Leseprobe

101  Abb. 72 Louis de Silvestre, August der Starke, Auschnitt, 1718, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Die Datierung der Büste ist nicht gesichert, und die Spannbreite der Vorschläge demonstriert die Unsicherheiten in Bezug auf eine Rekonstruktion der Chronologie von Heermanns Œuvre. Schon die ersten Erwähnungen beleuchten die Problematik, denn während Sponsel an eine Entstehung zwischen 1713 und 1716 dachte, schlug Sigismund vor, dass Heermann die Büste »kurz vor seinem Tod« gemeißelt habe.3 Seelig meinte, sie sei »um 1725« entstanden und Raumschüssel gab »nach 1728« als Datum an.4 Stephan wiederum betonte die große Ähnlichkeit der Büste mit dem 1718 datierten Staatsporträt Augusts des Starken von Louis de Silvestre (Abb. 72) und nahm daher an, dass sie zur selben Zeit anzusetzen sei,5 ein Vorschlag, dem Schmidt zustimmte.6 Woelk argumentierte, dass Silvestre in seinen anderen Porträts des Herrschers nicht dieselbe Intensität in der plastischen Durcharbeitung des Kopfes erreichte, weshalb davon auszugehen sei, dass sich der Maler an Heermanns Büste orientierte und diese also vor 1718 gemacht worden sein müsse.7 In der Tat ist die Ähnlichkeit zwischen Gemälde und Skulptur sehr groß. Darüber, wer sich hier an wem orientierte, kann jedoch nur spekuliert werden. Bedenkt man, dass Silvestre als Hofmaler sicherlich direkten Zugang zu seinem Modell hatte, während Heermanns Beziehung zum Hof in dieser Zeit völlig unklar ist, so erscheint es eher unwahrscheinlich, dass der Maler auf den Bildhauer angewiesen war. Vielmehr ist anzunehmen, dass Silvestres offizielles Porträt verbindlichen Charakter hatte und sich Heermann in Bezug auf Adjustierung und Positionierung daran orientieren musste. Dass ihm der Monarch selbst Porträt saß, erscheint aufgrund der Qualität der Büste naheliegend, kann aber nicht mit Sicherheit gesagt werden, da man im Grunde nicht weiß, ob es sich überhaupt um einen Auftrag des Hofes handelte. Die Büste stammt nämlich aus der Sammlung des Grafen Heinrich von Brühl (1700–1763), der unter August dem Starken seine grandiose Karriere begann und unter August III. als Premierminister zum mächtigsten Mann Sachsens aufstieg. Brühl kann allerdings kaum der Auftraggeber der Büste gewesen sein, da er erst gegen 1730 eine Position erreicht hatte,8 die ein solches Unterfangen angezeigt erscheinen lässt. Heermann wird die Büste also wohl doch im Auftrag Augusts des Starken geschaffen haben, auch wenn es keinerlei Dokumente dazu gibt. Der Anlass könnte die Hochzeit des Kurprinzen mit der österreichischen Kaisertochter Maria Josepha im September 1719 gewesen sein, für die im Dresdner Schloss eigens die prunkvollen Paraderäume eingerichtet wurden. Immerhin konnte der junge August der Starke bei seiner Kavalierstour von 1687 bis 1689 die Büste des französischen Königs Ludwig XIV. von Antoine Coysevox im großen Treppenhaus von Schloss Versailles bewundern, in der auch gestalterisch eine Anregung gesehen werden kann – dass sich August etwas Vergleichbares wünschte, ist also vorstellbar.9 Betrachtet man die Datierung von Silvestres Staatsporträt und die Tatsache, dass man das Schloss für die Hochzeit von 1719 prächtig ausstattete, so erscheint eine Datierung der Büste zu dieser Zeit tatsächlich angebracht. Da sich im Festsaal des Brühlschen Palais auch vier Gemälde von Silvestre, die August II., seinen Sohn, sowie deren Ehefrauen zeigten,10 befanden, könnte man überlegen, dass Heermanns Büste möglicherweise von August III. an seinen Premierminister geschenkt wurde und so in die Brühl’sche Sammlung gelangte. 1 Der Ankauf der Brühl’schen Skulpturensammlung erfolgte 1768. Siehe dazu näher Koch 2008, 19. Die Büste Augusts des Starken ist als Nachtrag im Inventar von 1765, Bl. 85, Nr. 62, verzeichnet. 2 Martin Raumschüssel in Dresden 1987, 32. 3 Sponsel 1906, 61; Sigismund 1923, 234. 4 Seelig 1977, 67; Martin Raumschüssel in Dresden 1987, 32. 5 Bärbel Stephan in Dresden 2001 a, 78, und in Warschau 1997, 283. 6 Schmidt 2005, 22. Das Gemälde mit der Gal.-Nr. 3943 ist auf der Rückseite bezeichnet: »Portrait de sa Majesté Le Roi de Pologne et Electeur de Saxe. Peint a Dresde par Silvestre 1718«. 7 Moritz Woelk in London 2003, 53. 8 Fellmann 2000, 49 f. 9 Siehe Claudia Kryza-Gersch in Koja/Kryza-Gersch 2020, 112. 10 Koch 2010, Bd. 1, 101.

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