedlicher Rolle imEinigungsprozess äußerst diffizil. Dieser Wechsel, zunächst Turin, dann Florenz (Hauptstadt: 1865– 1871), bis schließlich die Kapitale in Rometabliert wurde, zeigt die komplizierte politische Situation des italienischen nation building. Mit Rom als endgültiger Hauptstadt drohte die im äußersten Nordwesten Italiens gelegene Stadt Turin ihre zwischenzeitlich erlangte übergeordnete politische Geltung zu verlieren.2 In Anbetracht der Tatsache, dass im Turiner Palazzo Carignano von 1861 bis 1864 das nationale Parlament getagt hatte,3 schien es umso bedeutsamer, dass in dieser Stadt die erste Landesausstellung des geeinten Italiens stattfand.4 Der Ort der »Esposizione« im Gelände des Castello Valentino (Abb. 2: rechte Seite), einemehemaligen Lustschloss der Regentin Maria Cristina (erbaut ab 1630), erscheint wie eine verräumlichte Kontinuität der an das Savoyerhaus geknüpften Geschichte der Stadt.5 Nachdemdas Castello Valentino seit der napoleonischen Besetzung verschiedenen, darunter auch militärischen Zwecken gedient hatte, war der Garten nach demVorbild Abb. 1 [Anonym.], Plan der »Esposizione Generale Italiana in Torino 1884« und der Stadt Turin. Città di Torino (Museo Torino) – Biblioteca civica Centrale, Cartografico 8/10.13, Foto: © Biblioteche civiche torinesi.

q 20 Cornelia Jöchner des Pariser Bois de Bologne durch den französischen Landschaftsgestalter Jean Pierre Barillet-Deschamps in den frühen 1860er Jahren zu einem öffentlichen Park umgestaltet worden.6 Das Gelände der 1884er Ausstellung wurde durch einen von Pavillons flankierten Haupteingang erschlossen, der an den Corso d’Azeglio anschloss und rechtwinklig vor demVorhof des Castello Valentino in Richtung Süden abzweigte. Von hier führte eine für die Ausstellungsdispositionen des 19. Jahrhunderts typische Hauptachse durch das unregelmäßige Längsrechteck des Areals. Noch bevor man diese betrat, wurden Besucherinnen und Besucher am »Padiglione del Risorgimento Italiano« vorbeigeführt, der Dokumente zur Geschichte der nationalen Einigung von 1820 bis 1870 zeigte.7 Der obere Teil mit seinen Pavillons war durch eine »Themenarchitektur« gekennzeichnet, bei welcher der gewählte Stil den jeweiligen Zweck angeben sollte.8 Diese Pavillons waren – mit Ausnahme der Eisenkonstruktion der »Galleria del lavoro« – aus leichten Holz- und Gipskonstruktionen errichtet.9 ImGegensatz zu dieser typischen Ausstellungsarchitektur und dem Stileklektizismus der Pavillons stand der Borgo mit seiner massiven Bauweise und dem Fokus auf der spätmittelalterlichen Baukultur im Piemont. Doch bedeutete das keine universale, modulare Architektur wie die historistischenWohnblöcke von Carlo Promis imTurin der Jahrhundertmitte.10 Vielmehr ging es beim Borgo um ortsbezogene Repräsentationen konkreter Bauten vorwiegend des 15. Jahrhunderts, und zwar aus entlegenen Gebieten des Territoriums. 1.1 Die »Esposizione Generale Italiana in Torino 1884« Die Turiner Landesausstellung sollte den jungen italienischenNationalstaat darin stärken, diemassivenwirtschaftlichen Probleme zu bewältigen.11 Dabei stellte die »Galleria del lavoro«, nach demVorbild der »Galerie des Machines« bei der Pariser Weltausstellung 1878 als Eisenkonstruktion errichtet, nicht nur ein wichtiges architektonisches Gelenk dar. Hier dominierte die norditalienische Textilproduktion, die sich in einem protoindustriellen Zustand befand. Der Weg führte zunächst Abb. 2 Camillo Riccio, Plan der »Esposizione Generale Italiana in Torino 1884«, 1882. Links unten der Borgo Medievale. Nr. 114 im Plan: Das abessinische »Dorf Assab« (aus Esposizione Generale Italiana in Torino 1884 [. . .], Torino 1884).

Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 21 q durch den Bereich der vom Staat besonders geförderten keramischen Produktion.12 Als innovativ, auch gegenüber der ersten Industrieausstellung 1881 in Mailand, präsentierte sich die Elektrotechnik, insbesondere die Beleuchtungstechnik, die von internationalen Ausstellern beherrscht war.13 Im Bereich der telegrafischen Kommunikation waren vor allem italienische Firmen wie Pirelli präsent.14 Die Eisenbahn konnte als zukunftsträchtiger Industriezweig für das durch eine schwache Infrastruktur gekennzeichnete Italien präsentiert werden. Das Piemont nahmhier eine avancierte Rolle ein, da es seit 1871 durch den zwölf Kilometer langen Tunnel unter dem Mont Cenis mit Frankreich verbunden war. Der Bau eigener Eisenbahnen stand in Italien vor allemdurch englische Konkurrenz unter Druck, weshalb es 1884 von großer Bedeutung war, wenn mit der Lokomotive »Vittorio Emanuele« ein eigenes Produkt gezeigt werden konnte.15 Eine Besonderheit der Turiner Ausstellung war, dass sie nicht auf die Sphäre der Produktion beschränkt blieb. Vielmehr sollten, wie Minister Grimaldi bei der Eröffnung der Ausstellung ausführte, alle Bereiche der Arbeit dargestellt sein, auch die öffentliche Verwaltung oder das Gesundheitswesen. So präsentierten sich die Kommune der Stadt Turin, verschiedene Ministerien oder – vielbeachtet – die Arbeitervereinigungen.16 Im Fokus stand das gesamte soziale Leben und seine Rahmensetzung durch den jungen Nationalstaat. Dies wies voraus in Richtung der Pariser Weltausstellung von 1889, die ein »Musée social« errichtete.17 1.2 Kulturelle Herausforderungen der industriellen Produktion Der Begriff »industriell« wurde in der Epoche der Weltausstellungen umfassender als im heutigen Sinn verstanden – eher nach Diderots »Encyclopédie«, wonach dies alle menschlichen Tätigkeiten meint.18 Ein solch umfassendes, anthropologisch grundiertes Verständnis von »Herstellen« erklärt nicht nur das weite Spektrum ausgestellter Waren, sondern auch die Tatsache, warum im Rahmen von Welt- und Landesausstellungen die Architektur eine so wichtige Rolle spielte: Sie galt als Teil der menschlichen Kulturtätigkeiten. Die weite Aufgabenstellung der »Esposizione Generale« von 1884 verwies auf ein übergreifendes kulturelles Problem der Industriegesellschaften, das Gottfried Semper in seinemAufsatz »Wissenschaft, Industrie und Kunst« nach dem Besuch der Londoner Ausstellung (1851) und später in seiner zweibändigen Schrift »Der Stil« (1860/63) beschrieb: Die industriell möglich gewordene Produktion von Gütern war nicht durch eine »Verhüllung der structiven Theile«, also ein Ornament, zu bewältigen. Vielmehr verlange die Industrialisierung nach neuen Typen, die den durch sie offenkundig gewordenen Zwiespalt zwischen ornamentierter Kunst- und konstruktiver Kernform wieder schlossen.19 Diese Suche nach zweckgerichteten Typen konnte demnach nur eine umfassende Bildung des Geschmacks gewährleisten, die Kunstgewerbeschulen und Museen durch eine breite Wirkung in die Öffentlichkeit tragen sollten. In Italien ging diese Reformbewegungmit der Gründung von fünf regionalen Schulen (1876–1882) der angewandten Künste einher (Venedig, Neapel, Mailand, Palermo, Florenz), teilweise begleitet von Museen.20 Zwei der ersten musealen Einrichtungen dieser Art waren in Turin das »Museo Civico« (1860) und das »Regio Museo Industriale Italiano« (1862).21 Das 1859 in Florenz eröffnete »Museo Nazionale del Bargello«, nach dem Vorbild des Londoner South Kensington Museum eingerichtet, nahmzumindest teilweise die Funktion eines Nationalmuseums wahr. Jedoch sollte, laut einer 1884 geführten Diskussion, jede Stadt, welche die Einrichtung eines solchen Museums für ihre gewerbliche Entwicklung förderlich hielt, dieses errichten können.22 Das Konzept der »Esposizione Generale Italiana in Turin 1884« war daher sowohl edukativ auf die Förderung des »buon gusto« als auch auf die Erweckung von »Schaulust« ausgerichtet.23 Unter dem Druck der industriellen Produktion war Architektur besonders hinsichtlich des Zusammenhangs von Konstruktion und künstlerischer Gestaltung interessant. Die damit aufgeworfenen Fragen zu ihrer Nutzung, ihremZweck, hatte Gottfried Semper erstmals zivilisationshistorisch untersucht und dabei Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Gattungen festgestellt.24 Im Borgo Medievale waren die neuen kulturellen Herausforderungen nicht nur anhand des Interesses an Konstruktion, Materialität und Techniken der bis dahin unbekannten, spätmittelalterlichen Architektur greifbar. Kapitel 5.2 wird zeigen, dass er die im Piemont des 15. Jahrhunderts verbreiteten Portikusbauten als architektonische Bedingung einer mit dem Wohnhaus verbundenen Produktionsweise veranschaulichte. Um dies darzustellen, nutzten die Konzeptionisten geschickt die neuen Schnittstellen von kunstwissenschaftlicher Forschung und Ausstellungswesen.

q 22 Cornelia Jöchner 1.3 Museo di paragone vs. Borgo Medievale »Schizzi imaginati« nannte der Künstler, Restaurator und Denkmalpfleger Alfredo d’Andrade die Zeichnung (Abb. 3), die er laut der dort eigenhändig angebrachten Notiz während eines Mittagessens am 8. Mai 1882 anfertigte.25 Mit dieser Imagination gelang es ihm, die Kommission der »Sezione Storia dell’Arte« davon zu überzeugen, dass für die italienische Landesausstellung in Turin 1884 ein »Borgo Medievale« zu errichten wäre. Die Skizze enthält noch keinerlei Hinweise auf einen konkreten Ort, weist jedoch bereits wesentliche Elemente der späteren Ausführung auf: Das zweipolige Ensemble, eingeschlossen durch eine Befestigungsmauer, besteht aus einem Castello am oberen Ende, dem eine kleine Anordnung mit Kirche und öffentlichen Gebäuden zugeordnet ist. Doch war dies nicht der chronologische Anfang der »Sezione Storia dell’Arte«. Vier Monate vor dem Auftreten d’Andrades in der Kommission waren völlig andere Ansätze für eine derartige Ausstellung im Gespräch. Diese Zusammenkünfte (»sedunanze«) im Palazzo Carignano waren geprägt von kontroversen Diskussionen zu divergierenden Konzepten. In die eine oder andere Richtung wurden Argumente ausgetauscht, die zur Findung der endgültigen Idee beitrugen und insofern zur Baugeschichte des Borgo gehören.26 Ex negativo beleuchten die zwischen Mitte Januar und Anfang Mai 1882 geführten Diskussionen, was schließlich das spätere Konzept ausmachen sollte. Die im Entstehen begriffenen Ideen wurden dem Präsidenten der Esposizione, Luigi Rocca, vorgestellt, doch war die Kommission der »Sezione Storia dell’Arte« gegenüber der allgemeinen Ausstellung autonom.27 Ihr personeller Kern bestand aus Francesco Gamba (Direktor der Pinacoteca Sabauda), dem Intendanten des Teatro Regio, Augusto Ferri, dem Antiquar Francesco Ianetti, dem Maler Conte Federico Pastoris sowie den Adligen Ferdinando Scarampi di Villanova und Ottavio Balbi. Hinzu kamen weitere Gelehrte, Architekten, Künstler sowie Freiberufler – kennerschaftliche, oft kaum durch feste Berufsprofile geprägt, wie sie für das späte 19. Jahrhundert typischwaren.28 In der ersten Sitzung des Komitees vom 17. Januar 1882 war der Gedanke aufgekommen, eine Gruppe von Gebäuden zu präsentieren, welche die stilistische Entwicklung vom Rundbogen in der Lombardei bis hin zu einigen der besten Bauten Palladios zeigen sollte. Diese Chronologie sollte Objekte und Fragmente in Kopie präsentieren, ergänzt durch Originalzeichnungen, Abgüsse, fotografische Reproduktionen und Publikationen der entsprechenden Epochen. Wie bei früheren Ausstellungen in Florenz (1861) und Mailand (1881) sollte auch diese Architekturschau die zeitgenössische Geschmacksbildung anregen.29 Dieses konventionelle Programm stieß auf Ablehnung.30 Statt des weiten Spektrums, so der Vorschlag des Malers und Sammlers Vittorio Avondo, solle man sich auf piemontesische Schlösser beschränken. Die Kommission lehnte einen solchen Fokus als zu begrenzt ab. Damit aber war ein Keim für das spätere, qualitativ andere Konzept d’Andrades gelegt. Es gehört zu den Wendungen der Geschichte des Borgo, wie nun zunächst ein völlig gegenteiliges »Programma« entwickelt wurde. Und zwar in Form eines »Museo di paragone«, welches die Genese der dekorativen Künste Italiens vom 11. bis 17. Jahrhundert durchNachbauten (»colla costruzione di diversi corpi di fabbricato collegati insieme«) verdeutlichen sollte.31 Auch dies war als »collezione didattica« geplant, wobei bedeutende Objekte vom 11. bis zum 19. Jahrhundert in chronologischer Ordnung gezeigt werden sollten. Wäre die Kommission dem ersten Konzept gefolgt, hätte sie die internationale Kritik an bisherigen Weltausstellungen ignoriert. Denn die Praxis, bekannte Bauten einer Nation als ikonografische Reihe auszustellen, war bereits unter Beschuss geraten. Diese Art von Architekturpräsentation durch schematisch reproduzierte Monumente war bereits bei der Pariser Weltausstellung 1878 als kulissenhaft bezeichnet worden.32 Ob Alfredo d’Andrade derartige Kritiken kannte, als er seine alternative, durch Zeichnungen visualisierte »idea« einbrachte, ist unklar. Fest steht, dass dieser wichtigste Akteur der Turiner »Sezione Storia dell’Arte« als junger Mann die Weltausstellung in Paris 1855 besucht hatte.33 Allerdings ließe sich sein Vorschlag für die Turiner »Esposizione Generale Italiana« auch nicht allein auf die Kritik zurückführen, die es an den genannten Fassadenreihen gab. Sein Konzept beruhte auf vielfältigen professionellen Tätigkeiten in einem sich festigenden kulturellen Netzwerk, in welchem er durch seinen Vorschlag zu einer Art »Sprecher« wurde.34 D’Andrade warb für ein »concetto che si restringe ad una sola epoca ed una regione« und damit eine Konzentration auf die spätmittelalterliche piemontesische Architektur und Kunst.35 Ein imaginärer befestigter »Borgo« (dt.: Flecken, Ort, Dorf, Weiler) sollte bislang unbekannte Bauten dieser Region präsentieren. Als Gegen-

Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 23 q über von Burg (»rocca«) und Dorf (»villaggio«) konzipiert (Abb. 3), ging es insgesamt um Wohnarchitektur des späten 14., insbesondere des 15. Jahrhunderts. Das Ensemble eines »Castello forte dominante un gruppo di abitazioni« sollte die »vita sociale ed artistica di quell’ epoca« fokussieren.36 Der Anspruch, dass die Region Piemont eine eigene Epoche repräsentiere, bedeutete methodisch die Übernahme des kunsthistorischen Stilmodells, das für die italienische Architektur längst definiert war. Frühestes Beispiel für eine Stilgeschichte der mittelalterlichen Baukunst Italiens war das von Séroux d’Agincourt erstellte Tafelwerk »Histoire de l’Art par lesmonuments« (1810–1823), das erstmals eine chronologische sowie typologische Betrachtungsebene präsentiert hatte.37 Im Unterschied zu solchen Tableaus versprach das Konzept D’Andrades eine Wiedergabe der Architektur in ihrer ganzen Räumlichkeit und Materialität, belegt durch Forschungsliteratur sowie schriftliche Quellen. Diese neuartige »autenticità« von Architektur meinte deren Funktionsweisen in der »vita sociale«.38 Die Kommission bewilligte dies; auch die im Laufe der Diskussionenmit einemeigenen Vorschlag unterlegenen Mitglieder Riccardo Brayda und Alfonso Dalbesio stimmten zu. Der Ingenieur Brayda, Übersetzer eines der frühen deutschsprachigen stilgeschichtlichen Handbücher,39 wurde künftig der wichtigsteMitstreiter von D’Andrade. Abb. 3 Alfredo d’Andrade, Erster Entwurf des Borgo Medievale, 8. Mai 1882 (»Mia prima idea del castello e villaggio medioevali di Torino nel 1884 [. . .], vgl. Anm. 25) Torino, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Gabinetto Disegni e Stampe, fondo de Andrade (fl/10230, LT 2057), Foto: © foto Studio Fotografico Gonella (2005).

q 24 Cornelia Jöchner Abb. 5 [Anonym.], Turin. Der Borgo Medievale, gesehen vom gegenüberliegenden Flussufer. Torino, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Gabinetto Disegni e Stampe, fondo de Andrade (inv. fot/1845 [F 111]), Foto: © foto Studio Fotografico Gonella (2021). Abb. 4 Adolfo Frizzi, Plan des Borgo Medievale, mit Beschriftung der einzelnen Gebäude (aus Ders.: Borgo e Castello Medioevali in Torino. Torino 1894).

Der Borgo Medievale in Turin: »Dorf« einer werdenden modernen Stadt 25 q 2 Kunstwissenschaft im konkurrierenden Geflecht von Region/Nation 2.1 Die Inszenierung des Borgo: ein städtebaulich geprägter Wahrnehmungsraum Durch das seit den frühen 1860er Jahren im Stil des Landschaftsgartens gestaltete Areal des Parco Valentino führte ein großzügig gestalteter Außenweg (Belt-walk) in Richtung Süden (Abb. 2).40 Sowohl mit Hilfe des Weges als auch durch die zum Ufer des Flusses Po abfallende Topografie separierte sich der Borgo deutlich vom oberen, kommerziellen Bereich. In diesen hinein ragt die Vierflügelanlage des Kastells mit einemmassiven Vierkantturm. Der Rundturm des Kastells wendet sich dagegen nach Süden zumPo hin. Längs des Flusses erstreckt sich die Hauptansicht des Borgo von außen (Abb. 4, 5). Die Architekturen stehen nicht frontal, sondern sind in zwei Schichten zum Ufer hin organisiert (Abb. 4). Diese Nutzung der Topografie lässt das architektonische Ensemble als gleichsam »naturwüchsig« erscheinen. Die Einbeziehung des Wassers diente – wie bei der historischen Hauptgruppe auf der Millenniumsausstellung in Budapest (1896) und beimFreilichtmuseumSeurasaari in Helsinki (1909) – als Mittel zur Distanzierung des Borgo Medievale: »quell’ampia gaiezza della natura«, wie es in der Besprechung Camillo Boitos zum Borgo heißt.41 Der räumliche Entzug, der Blick aus der Ferne, sollte zugleich den zeitlichen Abstand des Ensembles, hier des Quattrocento, zur Gegenwart vermitteln.42 D’Andrades Konzept schreibt dem Architekturprospekt am Fluss eine doppelte Wirkung zu: Wer über den Fluss hinweg von außen auf den Borgo blicke, erhalte einenmalerischen Anblick. Umgekehrt könne derjenige, der vom Inneren der Ausstellung auf den Fluss schaue, den hinreißenden Ausblick ganz erfassen.43 Dieses inszenierte Architekturbild entsprach der italienischen Urbanistik des 19. Jahrhunderts, in der das Panorama als eine besondere Art von Stadtansicht von außen vor allem in Verbindungmit demWasser neu entdeckt wurde.44 Dabei spielte die Aufhebung der frühneuzeitlichen Fortifikationen eine wichtige Rolle, da sie – wie in Turin mit dem Ensemble Piazza Vittorio Emanuele und der Kirche GranMadre di Dio – zu neuen, bildhaften Architekturensembles geführt hatte.45 Der BorgoMedievale gestaltete eine künstlicheWelt, die aufgrund ihres Ausstellungs- und didaktischen Charakters eine Architektur zweiter Ordnung bildete.46 Den Konzeptionisten war dies bewusst; sie sprachen nicht vom Nutzer oder Bewohner, sondern vom »pubblico«, »visitatore« sowie von den Augen des Betrachters (»gli occhi dell’osservatore«).47 Einer Sammlung oder einem Museumvergleichbar, schuf der Borgo eine Stätte der zur Schau gestellten Exponate. Doch wurden hier keine Originale ausgestellt, sondern die Kunst im Piemont des 15. Jahrhunderts sollte durch Nachbauten von Architekturen veranschaulicht werden. Eine Analyse des Borgo muss daher klären, welche Momente der Nachbildung benutzt wurden, umdie gewünschten Repräsentationen herzustellen. Da das Borgo-Konzept der Wahrnehmung des Betrachters/des Publikums einen hohen Anteil einräumt, erscheint es methodisch sinnvoll, die Dramaturgie dieser Inszenierung zu verfolgen. Damit verbinden sich zwei Ziele: Im Sinne des »nachgebauten Artefakts« zeigt sich die Konstruiertheit des Borgo, sprich: die Architektur als zweite Ordnung. Dennoch aber besaß diese Architektur durch die starke Ansprache des Betrachters eine hohe Performanz,48 die nicht nur auf historisches Wissen abzielte, sondern sogar Eingriffsmöglichkeiten für die eigene Gegenwart versprach. Die Tatsache der Inszenierung zeigt sich besonders anhand der »veduta«, der Ansicht des Borgo zum Fluss, die kontrastiv gesetzte, bauliche Massen kennzeichnen (Abb. 5). Gleich vom Tor her bilden die Türme markante Höhenlinien. Mit der »Ästhetik des Performativen« gesprochen, vollzieht sich ein »Umspringen« der Wahrnehmung des Zuschauers, da die sich nach oben verbreiternde Torre d’Alba das Dahinter, die zweite räumliche Schicht des Borgo, signalisiert.49 Schon aber schieben sich amFluss zwei versetzt zueinander gestellte Fronten in den Blick: die Casa di Malgràmit Durchgang sowie die Casa di Borgofranco, erstere in Backstein undmit farbig gefassten, spätgotischen Fenstern, die zweite als ausgemauerte Fachwerkkonstruktion. Vertikal setzt die nach hinten gerückte, auf einem polygonalen Unterbau errichtete Torre d’Avigliana ein, welche die Höhenlinie der Türme der Stadtmauer sowie der Torre d’Alba fortführt. Diese wiederholte Vertikalität verlangsamt den Vorgang des Betrachtens (Fischer-Lichte: »slow motion«)50 und ermöglicht Assoziationen zu existierenden oder dargestellten Ortsbildern. Zugleich zeichnet sich der Borgo durch eine starke Binnenorientierung aus. Dies gewährleistete in erster

Das Eigene im Bau: Museale Auseinandersetzungen mit dem architektonischen Erbe Ungarns auf der Millenniumsausstellung in Budapest (1896) GÁSPÁR SALAMON

1 Das Eigene und die Nation: Verschränkungen und Abweichungen 1.1 Von Turin nach Budapest: Architekturdorf als transnationale Verflechtungszone Als eine Offenbarungserfahrung beschrieb der ungarische Architekt Ignác Alpár (1855–1928) seinen imHerbst 1893 erfolgten Besuch im Turiner Borgo Medievale: »Einen außerordentlichen Eindruck hat die Besichtigung dieser Ausstellung auf mich gemacht, denn ich fand darin den Leitgedanken, auf den ich mich beziehen konnte.«1 Der Grund dafür, dass der ungarische Architekt in Budapest kurzerhand in einen Schnellzug einstieg, umzumehemaligen Turiner Ausstellungsgelände zu pilgern, war eine spezielle Bauaufgabe, die ihn zu dieser Zeit intensiv beschäftigte: Alpár arbeitete gerade an den Entwürfen für einen Baukomplex, der imRahmen der künftigen »Millenniums-Landesausstellung« von 1896 in Budapest für die historische Ausstellungssektion vorgesehen war. Den Architekten faszinierten die dem Borgo inhärente schöpferische Innovation und intellektuelle Qualität, wodurch – trotz der Holzkonstruktionen im hinteren Trakt der nachgebauten Wohnhäuser – jede Kulissenhaftigkeit des Ensembles vermieden worden sei. Wie Alpár pointiert, lag der eigenartige Effekt des Borgo darin, dass »die gemauerten Turiner Fassaden anhand von Vorstudien auf eine außerordentlich subtileWeisemiteinander in Einklang gebracht worden waren«.2 Die Lehre, welche der ungarische Architekt aus der Turiner Exkursion gezogen hatte und in seinemBudapester Architekturdorf daraufhin umsetzte, trifft eine der zentralen Fragestellungen des vorliegenden Bandes: Alpár problematisiert konzeptionelle Grundsätze und gestalterische Praktiken, mit derenHilfe Architektur im musealen Kontext über sich selbst sprach. 1.2 Das Eigene konstruieren Nährboden für solche selbstreferenziellen Bauensembles war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts virulente Ausstellungskonjunktur. Als Antrieb für das Zustandekommen jener architektonischen Ausstellungsgattung lässt sich, wie zahlreiche Studien zeigen, die Konstituierung kultureller Differenz durch Architektur an Universalausstellungen bereits mit der »Exposition Universelle« 1867 in Paris identifizieren.3 Sichtbar gemacht wurde dabei die zivilisatorische Selbstidentifikation der industriell-ökonomischen Führungsmächte in Europa und Amerika im Verhältnis zu anderen Kulturen, die als peripher beziehungsweise als exotisch wahrgenommen wurden. Architektur erwies sich gemeinsam mit den entsprechenden Ausstattungen, Gebrauchs- und Kunstgegenständen als ideales Mittel, Kulturkontraste sinnstiftend und taktil zu repräsentieren. Eine kulturelle Differenzierung dieser Art kann als ein fortbestehendes Kernstück länderspezifisch gestalteter Architekturensembles gelten. Insbesondere im imperialistisch-kolonialistischen Setting der Weltausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa in der im Jahr 1878 in Paris angelegten »Rue des nations«, wurde kulturelle Alterität mit Hilfe von Baukomplexen geäußert. Jenseits der imperialistischen Globalperspektive förderte das Architekturdorf der Wiener Weltausstellung von 1873 zum ersten Mal lokalspezifische kulturelle Differenzierungs- und Distanzierungspraktiken zutage. Das Grundkonzept des Komplexes, nämlich die Bündelung unterschiedlicher regionaler Bautypen der multiethnischen Habsburgermonarchie in der Dorfanlage zusätzlich zu den internationalen Schaustücken, sollte nicht nur die ethnische Vielfalt des Reichs zelebrieren. Vielmehr gab es eine deutliche »binnenkolonialistische«4 Trennlinie zwischen der idealisierten Darstellung österreichischer vernakulärer Baukultur (ergänzt von derjenigen deutschsprachiger ethnischer Gruppen) und den als rudimentär erklärten Bauernhäusern anderer Ethnien der Monarchie.5 Dass der Fokus der Differenzkonstruktion in Wien – am östlichsten Austragungsort einer europäischen Universalausstellung – neben dem kolonialen Exotismus auch ein aktuelles nationalpolitisches Anliegen des Gastgebers einschloss, war eine Reaktion auf die kaleidoskophaft zusammengesetzten Ethnien Ostmitteleuropas.6 Wie das frühe Beispiel des Wiener internationalen Dorfes ankündigte, wurden Ausstellungen und Ausstellungsarchitektur zum Instrument in den nationalpolitischen Reibungen in der Vielvölkerregion.7 Diesmachte sich amprägnantesten in den auf Landes- oder regionaler Ebene organisierten, allgemein oder thematisch ausgerichteten Weltausstellungsepigonen – etwa in Lemberg (1894),8 Prag (1895)9 und Budapest (1896) – bemerkbar, deren Dorfkomplexe eine generelle Hinwendung zur vernakulären Architektur aufwiesen. Hierbei wurde der autochtonen Kultur des jeweiligen Volkes (beziehungsweise der Völkergruppe) mit eigenstaatlichen Ambitionen eine politische Legitimationskraft zugeschrieben. Unter nationalpolitischemVorzeichen setzte sich imRahmen der Regional- und Landesausstellungen der Habsburgermonarchie zunehmend eine Praxis des Konstruierens kultureller Differenzmittels Architektur durch, die sich von den Architekturensembles der imperial-kolonialen Universalausstellungen deutlich un-

q 76 Gáspár Salamon terschied. Grob formuliert: Während bei den Letzteren die europäischen und amerikanischen Großmächte sich gemeinhin konträr zu anderen – als exotisch oder sogar in zivilisatorischer Hinsicht als rückständig angesehenen – Kulturen des »Fernen« identifizierten, rückte bei den Ersteren die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur des »Nahen« ins Zentrum.10 Vor diesem Hintergrund werden im vorliegenden Beitrag zwei Architekturensembles untersucht, die als Teil der anlässlich der Millenniumsfeierlichkeiten Ungarns (des Jubiläums der ungarischen Landnahme) im Jahr 1896 in Budapest veranstalteten »Ezredéves Országos Kiállítás« (Millenniums-Landesausstellung) errichtet worden sind. Baukultur wurde einerseits durch die auf dem Ausstellungsgelände zentral situierte »Történelmi Főcsoport« (Historische Hauptgruppe), einen montageartigen Komplex von Kopien nach historischen Referenzbauten, zumExpositionsobjekt gemacht (Abb. 1). Andererseits gab es das aus nachgebauten Bauernhäusern zusammengestellte »Néprajzi Falu« (Ethnografisches Dorf) als Beispiel dafür, wie Architektur selbstreferenziell im Ausstellungskontext repräsentiert werden kann (Abb. 2). Ausgehend von den zwei Architekturdörfern wird imFolgenden der Frage nachgegangen, wie das »Eigene« durch die Musealen Architekturdörfer der Budapester Millenniumsausstellung konstituiert wurde.11 Zu hinterfragen ist der Gestaltungsprozess, imZuge dessen die Übersetzung von vernakulären und historischen Bauwerken in kulturelle Identifikationsobjekte erfolgte. Hierbei lassen sich die Perzeption und Vermittlung des eigenen »architektonischen Erbes« (Choay), demsowohl ein »kognitiver Wert« als auch eine gewisse ästhetische Valenz innewohnt,12 durch die Architekturdörfer eruieren. So liegt das hauptsächliche Erkenntnisziel darin, »das Verhältnis zwischen Wissensproduktion und Inszenierungsstrategie« aufzufächern.13 Es wird in den folgenden Ausführungen argumentiert, dass die PerforAbb. 1 György Klösz, Ansicht der Historischen Hauptgruppe, 1896 (Budapest Főváros Levéltára, XV.19.d.1.01.019).

Das Eigene im Bau 77 q mierung des eigenen Architekturguts in den Dorfkomplexen über die primäre Durchsetzung der durch das Ausstellungsdispositiv diktierten nationalpolitischen Agenda weit hinausgeht und sich allen voran auf die Epistemik der sich zu jener Zeit herausbildenden Kulturdisziplinen – vor allem der Ethnografie und der Kunstgeschichte – zurückführen lässt. Die epistemischen Dispositionen zur vernakulären Architektur im Ostmitteleuropa der Jahrhundertwende subsumierte Ákos Moravánszky im weiteren kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext unter dem Begriff der »Entdeckung«.14 Hierbei wird die Hinwendung der Kunst- und Architekturschaffenden zur vernakulären Kultur am Beispiel der Internalisierung der Volkskunst in der künstlerischen Produktion und derer Verwurzelung in der Populärkultur dargelegt. Zweifelsohne lässt sich das Ethnografische Dorf der Millenniumsausstellung in die Tendenz der generellen Zuwendung zur bäuerlichen Kunst und Architektur imausgehenden 19. Jahrhundert eingliedern. Eine Spezifik stellt indessen, wie noch ergründet werden soll, die stark wissenschaftlich ausgerichtete Erfassung ländlicher Architektur dar. Dieser positivistischen Tradition der Erforschung bäuerlicher Bauweisen wird in der kunsthistorischen Forschungsliteratur bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt, umso mehr dafür der mythisch verklärten Entdeckung von Volkskunst und -architektur, die in der Baukunst, in den Bildkünsten, in der Literatur und in der Musik der frühen Moderne ihren Niederschlag fand.15 Dass auf der Millenniumsausstellung neben demEthnografischen Dorf eine Assemblage von historischen Baukopien zur Schau gestellt wurde, deutet ein über die Faszination für die vernakuläre Baukultur hinausreichendes Verständnis des Eigenen durch das Medium Architektur an. Die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts exponentiell steigende populärkulturelle Aufmerksamkeit für die historischen Bauwerke kulminierte imPrachtalbummit demTitel »Das tausendjährige Ungarn und die Abb. 2 György Klösz, Straße im Ethnografischen Dorf, 1896 (Budapest Főváros Levéltára, XV.19.d.1.09.029).

q 78 Gáspár Salamon Abb. 3 [Anonym.], Rathaus in Lőcse (heute Levoča, Slowakei) (aus: Das tausendjährige Ungarn und die Millenniums-Ausstellung. Sammlung von Photographien hervorragendster Gegenden, Städtebilder und Kunstschätze Ungarns sowie der Sehenswürdigkeiten der Ausstellung. Hg. v. Ernő Pivényi u. a. Budapest 1896). ausstellung von 1894 errichtete »Oud Antwerpen«19 oder eben die in der Budapester Millenniumsausstellung zu Unterhaltungszwecken eingerichtete »Ősbudavára« (AltBuda Burg). Im Unterschied zu diesen schematisch-historisierenden Ensembles findet die Historische Hauptgruppe angesichts des »archäologischen« Ansatzes in der Tat im Turiner Borgo Medievale ihre Parallele.20 Die Auseinandersetzungmit der eigenen Baukultur in der untersuchten wissenschaftlichen Konfiguration zeigt sich allen voran in der Durchsetzung musealer Praktiken bei den Architekturdörfern (Kap. 3). Die kampagnenartige Erschließung, die Inventarisierung und das Präsentieren des Architekturguts offenbaren kulturelle Ausdifferenzierungsprozesse, in denen wissenschaftliche Prinzipien eingesetzt wurden. Über diese praktischen Zusammenhänge der Musealisierung hinaus sind Elemente der wissenschaftlichen Wahrnehmungskultur von Interesse, welche die Hauptparameter bei der Konstituierung des Eigenen bestimmen. So widmet die vorliegende Studie der räumlichen Erfassung des Architekturerbes mittels kunst- und ethno-geografischer Methoden eine besondere Aufmerksamkeit (Kap. 4). Gleichermaßen gilt es, das Augenmerk auf die Handhabung zeitlicher Dimensionen im Konzept der Architekturdörfer zu richten, wobei der vorliegende BeiMillenniums-Ausstellung«.16 Im Fotoband, der den Anspruch einer flächendeckenden Topografie ungarischer Kultur verfolgte,17 waren neben Landschaftsdarstellungen und ethnografischen Fotografien eine Vielzahl malerisch komponierter Aufnahmen von historischen Bauten einbezogen. ImAlbum finden sich fotografische Reproduktionen von architekturgeschichtlich hochgeschätzten Bauwerken (Abb. 3). Burgen werden ebenfalls an mehreren Stellen dargestellt, was Reminiszenzen an den romantischen Ruinenkult aus der Vorzeit der systematischen Denkmalpflege wachruft (Abb. 4).18 Die Repräsentanten von historischer Architektur erlauben hierbei – komplementär zu anderen Kulturerzeugnissen der ländlichen Regionen und in Ergänzung zum Naturschatz des Landes – einen panorama-artigen Blick auf die ungarische Kulturlandschaft. Einen weniger figurativen als vielmehr analytischen Zugriff auf die historische Baukultur wies die Historische Hauptgruppe auf, wobei ihr Konzept wie ihre Inszenierung wesentlich auf dem Wissensvorrat und dem Methodeninstrumentarium der Kunstgeschichte und der denkmalpflegerischen Praxis fußten. Verwandt mit der Historischen Hauptgruppe erscheinen zwar die »alten« Miniaturstädte, etwa »Alt-Wien« auf der »Columbian Exposition« in Chicago (1893), das imRahmen der Antwerpener Welt-

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