Leseprobe

79 Für unsere Figurengruppe erscheint eine solche Interpretation jedoch nicht angezeigt, da die Frau Milch aus ihrer prallen Brust drückt, was in einem solchen Kontext schwer zu erklären wäre. So ist vielleicht anstatt an Chronos eher an Kronos zu denken, den Führer der Titanen, der seine eigenen Kinder fraß, um von ihnen nicht vomThron gestürzt zu werden, aber dennoch von seinem Sohn Zeus vertrieben wurde. Dieser Mythos vermischte sich mit der Vorstellung von der Zeit, die ihre Kinder verschlingt, und so verschmolzen Chronos und Kronos mitunter zu einer Figur.2 Bei den Römern wurde Kronos schließlich mit Saturn gleichgesetzt, dem Gott des Reichtums, der Feldfrüchte und des Ackerbaus, der im legendären Goldenen Zeitalter über ein paradiesisches Latium herrschte, wohin er nach seiner Entmachtung geflohen war.3 Deutet man den geflügelten Mann der Skulpturengruppe, der zwar alt, aber von kräftiger Statur ist, als Saturn, so wäre in der weiblichen Figur seine Gefährtin Ops zu sehen, die von den Römern als Göttin des Erntesegens und der Fruchtbarkeit verehrt wurde.4 Der Griff an die milchspendende Brust passt hervorragend zur Charakterisierung dieser vielschichtigen Gottheit, die auch als Personifikation der Natur galt und zum Schutz von Neugeborenen angerufen wurde.5 Da Saturn und Ops als Regenten des Goldenen Zeitalters betrachtet wurden, erscheint der an eine Herrscherapotheose erinnernde Aufbau der Skulpturengruppe durchaus angebracht, ebenso wie die beiden Lorbeerkränze. In der Gruppe eine Darstellung von Saturn und Ops zu sehen, wurde bereits von den Kunsthändlern vorgeschlagen, die die Skulptur 2017 zum Kauf anboten, und das scheint tatsächlich die zutreffende Interpretation zu sein.6 Die Marmorgruppe befand sich einstmals im Kommendehaus des Deutschen Ordens in Lucklum,7 dem Verwaltungssitz der Ordensprovinz Sachsen, wo sie sich in einem Inventar von 1809 nachweisen lässt.8 Nach der Auflösung des Ordens gelangte die Kommende in Privatbesitz und wurde zum Rittergut, was schließlich dazu führte, dass man zu Beginn des 21. Jahrhunderts die noch erhaltenen Kunstschätze verkaufte, wie etwa die historische Porträtsammlung des Rittersaals.9 2008 kam unsere Skulptur unter dem Titel Chronos und Venus beim Kunstauktionshaus Schloss Ahlden unter den Hammer.10 Dort wurde sie von einem belgischen Kunsthändler ersteigert, der sie an die Tomasso Brothers in London verkaufte, die die Skulptur erforschen ließen, bevor sie sie 2017 als Werk von Paul Heermann publizierten und auf der »European Fine Art Fair« in Maastricht präsentierten.11 Dass man den Schöpfer des Werkes unter den in Sachsen tätigen Barockbildhauern des frühen 18. Jahrhunderts suchte, erscheint aufgrund von Provenienz und Stil durchaus einleuchtend. Auch der Vorschlag des Auktionshauses, die Gruppe als »ein Werk aus dem Umkreis Balthasar Permosers« zu bezeichnen, ist keineswegs abwegig, erinnert sie doch in ihrem steilen Aufbau und ihrer festlichen Stimmung an die zwischen 1718 und 1721 entstandene Apotheose des Prinzen Eugen des sächsischen Hofbildhauers Balthasar Permoser (1651–1732). Ein Vergleich dieser Gruppe mit Saturn und Ops zeigt jedoch auch, dass der Bildhauer unseres Werkes ein Abb. 54 Antonio Corradini, Die Zeit enthüllt die Wahrheit, um 1720, Großer Garten, Dresden

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