Leseprobe

90 1 Paul Heermann Weigmannsdorf 1673–1732 Dresden Ruhende Venus Vor 1726 (um 1710?) Marmor; H. 18 cm, B. 84 cm, T. 28 cm Inv.-Nr. ZV 3607 Provenienz: Aus der Dresdner Kunstkammer; seit 1726 in der Skulpturensammlung nachweisbar.1 Literatur: Titze 2021, 85; Schmidt 2005, 29; Martin Raum- schüssel in Dresden 1992, 52, Kat.-Nr. 37; Martin Raumschüssel in Essen 1986, 68, Kat.-Nr. 33; Asche 1966, 115; Asche 1961, 132 f.; Degen 1936, 65, 69; Lipsius 1798, 102. Die Statuette zeigt eine langgliedrige, nackte Frau, die ausgestreckt auf einem knittrigen Laken liegt, während ihr Oberkörper und Haupt etwas erhöht auf einem dicken Kissen ruhen (Abb. 61). Auf den ersten Blick meint man, eine Schlafende vor sich zu haben; ihre Augen sind jedoch geöffnet, ebenso wie ihr Mund, aus dem ein Seufzer zu entweichen scheint (Abb. 62). Auch der leicht angehobene rechte Arm deutet darauf hin, dass die Dame wach ist, denn sie greift nach dem Zipfel des Lakens, das in ondulierenden Falten über ihre Scham gebreitet ist. Die Geste ist voller Grazie, lässt einen jedoch im Unklaren darüber, ob sie das Tuch soeben über den Schoß gebreitet hat oder dieses vielmehr gerade wegzieht. Durch die liegende Position in einem zerwühlten Bett wirkt ihre Nacktheit wesentlich erotischer als bei einer stehenden Figur, und man fühlt sich bei der Betrachtung fast ein wenig wie ein Voyeur. Wer ist die Schöne, die uns so unverhohlen an ihren Reizen teilhaben lässt? Hat sie uns bemerkt? Sie als Venus zu bezeichnen, mag ihren unbekleideten Zustand erklären, ihren leidenden Ausdruck findet man bei den seit der Renaissance vor allem in Gemälden beliebten Darstellungen der ruhenden Göttin jedoch nicht. Man ist eher versucht, nach einer Schlange zu suchen, denn als sterbende Cleopatra ergäbe der Ausdruck der Figur durchaus Sinn. Da sie, wie man aus dem Eintrag im Inventar der Dresdner Skulpturensammlung von 1728 erfährt, auf einem vergoldeten Tisch präsentiert wurde,2 muss der Eindruck einer feierlichen Aufbahrung noch stärker gewesen sein. In Ermangelung weiterer Hinweise kann man lediglich feststellen, dass es sich um ein typisches Kunstkammerstück handelt, und man darf wohl annehmen, dass es den Geschmack des sinnlichen Kurfürsten perfekt getroffen haben wird. Im Inventar von 1765 wird der liegende Akt als eine Schöpfung von Paul Heermann bezeichnet, was durchaus nachvollziehbar ist.3 Auffallend sind die Gestaltung des Kopfes mit einem feinen, ovalen Gesicht, das an hellenistische Venus-Statuen erinnert, und die Frisur, bei der zwei Strähnen am Kopf zu einer Schleife all’antica gebunden sind. Betrachtet man Heermanns andere weibliche Figuren, die viel vollere, gerundete Physiognomien haben, so kann man hier wohl von einem sehr bewussten Antikenzitat sprechen. Das Pathos der Ruhenden verweist hingegen auf Gian Lorenzo Berninis Seelige Ludovica Albertoni in der Cappella Altieri in San Francesco a Ripa in Rom (Abb. 63), von der der zurückgebogene Kopf und der geöffnete Mund ebenso Abb. 62 Paul Heermann, Ruhende Venus, Detail, um 1710 (?), Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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