Leseprobe

Der sächsische Barockbildhauer Paul Heermann Skulpturensammlung Dresden

Saturn und Ops von Paul Heermann wurde erworben mit Hilfe von Raffaello e.V. Freundeskreis der Skulpturensammlung

Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden Stephan Koja Claudia Kryza-Gersch Der sächsische Barockbildhauer Paul Heermann Skulpturensammlung Dresden

11 Im Dienste einer großen Tradition – Sammeln für Dresden Stephan Koja 16 Das bildhauerische Werk Paul Heermanns Mario Titze 58 Paul Heermann in Dresden – Facetten seines Schaffens Stefan Dürre 76 Saturn und Ops – eine Allegorie auf das Goldene Zeitalter von Paul Heermann Claudia Kryza-Gersch 90 Katalog Claudia Kryza-Gersch 117 Biografie 118 Bibliografie 124 Impressum Inhalt

Abb. 1 Paul Heermann, Saturn und Ops, nach 1715, Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

11 Im Dienste einer großen Tradition – Sammeln für Dresden Stephan Koja Es gehört zu den schönsten Aufgaben eines Museumsdirektors, die Bestände des eigenen Hauses durch bedeutende Erwerbungen zu erweitern. Bei alten Sammlungen mit einer langen und bedeutenden Geschichte, wie im Fall der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister oder der Skulpturensammlung, ist man dabei selbstverständlich dem besonderen Charakter des Vorhandenen verpflichtet. Eine sinnvolle Ankaufspolitik für eine solche Sammlung wird sich daher darauf konzentrieren, Verluste zu ersetzen und bestehende Stärken auszubauen. Handelt es sich bei dem Museum um eine Institution der öffentlichen Hand, erlauben die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel in der Regel keine großen Sprünge, vor allem, da gerade in Dresden die Qualität der Sammlung ein entsprechend hohes Preisniveau für würdige Neuerwerbungen mit sich bringt. Daraus folgt, dass viele potentielle Ankäufe Träume bleiben und man sehr genau abwägen muss, welches Ziel man verfolgen kann und soll. Die Verantwortung ist groß, nicht nur den Geldgebern gegenüber, sondern auch im Hinblick auf die historischen Gestalter der Sammlung. Dennoch, bei jeder Sammlungserweiterung kann nicht alles nur gezielte Planung sein, denn der schönste und noch so berechtigte Wunsch nützt wenig, wenn kein entsprechendes Objekt aufzutreiben ist. Wie in vielen anderen Bereichen spielt auch hier das Angebot – um nicht zu sagen, der Zufall – eine entscheidende Rolle. Es gibt Momente, in denen man einfach handeln muss, und ein solcher ergab sich 2018, als die prachtvolle Mars-Statuette von Giambologna, die der Künstler 1586 dem sächsischen Kurfürsten Christian I. als Geschenk übersandt hatte und die 1924 an den Familienverein Haus Wettin abgegeben worden war, vollkommen unerwartet zum Kauf angeboten wurde. Dass dieses außerordentlich bedeutende Werk wieder zurück nach Dresden kommen musste, stand völlig außer Frage. In einer beispiellosen gemeinsamen Anstrengung, getragen vom Freistaat Sachsen, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Kulturstiftung der Länder sowie dem Freundeskreis der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, glückte es in buchstäblich letzter Minute, diese einzigartige Gelegenheit beim Schopf zu packen und Giambolognas berühmte Kleinbronze zurückzukaufen. Damit gelang es nicht nur, eine schmerzliche Lücke zu schließen, sondern auch, Dresdens historische Bedeutung als die dritte Stadt, neben Florenz und Wien, in der das Œuvre dieses herausragenden Renaissance-Bildhauers exemplarisch studiert werden kann, zu festigen. Glückliche Umstände auf dem Kunstmarkt lassen manchmal lange auf sich warten, mitunter folgen sie aber auch so schnell aufeinander, dass man mit den erforderlichen finanziellen Kraftakten kaum mithalten kann. Da ist dann ein langer Atem gefragt und die entsprechende Zähigkeit, an dem gesteckten Ziel festzuhalten. Und das war im Besonderen der Fall bei dem Ankauf, den wir mit dieser Publikation vorstellen wollen. Ich war noch kein ganzes Jahr als Direktor der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister und der Skulpturensammlung bis 1800 im Amt, als ich im März 2017 die Kunstmesse in Maastricht (TEFAF), besuchte. Da kam es zu einer jener merkwürdigen Fügungen, die Chance und Herausforderung zugleich sind. Ich hatte begonnen, mich mit meiner neuen Wirkungsstätte in Dresden vertraut zu machen und lernte täglich Neues über die reiche Kunstgeschichte Sachsens. Als eine meiner ersten Handlungen hatte ich bereits im Dezember 2016 eine Auswahl unserer wichtigsten Plastiken der Renaissance und des Barock im ehemaligen »Bellotto-Gang« des Semperbaus neu aufstellen lassen. Darunter befanden sich neben einigen Werken Balthasar Permosers auch solche seines sächsischen Pendants Paul Heermann. Der neue Aufstellungsort ermöglichte es, durch die nicht mehr verschatteten Fenster der nun »Skulpturengang« genannten Galerie in den Innenhof des Zwingers zu blicken, wo sich einige der bedeutendsten monumentalen Schöpfungen (wenngleich heute meist nur in Kopie) dieser beiden Meister befinden. Durch diese Zusammenschau wird der Genius Loci für den Museumsbescher in besonderer Weise erfahrbar. Als ich nun im März 2017 durch die Gänge der TEFAF wanderte, zog mich plötzlich eine Skulpturengruppe aus Marmor in ihren Bann, denn es kommt äußerst selten vor, dass man ein derart qualitätvolles Werk der neuzeitlichen

Abb. 2 Paul Heermann, Saturn und Ops, nach 1715

13 Bildhauerei im Kunsthandel zu sehen bekommt. Die virtuos gearbeitete Gruppe zeigt einen alten, jedoch kraftvollen Mann mit mächtigen Flügeln, der voller Hingabe und Bewunderung ein anmutiges weibliches Wesen emporhebt, das huldvoll einen Lorbeerkranz hält. Schon der Darstellungsgegenstand war ungewöhnlich, und so näherte ich mich neugierig und studierte, was auf der Beschriftung zu lesen war: »Saturn und Ops von Paul Heermann«. Was für ein unglaublicher Glücksfall! Nur ein Jahr zuvor hätte mich zwar sicher der außerordentliche Reiz der Skulptur angesprochen, mir aber ihr Schöpfer nicht so viel bedeutet. Nun aber erkannte ich sofort, dass wir in unserer Galerie kein Werk haben, das in vergleichbarer Weise vor Augen führen kann, um welch bedeutenden Künstler es sich bei Paul Heermann handelt. Die Skulpturensammlung besitzt mit der Porträtbüste von August dem Starken (Kat.-Nr. 3) zwar ein herausragendes Beispiel seines Könnens, das sich auch in den beiden allegorischen Büsten von Herbst und Winter (Kat.-Nr. 4) zeigt, und kann dank eines Ankaufs von 2006 mit der 70 Zentimeter hohen Gruppe der Züchtigung (Kat.-Nr. 2) auch eine figurale Komposition des Meisters ihr eigen nennen – dass Heermann jedoch in Stil und Ausdruck neben Permoser bestehen kann, lässt sich an diesen Schöpfungen nicht ablesen. Für mich stand daher von Anfang an fest, dass der angemessene Platz für Saturn und Ops die Dresdner Sammlung ist. Der Preis war allerdings, wie bei einem Werk mit solchem Seltenheitswert nicht anders zu erwarten, so hoch, dass das Vorhaben ziemlich aussichtslos erschien. Ein Jahr später war das Stück wieder auf der Messe zu sehen, was den Vorteil hatte, dass man es potentiellen Sponsoren vorführen konnte, die sich auch alle sehr begeistert zeigten – doch von einem realisierbaren Ankauf war man noch weit entfernt. 2018 erforderte überdies, wie bereits erwähnt, die Rückerwerbung von Giambolognas Mars alle Anstrengungen und Ressourcen, sodass Saturn und Ops in schier unerreichbar weite Ferne rückte. Da wir jedoch vor allem durch die Ernst von Siemens Kunststiftung und die Kulturstiftung der Länder, für deren Wohlwollen und großzügige Unterstützung ich nicht genug danken kann, immer wieder ermuntert wurden, die Hoffnung nicht aufzugeben, da auch sie von der Qualität des Werkes und seiner Wichtigkeit für die Dresdner Sammlung überzeugt waren, verloren wir die so begehrenswerte Gruppe nie aus den Augen – selbst während der schwierigen Jahre der Pandemie nicht. Als mit der Rudolf-August Oetker-Stiftung, von der wir schon so viel Gutes erfahren haben, und unseren Freundeskreisen Raffaello und Paragone weitere Unterstützer gefunden werden konnten und die Kunsthändler ihrerseits, da sie ebenfalls der Meinung waren, dass Saturn und Ops unbedingt nach Dresden gehen sollte, bereit waren, ihre Preisvorstellungen substantiell zu reduzieren, kam es schließlich im Sommer 2022 zu einer glücklichen Einigung. So ist es nach jahrelangem Ringen und Bangen gelungen, das vielleicht schönste Werk Paul Heermanns doch noch für die Dresdner Sammlung zu gewinnen, wofür ich allen Beteiligten äußerst dankbar bin. Dieser bedeutende Ankauf wird hoffentlich dazu beitragen, dass der Ruhm der sächsischen Bildhauerkunst, der durch die vielen Kriegsverluste so große Einbußen erlitten hat, wieder heller erstrahlen kann. Die Marmorgruppe Saturn und Ops ist aber nicht nur durch ihre raffinierte Komposition, ihre virtuose Technik und sinnliche Oberflächengestaltung eine enorme Bereicherung für die Dresdner Skulpturensammlung, sie steht auch symbolisch für den kulturellen Anspruch Sachsens zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Denn die Skulptur zeigt die innige Zuneigung eines Ehepaares, der römischen Götter Saturn und Ops, die als Regenten des glücklichen und fruchtbaren »Goldenen Zeitalters« galten. Da sich August der Starke gern als Saturn, der ein neues Goldenes Zeitalter für sein Land begründet, feiern ließ, kann die Gruppe auch als Sinnbild der glanzvollen augusteischen Epoche gesehen werden. Die Dresdner Kunstsammlungen sind berühmt für ihre Gemälde und ihre Schatzkunst. Dass ihre dritte Säule, die Skulptur, die einmal von überragender Bedeutung war, dann aber durch mangelnde Ausstellungsmöglichkeiten über die Jahre etwas ins Hintertreffen geriet, auf diese Weise wieder mehr ins Licht gerückt werden kann, freut mich besonders. Der vorliegende Band lädt somit zur Entdeckung neuer Facetten der reichen Kunstgeschichte Sachsens ein. Er beinhaltet eine umfassende Darstellung von Paul Heermanns Leben und Werk sowie einen Katalog seiner Werke in der Skulpturensammlung und lässt Heermann damit endlich aus dem Schatten Permosers treten. Mein Dank gilt hier den Autoren dieses Buches und ganz besonders der Kuratorin für Renaissance- und Barockskulptur an der Dresdner Skulpturensammlung, Claudia Kryza-Gersch, ohne deren unbestechliches Auge und glühende Begeisterung die Ankäufe und spektakulären Neuzuschreibungen herausragender Werke in den letzten Jahren nicht möglich gewesen wären.

17 Das bildhauerische Werk Paul Heermanns Mario Titze Paul Heermann war neben Balthasar Permoser der bedeutendste Bildhauer, der im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in Dresden tätig war. Sein Ruhm wurde bereits von der frühen kunsthistorischen Forschung verkündet, wie eine Äußerung des Kunstgelehrten und ersten Generaldirektors der Dresdner Akademie und sächsischen Kunstinstitute, Christian Ludwig von Hagedorn (1712–1780), aus dem Jahr 1771 beweist, in der es über Heermann heißt: »[…] jeglicher Akademie würde dieser vortreffliche Mann Ehre gemacht haben. In der Zartheit weiblicher Statuen hatte er Vorzüge vor Balthasarn, der […] insgemein, wie wohl irrig, für seinen Lehrer gehalten wird.«1 Dieses Urteil über einen barocken Bildhauer ist besonders bemerkenswert, denn im Allgemeinen erfreute sich die Kunst des frühen 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der Schriften Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768), zu jener Zeit keiner großen Wertschätzung. Die positive Bewertung gründete sich nicht zuletzt auf Heermanns Stil, der sich vom dynamischen Pathos des Hochbarock unterscheidet und in seinem Spätwerk geradezu protoklassizistische Züge annimmt, weshalb er den frühen Theoretikern des Klassizismus wohl so gefiel. Noch Carl Justi wiederholte in seinem Essay über das augusteische Dresden 1866 mit der Einschätzung, dass Heermann Permoser »in Zartheit weiblicher Statuen noch übertraf«,2 formelhaft Hagedorns Diktum. Die erste wissenschaftliche Bearbeitung von Heermanns Œuvre leistete 1961 verdienstvoll Sigfried Asche, die von ihm in weiteren Studien, die 1966, 1970 und 1971 folgten, vertieft wurden.3 Asche verstärkte die Betonung der »klassizistischen« Seite in Heermanns Formensprache, ja, er verabsolutierte sie geradezu und stempelte ihn zum Antikenrestaurator am Dresdner Hof.4 Dieses Bild beherrschte Asches Wahrnehmung so sehr, dass er Heermann zwei Antikenkopien im Dresdner Großen Garten, Herakles und Seleinos,5 zuschrieb, die Gerald Heres später als Arbeiten des in Rom tätigen französischen Bildhauers Pierre L’Estache (ca. 1688–1774) identifizieren konnte, die dieser um 1725 im Auftrag Augusts des Starken fertigte und nach Dresden lieferte.6 1984 machte Christian Theuerkauff Heermann als bedeutenden Elfenbeinschnitzer namhaft,7 und 2005 beschrieb Eike Schmidt »neue Aspekte« in Heermanns Schaffen.8 Weitere Neuentdeckungen und -zuschreibungen der letzten Jahre9 lassen es nötig erscheinen, das Bild von Paul Heermann einer Revision zu unterziehen.10 Paul Heermann wurde am 23. Januar 1673 inWeigmannsdorf bei Freiberg getauft.11 Man kann davon ausgehen, dass er am Tag zuvor geboren wurde. Pauls Vater Zacharias war Müller. In die Lehre ging Paul höchstwahrscheinlich, wiewohl urkundlich nicht belegbar, bei seinem ebenfalls aus Weigmannsdorf stammenden Onkel George Heermann (um 1645 – um 1700).12 Wo George seine Ausbildung erfuhr, ist unbekannt, für die Beantwortung der Frage nach den ersten künstlerischen Einflüssen auf das Schaffen Pauls wäre es jedoch wichtig, etwas darüber zu erfahren. Es liegt nahe, eine Lehre bei einem Freiberger Bildhauer, etwa bei Johann Sebastian Kirmser d. Ä. (1659– 1698 nwb.) anzunehmen.13 Die Gesellenwanderung führte George um 1666 sehr wahrscheinlich nach Dresden, das sein späterer Lebensmittelpunkt werden sollte, und wo Meister wie Abraham Conrad Buchau (um 1623– 1701) und Christoph Abraham Walther (um 1625–1680) tätig waren. Bedeutsam war sein anschließender Aufenthalt in Italien, der etwa in die Zeit von 1669 bis 1679 fällt. Im Januar 1683 teilte George Heermann dem Dresdner Rat in einem Schreiben mit, dass er sich »an die 10. Jahre […] in Italien zu Rom, Venedig und anderer Orthen mehr, aufgehalten« hatte.14 Zwischen Frühling 1673 und Frühling 1678 konnte Schmidt ihn in Rom, »nur wenige Straßen von Bernini entfernt« wohnend, nachweisen.15 Ab 1679/80 arbeitete er in Dresden an Skulpturen für die Fassaden des Palais im  Abb. 3 Paul Heermann, Epitaph Wolfgang Christoph Schubarth, Detail, um 1710, Kreuzgang des Doms, Freiberg

18 Großen Garten. Seit Weihnachten 1681 bildete er in seiner eigenen Werkstatt in Altendresden (heute Dresden-Neustadt) seinen Neffen Zacharias (1670–?), den älteren Bruder Pauls, als Bildhauerlehrling aus.16 Zwischen 1681 und 1685 schuf George verschiedene Werke in Elfenbein.17 1683, spätestens 1684, nach Fertigstellung der Arbeiten für das Palais im Großen Garten,18 beauftragte Fürst Wenzel Adalbert von Sternberg (1643–1708) George Heermann mit Arbeiten für sein Landschloss in Hinter-Ovenetz (Zadní Ovenec) bei Prag (heute Prag-Troja), dessen Rohbau 1678 begonnen worden war.19 1685 datierte George einen der beiden kolossalen Atlanten der theatralischen Gartentreppe von Schloss Troja (Abb. S. 14–15), deren umfangreicher Skulpturenzyklus den Sturz der Giganten durch die olympischen Götter darstellt. Etwa gleichzeitig modellierte er überlebensgroße Stuckfiguren im Hauptsaal des Schlosses Rothenhaus (Červený Hrádek) und schnitzte den 1691 verbrannten Orgelprospekt der alten Görlitzer Peterskirche.20 In dieser von umfangreichen und künstlerisch außerordentlich anspruchsvollen Aufgaben erfüllten Zeit begann 1685 die Lehrzeit des damals zwölfjährigen Paul Heermann in der Werkstatt des Onkels, in der es auch weiterhin viel zu tun gab. 1689 müssen sechs Skulpturen der Treppe von Schloss Troja vollendet gewesen sein, da sie farbig gefasst wurden.21 Am 25. Dezember desselben Jahres unterschrieb George Heermann in Dresden als »Hoffebildthauer« den Lehrbrief für seinen Neffen Zacharias.22 Zwischen 1692 und 1695 schuf er den Altar für die erneuerte Pfarrkirche St. Peter und Paul in Görlitz.23 Das Portal im piano nobile des Schlosses Troja, durch das man aus dem Hauptsaal auf die Gartentreppe tritt, trägt die Jahreszahl 1695. Bereits in seiner frühesten nachweisbaren Arbeit, der Figurengruppe Urteil des Paris für das Palais im Großen Garten in Dresden, zeigte sich George Heermann von römischen Vorbildern, vor allem von Domenico Guidi (1625–1701), Ercole Ferrata (1610–1686) und Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) beeinflusst, was in steigender Intensität auch bei seinen darauf folgenden Werken festzustellen ist.24 Neben den allgemeinen handwerklichen Fähigkeiten, wie dem Bearbeiten von Holz, Stein, Elfenbein und Stuck, erlernte Paul Heermann von seinem Onkel somit vor allem die stilistische Sprache des römischen Hochbarock in seiner modernsten Form, die zur Grundlage für sein eigenes künstlerisches Schaffen wurde. Beginn und Dauer der Lehrzeit Paul Heermanns sind nicht dokumentiert, lassen sich aber aus Analogien errechnen: Wenn er, wie sein älterer Bruder Zacharias, seine Lehre amWeihnachtstag in seinem zwölften Lebensjahr begonnen hat, müsste dies 1684 erfolgt sein. Richtet man sich nach einer achtjährigen Lehrzeit – so lange dauerte diese üblicherweise bei George Heermann –, war das Ende wohl am 25. Dezember 1692 erreicht.25 Diese Lehrjahre wurden von Anfang an von den Arbeiten für Schloss Troja beherrscht, Paul war aber sicher auch am Görlitzer Orgelprospekt sowie am zwischen 1689 und 1692 entstandenen Altarrahmen für die Prager Wenzelskirche26 beteiligt. Seine Gesellenwanderung absolvierte er von 1693 bis Ende 1695 oder – nach den Dresdner Innungsregeln – bis Ende 1694. Als Geselle war Paul weiterhin an den Skulpturen für die Gartentreppe des Schlosses Troja beteiligt und er wirkte wohl auch am Grabmonument für Johanna Margarete Luise († 1698) und Hans Adam von Schöning († 1696) in deren Gutskirche in Tamsel bei Küstrin in der Neumarkt (heute Polen) mit. Im Jahr 1700 war Paul Heermann in Rom, wo er die heute im GRASSI Museum in Leipzig verwahrte Buchsbaumstatuette eines Herkules (Abb. 4) signierte.27 Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass dieser Romaufenthalt noch Teil seiner Gesellenwanderung war, wie Asche annahm. Eine Reise nach Italien war für einen nicht eben begüterten Bildhauergesellen, den Sohn eines Müllers, der bereits während Pauls Lehrzeit verstorben war,28 ohne finanzielle Unterstützung nicht realisierbar. Darüber hinaus benötigte er dafür einen kurfürstlichen Reisepass und eine Empfehlung, die ihm einen solchen überhaupt verschaffen konnte. Das war erst nach dem Abschluss der Gesamtlehrzeit denkbar und erforderte wohl auch eigene Werke, die den Kurfürsten beziehungsweise den Chef des Oberbauamts davon zu überzeugen vermochten, dass eine Investition in die Fortbildung des jungen Künstlers lohnend wäre. Generell setzte ein derartiges Reisestipendium die Aufnahme in kurfürstliche Dienste, das heißt eine Anstellung im Oberbauamt, voraus, wie sie bei Johann Georg Starcke (ca. 1630– 1695),29 Marcus Conrad Dietze (1656–1704),30 Benjamin Thomae (1682–1751), Johann Christoph Ludwig Lücke (1705–1780) oder Matthäus Daniel Pöppelmann (1662–1736)31 nachgewiesen und für Johann Heinrich Böhm d. J. (1663–1701) anzunehmen ist.32 Eine solche Situation könnte sich Ende der 1690er Jahre ergeben haben, als nach dem Herrschaftsantritt Kurfürst Friedrich Augusts I. 1694 und seiner Krönung zum polnischen König 1697 ein größerer Bedarf an Bildhauern mit italienischer – das heißt moderner internationaler – Erfahrung bestand. Neben Abraham Conrad Buchau (ca. 1623–1701), einem

Vertreter der unter Johann Georg II. (1613/1656–1680) tätigen Generation, waren George Heermann, Conrad Max Süßner (1652–nach 1696),33 Marcus Conrad Dietze und seit 1690 Balthasar Permoser (1651–1732) als kurfürstliche Bildhauer angestellt. Der Leiter des Oberbauamts, Generalintendant und Oberinspektor aller Zivil- und Militärgebäude war seit 1696 August Christoph Graf von Wackerbarth (1662– 1734).34 Man könnte sich vorstellen, dass der junge Bildhauergeselle Paul, der als Mitarbeiter in der Werkstatt des Hofbildhauers George Heermann in Altendresden arbeitete, vielleicht auf dessen Fürsprache um 1699/1700 von August dem Starken das Stipendium für eine Romreise erhielt. Diese führte ihn über die Stationen Venedig und Florenz, wo sich wohl auch George bereits aufgehalten hatte, nach Rom. Allem Anschein nach kam die in Rom geschaffene und signierte Herkules-Statuette (Abb. 4) aus dem Nachlass des Grafen Wackerbarth,35 was darauf hindeutet, dass der junge Paul das Werk vielleicht nach der Rückkehr aus Rom dem Generalintendanten als Referenz seiner dort erworbenen Fähigkeiten und in der Hoffnung auf eine Festanstellung im Oberbauamt verehrt hatte. Sowohl Sponsel36 als auch Asche37 weisen jedoch darauf hin, dass Paul Heermann niemals aus der Kasse des Oberbauamts bezahlt wurde. Seine späteren Dienste für den Kurfürsten und König wurden aus der »königlichen Schatulle« vergütet, woraus Asche schloss, dass er dem Personal der Kunstsammlungen angehörte. Um 1700 scheint er es jedenfalls noch nicht zu einer festbesoldeten Position am Hof gebracht zu haben. Umso verständlicher ist es, dass er bis 1703 im Auftrag des Grafen Sternberg die noch offenen Arbeiten an der Treppe des Schlosses Troja vollendete. Allgemein wird angenommen, dass George Heermann um 1700 verstarb. Das tatsächliche Todesdatum und der Ort sind jedoch unbekannt. Nach Georges Tod führte seine Witwe den Betrieb der Bildhauerwerkstatt fort, deren Aufträge der Geselle Paul Heermann ausführte. Zu den von George übernommenen Verpflichtungen könnten auch die Elfenbeinfiguren für das im Grünen Gewölbe verwahrte Goldene Kaffeeservice (Abb. 5–7) des königlichen Hofjuweliers Johann Melchior Dinglinger (1664–1731) gehört haben, das dieser im Dezember 1701 in Warschau August dem Starken präsentierte.38 Paul Heermanns Mitarbeit daran Abb. 4 Paul Heermann, Herkules, 1700, GRASSI Museum, Leipzig

21 ist nicht gesichert, aber die kleinformatigen Elfenbeinskulpturen wurden ihm stilkritisch von Asche, Rasmussen, Theuerkauff und Kappel zugeschrieben.39 Tatsächlich passen die 14 Götter und Nymphen darstellenden Figuren und Figürchen kompositorisch und ikonografisch gut in das Umfeld der Statuen der Treppe von Schloss Troja, an deren Haltung und Gestik sie teilweise erinnern. Heermanns Buchsbaum-Herkules weist alle technischen Merkmale auf, die auch für ein Elfenbeinwerk gelten würden. Er war also 1700 bereits souverän in der Lage, eine solche Arbeit auszuführen und wurde ja auch später, neben Balthasar Permoser, zum bedeutendsten Elfenbeinschnitzer unter den Dresdner Barockbildhauern. Warum Dinglinger mit den Figuren nicht Permoser beauftragte, mit dem er bereits seit Mitte der 1690er Jahre zusammenarbeitete, ist nicht bekannt, hängt aber vielleicht damit zusammen, dass dieser zwischen 1698 und 1702 offenbar nicht in Dresden war.40 So erscheint es vorstellbar, dass Dinglinger mit den Figuren ursprünglich George Heermann beauftragt hatte und Paul nach dessen Tod den Werkstattauftrag ausführte. Etwas später lässt sich jedenfalls eine persönliche Beziehung zwischen Heermann und Dinglinger belegen, da 1715 die Ehefrau des Hofjuweliers die Patin der Tochter des Bildhauers wurde.41 Die Zuschreibung der Elfenbeinstatuetten des Goldenen Kaffeeservice an Paul Heermann gewinnt weiter an Wahrscheinlichkeit durch die Entdeckung eines kompletten Sets von Schachfiguren aus Elfenbein und Ebenholz (Abb. 12), von denen ein Läufer ein Blatt mit der Signatur »HER/MAN« trägt. Das noch zu besprechende Schachset wird um 1705 datiert und steht somit in enger Nachbarschaft vor allem zu den kleinen Elfenbeinfigürchen des Kaffeeservice. Die vordringliche Aufgabe war jedoch die Fertigstellung des Skulpturenschmucks auf der Gartentreppe des Schlosses Troja. Die Figuren Herkules (Abb. 8) und Vulkan (Abb. 9) signierte und datierte Paul Heermann 1703. Beide unterscheiden  Abb. 5 Johann Melchior Dinglinger, Goldenes Kaffeeservice, 1697–1701, Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden  Abb. 6 Paul Heermann (?), Goldenes Kaffeeservice, Minerva, 1701 (?), Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden  Abb. 7 Paul Heermann (?), Goldenes Kaffeeservice, Neptun, 1701 (?), Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

59 Paul Heermann in Dresden – Facetten seines Schaffens Stefan Dürre Der Skulpturenschmuck des Dresdner Zwingers Der barocke Dresdner Zwinger (Abb. 56, 57) – der Name leitet sich von dem schon früh gärtnerisch genutzten ehemaligen Raum zwischen der inneren und äußeren Stadtmauer der mittelalterlichen Befestigung Dresdens ab – entstand unter der Leitung des Architekten Matthäus Daniel Pöppelmann (1662–1736) ab 1711. Die prächtige Anlage war ein wesentlicher Bestandteil der unter August dem Starken (1670–1733) in Angriff genommenen Umgestaltung Dresdens in eine repräsentative Residenzstadt. Der neue Bau sollte als höfischer Festplatz und Lustgarten dienen und stand im Zentrum der 1719 zelebrierten Hochzeit des Kurprinzen Friedrich August II. (1696– 1763) mit der Kaisertochter Maria Josepha von Habsburg (1699–1757). Mit diesem grandiosen Ereignis fand die erste Bauphase, obwohl erst zwei Flügel errichtet waren, einen vorläufigen Abschluss. Der Stadt-, oder heute sogenannte Glockenspielpavillon mit seinen Bogengalerien wurde bis 1728 angefügt, jedoch blieb die zunächst nur aus Holz errichtete Nordostseite offen, und es erfolgte keine Vervollständigung des Skulpturenprogramms.1 Als wesentliches Element der theatralischen Wirkung des Zwingers war von Anfang an ein umfangreicher Skulpturenschmuck geplant. Welche Skulpturen aus der ersten Bauphase (1712–1718) stammen, ist weitgehend bekannt, und manches davon ist auch noch im Original erhalten, wenngleich stark lädiert und durch Ergänzungen auf wenig Ursprungssubstanz reduziert.2 Von den Künstlern, die unter der Leitung des Hofbildhauers Balthasar Permoser (1651– 1732) an der Ausführung der plastischen Gestaltung des Zwingers arbeiteten, gelten lediglich sechs Meister als mehr oder weniger gesichert: Paul Heermann (1673–1732), Johann Joachim Kretzschmar (1677– 1740), Benjamin Thomae (1682–1751), Christian Kirchner (1691–1732), Johann Matthäus Oberschall (1688–1755) und Paul Egell (1691–1752). Für sieben weitere Bildhauer wird eine Beteiligung zumindest in Erwägung gezogen.3 Leider finden sich in den Akten zur Frage »Wer machte was?« keine konkreten Hinweise,4 und so ist es oft lediglich die Stellung eines Künstlers als Hofbildhauer, von der dann eine Mitarbeit am Zwingerprojekt abgeleitet wurde. Nur hinsichtlich Permoser gibt es bessere Anhaltspunkte, denn er berichtete selbst, dass er Hermen am Wallpavillon »eigenhändig und ohne Modell« aus dem Stein geschlagen habe,5 während der Herkules auf demWallpavillon durch Signatur für ihn belegt ist.6 Angesichts der äußerst mangelhaften Quellenlage ist es kaum verwunderlich, wenn man feststellen muss, dass es nicht möglich ist, Paul Heermann bestimmte Skulpturen im Zwingerkomplex eindeutig zuzuordnen. Überliefert ist lediglich, dass er dort nicht näher beschriebene Reparaturarbeiten tätigte, die nicht sehr umfangreich gewesen sein können, da er dafür nur mit vier Talern bezahlt wurde.7 Dennoch hat der Dresdner Kunsthistoriker Sigfried Asche (1906–1985), der Großes für die Erforschung der sächsischen Barockplastik geleistet hat, versucht, unserem Meister eine Reihe von Skulpturen im Zwinger zuzuschreiben.8 Diese Zuweisungen – dies muss bei aller Hochachtung vor Asches grundlegender Arbeit gesagt werden – basieren jedoch nicht nur auf Vergleichen mit gesicherten Werken Heermanns, sondern auch auf teilweise mehr als fraglichen Zuschreibungen. Dass die solchermaßen praktizierte »Händescheidung« nicht mehr in Allem überzeugen kann, sollte daher nicht überraschen. In der Tat hat man beinahe den Eindruck, als wären die Zwingerskulpturen einfach auf die damals fassbaren Bildhauer aufgeteilt worden, und zwar je nachdem, zu wessen Œuvre man vermeinte, Verwandtschaften zu erkennen, selbst wenn diese nur aus vagen Zuschreibungen bestanden. Grundsätzlich ist außerdem festzustellen, dass es für die wenigen von Asche favorisierten Bildhauer, die dazu zeitgleich noch andere Aufträge zu erfüllen hatten, vollkommen unmöglich gewesen wäre, in lediglich sechs Jahren die ge­  Abb. 34 Paul Heermann, zugeschrieben, eine der beiden nördlichen Doppelhermen, 1716–1718, Wallpavillon, Zwinger, Dresden

60 Will man ausschließlich den Quellen folgen, so wird es wahrlich schwer, wenn nicht unmöglich, Zwingerskulpturen für Paul Heermann zu sichern. Ja, man könnte sich sogar fragen, warum man dort überhaupt nach Werken Heermanns suchen soll. Diese Frage wurde bereits, wie ich meine überzeugend, von Asche beantwortet, denn es besteht tatsächlich zumindest eine große Wahrscheinlichkeit, dass der Künstler hier tätig wurde. Spätestens ab 1716 nahm das Zwingerprojekt nämlich rasant an Fahrt auf, da die Hochzeit des Kurprinzen in greifbare Nähe rückte, weshalb die Orangerie in ein spektakuläres Festareal verwandelt werden sollte. Dafür wurde nun jeder Mann gebraucht. Der Hofdichter und spätere Geheimsekretär Johann Ulrich von König (1688–1744) besang »den Wunderschönen Bau des Zwingers« mit entsprechend anschaulichen Worten: »Wie tausend Hände hier zur Arbeit schwitzend eilen, so muß sich auch das Aug, um sie zu sehn, vertheilen: Der schnitzelt, jener leimt, der hobelt, dieser sägt, der füget, der zerschneid, der bohret, dieser schlägt, der zeichnet, jener mahlt, der bildet Helden-Köpffe, der haut ein Brust-Bild aus, und jener Blumen-Ttöpffe. Der angelegte Bau wächst augenscheinlich fort, kommstu des Abends her, kennstu nicht mehr den Ort, den Du des Morgens doch selbst hast errichten schauen, so schnell steigt hier das Werck, so eifrig geht das Bauen.«14 samte skulpturale Ausstattung des Zwingers zu bewältigen. Diese umfasste bis 1719 – abgesehen von der opulenten ornamentalen Bauplastik – 54 Großfiguren, 48 Putti und 87 Vasen,9 insgesamt also 189 freistehende Skulpturen. Geht man davon aus, dass ein Bildhauer für die Ausführung einer einzigen lebensgroßen Steinfigur mindestens drei Monate benötigte, wird die Problematik klar, selbst wenn man die Beteiligung von Gehilfen mit in Rechnung stellt. Selbst Asche räumte bereits ein, es wären »bei weitem nicht alle Bildhauer, die im Zwinger am Werke waren, […] erfasst worden«.10 So ist etwa vor einigen Jahren durch Sabine Wilde der königlich-sächsische Hofbildhauer Jacob Lehmann (?– 1726) »entdeckt« worden, der eine große Werkstatt unterhielt und nachgewiesenermaßen an königlichen Großprojekten arbeitete, weshalb man wohl von ihm mit gleicher Selbstverständlichkeit Werke im Zwinger suchen darf, wie es Asche für »seine« Bildhauer getan hat.11 Einerseits gibt es also einen Mangel an historischen Dokumenten zu beklagen, andererseits muss man sich gewahr sein, dass diese, selbst wenn es sie gibt, mit einer gewissen Vorsicht zu lesen sind. So finden sich etwa im 1726 verfassten Inventar der Skulpturensammlung die beiden heute im Palais im Großen Garten aufgestellten Marmorgruppen Herakles mit Telephosknaben und Silen mit Dionysosknaben als Werke von Paul Heermann verzeichnet,12 während Gerald Heres belegen konnte, dass sie tatsächlich Pierre de L’Estache (um 1688–1774) geschaffen hat.13 Abb. 35 Paul Heermann und andere, Urteil des Paris, 1716–1718, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto um 1900)

61 Abb. 36 Kopie, wohl nach Paul Heermann, Paris, 1926, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1926)  Abb. 37 Kopie, wohl nach Paul Heermann, Minerva, 1926, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1926) Abb. 38 Kopie, wohl nicht nach Paul Heermann, Juno, 1926, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1926)  Abb. 39 Kopie, wohl nicht nach Paul Heermann, Venus, 1926, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1926)

62 mit seinen Schöpfungen dort einzubringen, wo bald ein dynastisch hochpolitisches Ereignis von europäischer Bedeutung stattfinden sollte, und wo die besten der in Sachsen verfügbaren Künstler bereits tätig waren. Geht man nun von Heermanns Mitarbeit am Zwinger aus, so muss man sich dort im Grunde mit fast allen 189 Skulpturen, sowie der gesamten übrigen Bauplastik auseinandersetzen. Dieser Herausforderung stellte sich Asche und gab uns so die Möglichkeit, in zehn Figuren des Zwingers, bei aller gebotener Vorsicht, Werke von Heermann zu sehen. Zu diesen zählt das auf der hofseitigen Attika des zentralen Wallpavillons positionierte, aus vier Figuren bestehende Urteil des Paris (Abb. 35).17 Bemerkenswert ist bei dieser Gruppe die Interpretation von Paris (Abb. 36), der als römischer Imperator mit Lorbeerkranz am Haupt erscheint. In der Tat wäre es ohne die Anwesenheit von Minerva (Abb. 37), Juno (Abb. 38) und Venus (Abb. 39), also jenen drei Göttinnen, die vom Hirtenjungen Paris verlangten, die schönste von ihnen mit einem Apfel ausWie sehr der Dichter den Zwinger auch lobt, der Skulpturenschmuck war bekanntermaßen bei der Hochzeit im September 1719 nicht fertig, und seine Komplettierung wurde auch zu Lebzeiten des Auftraggebers, Augusts des Starken, nicht mehr in Angriff genommen. Gerade die Hälfte der geplanten Skulpturen kam zur Aufstellung.15 Dies verweist nicht nur auf einen Geldmangel im Angesicht zahlreicher fast zeitgleich begonnener Bauprojekte, sondern auch auf einen Mangel an fähigen Bildhauern. Letzteres bedeutet, dass man hier kaum auf einen Künstler wie Paul Heermann, der in der Residenz und im weiten Umkreis hohes Ansehen genoss und dessen Arbeit für den königlichen Hof mehrmals belegt ist, hätte verzichten können, auch wenn er – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht Hofbildhauer war.16 Er war spätestens ab 1705 in Dresden ansässig und befand sich 1716, als der Bau des Zwingers in seine »heiße Phase« trat, in seinen besten Schaffensjahren. Auch darf man wohl vermuten, dass es ihn selbst gereizt haben muss, sich Abb. 40 Paul Heermann, zugeschrieben, nördliche Einzelherme, 1716–1718, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1927) Abb. 41 Paul Heermann, zugeschrieben, nördliche Doppelhermen, 1716–1718, Wallpavillon, Zwinger, Dresden (Foto von 1927)

63 zuzeichnen, schwer, die Gruppe zu deuten. Asche sah nun in der Figur des Paris das Alter Ego von August dem Starken, während Monika Schlechte vorschlug, in ihr vielmehr den Kurprinzen Friedrich August II. zu sehen, was wesentlich überzeugender ist.18 Paris, beziehungsweise der Kurprinz, überreicht auch keinen Apfel, sondern einen viel höheren Preis: eine Krone. Diese scheint er in weitem Bogen in den Hof zu senden, wo sich seine Braut, Maria Josepha, als intendierte Empfängerin vermuten lässt.19 Eine solche Interpretation gewinnt an Glaubwürdigkeit angesichts der Tatsache, dass sich Paris genau jener Richtung zuwendet, aus welcher der Hochzeitsfestzug am 15. September 1719 um Punkt 18 Uhr von Osten her, durch den »Entrée principale«,20 Einzug in den Zwinger hielt.21 Position und Aussage des Paris-Urteils bezeugen jedenfalls die außerordentliche Bedeutung dieser Gruppe, die folglich nur einem besonderen Künstler übertragen worden sein konnte. Dafür kam außer Permoser selbst wohl am ehesten Paul Heermann infrage. Die weiteren von Asche Heermann zugeschriebenen Skulpturen sollen hier zumindest genannt werden: die nördliche Einzelherme am Wallpavillon (Abb. 40), links daneben die Doppelherme (Abb. 41), links vor dem hofseitigen Kronentor der Schalmeibläser (Abb. 42, 43) und auf der Nordwestecke des Mathematisch-Physikalischen Salons der Apollo (Abb. 44–46).22 Die kleine Figur eines Gelehrten mit phrygischer Mütze und »antikischem Gewande« (Abb. 47), die westlich von selbigem Pavillon auf halber Höhe der Außentreppe zum Erdgeschoss Richtung Wallgraben steht, gab Asche auch Heermann, obwohl er wusste, dass sie erst 1926 in den Zwinger gekommen war.23 Diese Skulpturen bilden nur eine relativ kleine Gruppe innerhalb des Zwingerensembles, doch räumte Asche ein, dass Heermanns Anteil damit sicher nicht erschöpft sei, und vermutete auch unter den Konsolfiguren der westlichen Bogengalerien Werke des Meisters.24 Dass Asche Heermann nur wenige Figuren zuwies, begründete er mit der überzeugt Abb. 42 Paul Heermann, zugeschrieben, Schalmeibläser, 1716–1718 (Foto von 1927; damals stand die Skulptur in der Emser Allee 24, Dresden) Abb. 43 Kopie, wohl nach Paul Heermann, Schalmeibläser verändert zu Flötenspieler, 1927, Zwinger, Kronentor, Dresden (Foto von 1927)

77 Saturn und Ops – eine Allegorie auf das Goldene Zeitalter von Paul Heermann Claudia Kryza-Gersch Die knapp 140 Zentimeter große Skulpturengruppe (Abb. 1) zeigt einen geflügelten nackten Mann mit Vollbart und Glatze, der mit seinem linken Bein am Boden kniet, während er das andere mit der Sohle aufstützt. Er ist alt, hat aber einen muskulösen und noch immer schönen Körper. Auf seiner rechten Schulter sitzt eine junge Frau, deren Hüfte er zärtlich umfasst, während er mit seiner linken Hand sacht ihren Fuß hält. Bewundernd blickt er zu ihr auf. Sie ist in ein dünnes Gewand gehüllt, das unter ihrem Busen endet und diesen entblößt. Mit den gespreizten Fingern ihrer rechten Hand ergreift sie ihre rechte Brust, so als wolle sie Milch daraus pressen. Auf dem leicht geneigten Kopf trägt sie einen Lorbeerkranz, einen zweiten hält sie in der linken Hand, und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Auf den ersten Blick meint man, eine der üblichen Raptusgruppen vor sich zu haben, bei der eine männliche Figur eine weibliche emporhebt, um diese zu entführen. Seit Giambolognas berühmter Raub der Sabinerin 1583 in der Loggia dei Lanzi in Florenz enthüllt wurde, ist die Thematik in der Bildhauerei überaus beliebt, da sie die Gelegenheit bietet, zwei bis drei ineinander verschlungene Körper in einer dramatischen und gleichzeitig erotisch aufgeladenen Komposition zu zeigen. Unabhängig davon, welche Geschichte erzählt wird, sei es die vom Raub der Sabinerinnen oder der schönen Helena, sei es die von Pluto und Proserpina oder Boreas und Oreithya – das Motiv bleibt dabei immer das gleiche, nämlich ein kräftiger Mann, der eine sich dekorativ windende, hilflose Frau packt, in die Höhe stemmt und ihr mehr oder weniger unverblümt Gewalt antut. Abb. 51 Paul Heermann, Saturn und Ops, nach 1715, Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden  Abb. 52 Paul Heermann, Saturn und Ops, Detail

78 Doch genau davon kann bei unserer Gruppe keine Rede sein. Alles an der Haltung und im Ausdruck des alten Mannes deutet auf Verehrung hin, seine Berührungen sind behutsam und zärtlich. Auch wirkt sie keinesfalls wie ein Opfer, sondern eher wie eine triumphierende Königin voller Anmut und Gelassenheit – von Gewalt also keine Spur. Wer sind diese beiden, die so viel Vertrauen und Harmonie ausstrahlen? Bei der Gestalt eines geflügelten Alten denkt man zunächst wahrscheinlich an Chronos, die Personifikation der Zeit. Für seine Darstellung gab es in der Antike noch keine feste Ikonografie, seit der Renaissance bürgerte sich jedoch eine Wiedergabe als geflügelter Greis mit Stundenglas und Sichel ein.1 Vor allem im Barock wurde Chronos gern in Begleitung einer attraktiven Frau gezeigt, um auf allegorische Weise die Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit zu thematisieren, wie dies etwa Pietro Balestra (vor 1672–nach 1729) in seiner 1722 von August dem Starken erworbenen Gruppe Die Zeit entführt die Schönheit (Abb. 53) tat, oder darauf hinzuweisen, dass die Zeit früher oder später die Wahrheit ans Tageslicht bringt, wie dies in der etwa gleichzeitig ebenfalls für Dresden angekauften Gruppe Die Zeit enthüllt die Wahrheit (Abb. 54) von Antonio Corradini (1688–1752) vorgeführt wird. Abb. 53 Pietro Balestra, Die Zeit entführt die Schönheit, um 1720, Großer Garten, Dresden

79 Für unsere Figurengruppe erscheint eine solche Interpretation jedoch nicht angezeigt, da die Frau Milch aus ihrer prallen Brust drückt, was in einem solchen Kontext schwer zu erklären wäre. So ist vielleicht anstatt an Chronos eher an Kronos zu denken, den Führer der Titanen, der seine eigenen Kinder fraß, um von ihnen nicht vomThron gestürzt zu werden, aber dennoch von seinem Sohn Zeus vertrieben wurde. Dieser Mythos vermischte sich mit der Vorstellung von der Zeit, die ihre Kinder verschlingt, und so verschmolzen Chronos und Kronos mitunter zu einer Figur.2 Bei den Römern wurde Kronos schließlich mit Saturn gleichgesetzt, dem Gott des Reichtums, der Feldfrüchte und des Ackerbaus, der im legendären Goldenen Zeitalter über ein paradiesisches Latium herrschte, wohin er nach seiner Entmachtung geflohen war.3 Deutet man den geflügelten Mann der Skulpturengruppe, der zwar alt, aber von kräftiger Statur ist, als Saturn, so wäre in der weiblichen Figur seine Gefährtin Ops zu sehen, die von den Römern als Göttin des Erntesegens und der Fruchtbarkeit verehrt wurde.4 Der Griff an die milchspendende Brust passt hervorragend zur Charakterisierung dieser vielschichtigen Gottheit, die auch als Personifikation der Natur galt und zum Schutz von Neugeborenen angerufen wurde.5 Da Saturn und Ops als Regenten des Goldenen Zeitalters betrachtet wurden, erscheint der an eine Herrscherapotheose erinnernde Aufbau der Skulpturengruppe durchaus angebracht, ebenso wie die beiden Lorbeerkränze. In der Gruppe eine Darstellung von Saturn und Ops zu sehen, wurde bereits von den Kunsthändlern vorgeschlagen, die die Skulptur 2017 zum Kauf anboten, und das scheint tatsächlich die zutreffende Interpretation zu sein.6 Die Marmorgruppe befand sich einstmals im Kommendehaus des Deutschen Ordens in Lucklum,7 dem Verwaltungssitz der Ordensprovinz Sachsen, wo sie sich in einem Inventar von 1809 nachweisen lässt.8 Nach der Auflösung des Ordens gelangte die Kommende in Privatbesitz und wurde zum Rittergut, was schließlich dazu führte, dass man zu Beginn des 21. Jahrhunderts die noch erhaltenen Kunstschätze verkaufte, wie etwa die historische Porträtsammlung des Rittersaals.9 2008 kam unsere Skulptur unter dem Titel Chronos und Venus beim Kunstauktionshaus Schloss Ahlden unter den Hammer.10 Dort wurde sie von einem belgischen Kunsthändler ersteigert, der sie an die Tomasso Brothers in London verkaufte, die die Skulptur erforschen ließen, bevor sie sie 2017 als Werk von Paul Heermann publizierten und auf der »European Fine Art Fair« in Maastricht präsentierten.11 Dass man den Schöpfer des Werkes unter den in Sachsen tätigen Barockbildhauern des frühen 18. Jahrhunderts suchte, erscheint aufgrund von Provenienz und Stil durchaus einleuchtend. Auch der Vorschlag des Auktionshauses, die Gruppe als »ein Werk aus dem Umkreis Balthasar Permosers« zu bezeichnen, ist keineswegs abwegig, erinnert sie doch in ihrem steilen Aufbau und ihrer festlichen Stimmung an die zwischen 1718 und 1721 entstandene Apotheose des Prinzen Eugen des sächsischen Hofbildhauers Balthasar Permoser (1651–1732). Ein Vergleich dieser Gruppe mit Saturn und Ops zeigt jedoch auch, dass der Bildhauer unseres Werkes ein Abb. 54 Antonio Corradini, Die Zeit enthüllt die Wahrheit, um 1720, Großer Garten, Dresden

81 wesentlich ruhigeres Temperament hatte und ihm eine klare Komposition, frontale Ausrichtung und anatomisch korrekte Körperbildung wichtig waren. Genau mit diesen Eigenschaften wurde von Sigfried Asche, von dem die erste maßgebliche Untersuchung zu Paul Heermann stammt, der Stil dieses Meisters beschrieben, der von ihm nicht ganz zu Unrecht als so etwas wie der sachliche Antipode zum hochbarocken Permoser betrachtet wurde.12 Sucht man im Œuvre Heermanns nach vergleichbaren Werken, so ist als erstes an die signierte und mit 1712 datierte Puttengruppe in Los Angeles (vgl. Kat.-Nr. 2) zu denken, die in der Tat Kinder unserer Ops sein könnten (Abb. 55) – vor allem der Knabe. Die Hand, mit der Ops die schwellende Form ihrer Brust umfängt, zeigt die gleiche Weichheit der Abb. 56 Balthasar Permoser, Chronos, Detail, um 1695, Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden  Abb. 55 Paul Heermann, Krönung, 1712, Los Angeles County Museum Modellierung, und auch die Gestaltung der Lorbeerblätter, mit jeweils linear definiertemMittelsteg, ist überaus ähnlich. Typisch für Heermann sind ebenso die etwas zu große Nase der Ops sowie ihre tief in verschatteten Höhlen liegenden Augen, deren Iris die Form eines »C« haben, die aus zarten, dicht nebeneinander gesetzten Bohrlöchern besteht. Diese charakteristische Augengestaltung lässt sich auch bei Heermanns Puttengruppen (vgl. Kat.-Nr. 2) und seinen Büsten (vgl. Kat.-Nr. 3 und 4) feststellen. Saturn ist in seiner subtilen Stofflichkeit ein direkter Bruder von Heermanns Winter, was sich vor allem in der Behandlung von faltiger Haut und duftigem Barthaar zeigt. Die prächtigen Flügel Saturns13 gleichen jenen des linken Engels am Altar der Stadtkirche in Lommatsch von 1713/14 (Abb. 26) nicht nur in der generellen Disposition von kurzen und langen Federn, sondern bis hin zur Modellierung jeder Einzelheit von Schaft und Fahne. Auch der von Heermann signierte Chronos (Abb. 3) des Schubarth-Epitaphs in Freiberg verfügt über die gleichen Flügel.

90 1 Paul Heermann Weigmannsdorf 1673–1732 Dresden Ruhende Venus Vor 1726 (um 1710?) Marmor; H. 18 cm, B. 84 cm, T. 28 cm Inv.-Nr. ZV 3607 Provenienz: Aus der Dresdner Kunstkammer; seit 1726 in der Skulpturensammlung nachweisbar.1 Literatur: Titze 2021, 85; Schmidt 2005, 29; Martin Raum- schüssel in Dresden 1992, 52, Kat.-Nr. 37; Martin Raumschüssel in Essen 1986, 68, Kat.-Nr. 33; Asche 1966, 115; Asche 1961, 132 f.; Degen 1936, 65, 69; Lipsius 1798, 102. Die Statuette zeigt eine langgliedrige, nackte Frau, die ausgestreckt auf einem knittrigen Laken liegt, während ihr Oberkörper und Haupt etwas erhöht auf einem dicken Kissen ruhen (Abb. 61). Auf den ersten Blick meint man, eine Schlafende vor sich zu haben; ihre Augen sind jedoch geöffnet, ebenso wie ihr Mund, aus dem ein Seufzer zu entweichen scheint (Abb. 62). Auch der leicht angehobene rechte Arm deutet darauf hin, dass die Dame wach ist, denn sie greift nach dem Zipfel des Lakens, das in ondulierenden Falten über ihre Scham gebreitet ist. Die Geste ist voller Grazie, lässt einen jedoch im Unklaren darüber, ob sie das Tuch soeben über den Schoß gebreitet hat oder dieses vielmehr gerade wegzieht. Durch die liegende Position in einem zerwühlten Bett wirkt ihre Nacktheit wesentlich erotischer als bei einer stehenden Figur, und man fühlt sich bei der Betrachtung fast ein wenig wie ein Voyeur. Wer ist die Schöne, die uns so unverhohlen an ihren Reizen teilhaben lässt? Hat sie uns bemerkt? Sie als Venus zu bezeichnen, mag ihren unbekleideten Zustand erklären, ihren leidenden Ausdruck findet man bei den seit der Renaissance vor allem in Gemälden beliebten Darstellungen der ruhenden Göttin jedoch nicht. Man ist eher versucht, nach einer Schlange zu suchen, denn als sterbende Cleopatra ergäbe der Ausdruck der Figur durchaus Sinn. Da sie, wie man aus dem Eintrag im Inventar der Dresdner Skulpturensammlung von 1728 erfährt, auf einem vergoldeten Tisch präsentiert wurde,2 muss der Eindruck einer feierlichen Aufbahrung noch stärker gewesen sein. In Ermangelung weiterer Hinweise kann man lediglich feststellen, dass es sich um ein typisches Kunstkammerstück handelt, und man darf wohl annehmen, dass es den Geschmack des sinnlichen Kurfürsten perfekt getroffen haben wird. Im Inventar von 1765 wird der liegende Akt als eine Schöpfung von Paul Heermann bezeichnet, was durchaus nachvollziehbar ist.3 Auffallend sind die Gestaltung des Kopfes mit einem feinen, ovalen Gesicht, das an hellenistische Venus-Statuen erinnert, und die Frisur, bei der zwei Strähnen am Kopf zu einer Schleife all’antica gebunden sind. Betrachtet man Heermanns andere weibliche Figuren, die viel vollere, gerundete Physiognomien haben, so kann man hier wohl von einem sehr bewussten Antikenzitat sprechen. Das Pathos der Ruhenden verweist hingegen auf Gian Lorenzo Berninis Seelige Ludovica Albertoni in der Cappella Altieri in San Francesco a Ripa in Rom (Abb. 63), von der der zurückgebogene Kopf und der geöffnete Mund ebenso Abb. 62 Paul Heermann, Ruhende Venus, Detail, um 1710 (?), Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

91 1 Inventar von 1726, Bl. 24, Nr 199: »Eine Figur aus weißen Marmorstein, eine liegende Venus, ein Kißen untern Kopf, 1½ Elle lang«. Als Lokation wird die Bilder-Galerie angegeben. 2 Inventar von 1728, Bl. 71, Nr. 199: »Eine Figur aus weißen Marmor-Stein, die Venus auf einen Küssen, mit den Kopfe liegend, die rechte Hand lieget über ihr, mit der rechten Hand hält sie das Gewand vor die Scham, 1 1/2. Ell. lang, auf einer grauen marmorsteinern Taffel von 1. Ell. 15. Zoll lang, auf einen geschickt glantzvergoldten Fuße, oder Tischgestelle.« 3 Inventar von 1765, Bl. 30, Nr. 199: »Eine liegende nackende Frauens-­ Person, der Kopf auf einem Küssen; mit der Rechten deckt sie mit dem Gewand die Scham; moderne von Hermann auf einer grau marmornen Tafel. Aus der Kunstkammer.« 4 Schmidt 2005, 29. Für das Hagedorn-Zitat siehe Asche 1961, 199. Abb. 63 Gian Lorenzo Bernini, Seelige Ludovoca Albertoni, 1674, Cappella Altieri, San Francesco a Ripa, Rom übernommen sein könnten wie die so betont faltenreiche Behandlung des Lakens. Die Modellierung dieses Tuches bei dem Dresdner Stück ist so bewegt und ornamental, wie man es eigentlich nur von Heermanns Elfenbeinarbeiten kennt. Betrachtet man etwa das Köpfchen der Minerva des Goldenen Kaffeeservice im Grünen Gewölbe (Abb. 6), so könnte man meinen, Schwestern vor sich zu haben. Vielleicht ist das Werk also deutlich vor 1726 entstanden – dafür würden auch die offenbar so frischen Erinnerungen an Heermanns Romreise sprechen. Schmidt wies jedenfalls zu Recht daraufhin, dass die lobenden Worte, die Christian Ludwig von Hagedorn, Generaldirektor der Sächsischen Kunstsammlungen und der Dresdner Kunstakademie, 1771 in einem Vortrag fand, perfekt auf die Ruhende Venus passen: »[…] In der Zärte weiblicher Statuen hatte er [Paul Heermann] Vorzüge vor Balthasarn [Permoser] […].«4

99 3 Paul Heermann Weigmannsdorf 1673–1732 Dresden August der Starke Um 1718 Marmor; H. 92 cm (mit Sockel), B. 66,5 cm, T. 27 cm Signiert unter dem rechten Arm: »PHeermann. Sc.« (»P« und »H« legiert) Inv.-Nr. H4 2/6 Provenienz: 1768 aus der Hinterlassenschaft des Grafen Heinrich von Brühl erworben.1 Literatur: Titze 2021, 84 f.; Claudia Kryza-Gersch in Koja 2020 a, 163; Claudia Kryza-Gersch in Koja 2020 b, 274; Claudia Kryza-Gersch in Koja/Kryza-Gersch 2020, 112–115, Kat.-Nr. 31; Schmidt 2005, 22; Moritz Woelk in Jackson 2004, 130, Kat.-Nr. 3.1; Moritz Woelk in London 2003, 53, Kat.-Nr. 12; Bärbel Stephan in Dresden 2001 a, 78, Kat.-Nr. 12; Bärbel Stephan in Warschau 1997, 283, Kat.-Nr. 508; Martin Raumschüssel in Dresden 1987, 32, Kat.-Nr. 52; Martin Raumschüssel in Essen 1986, 53, Kat.-Nr. 3; Seelig 1977, 67 f.; Asche 1966, 310; Asche 1961, 137 f.; 172 f.; Degen 1936, 65; Sigismund 1923, 234; Sponsel 1906, 61, Kat.-Nr. 132; Müller 1895, 24 f.; Lipsius 1789, 91. Die signierte Büste ist ein Hauptwerk Paul Heermanns und stellt Friedrich August I. (1670–1733), genannt August der Starke, dar (Abb. 70). Dieser war ab 1694 Kurfürst und Herzog von Sachsen und ab 1697 in Personalunion König August II. von Polen-Litauen, wofür er zum katholischen Glauben konvertierte. August war eine der schillerndsten Figuren unter den europäischen Monarchen des beginnenden 18. Jahrhunderts, ebenso legendär wegen seiner physischen Kraft – worauf sich sein Beiname bezieht – wie der Anzahl seiner Mätressen und unehelichen Kinder. Seine rege Bautätigkeit transformierte Dresden zu einer prachtvollen barocken Residenzstadt, während seine ausgeprägte Sammelleidenschaft zur späteren Gründung von Museen von Weltrang führte. Heermann setzte für sein Bildnis den Kopf des Herrschers auf einen voluminösen Torso, dessen Büste bis unter die Brust reicht und auch Schultern mit Armansätzen umfasst. August trägt eine zeitgenössische Rüstung, über die ein Umhang drapiert ist, auf dem der achtstrahlige Stern des von ihm 1705 gestifteten Ordens des Weißen Adlers eingestickt ist. Die nur dem Souverän zustehende Inschrift »PRO FIDE LEGE GREGE« (»Für Glauben, Gesetz, Nation«) ist auf dem Ordenskreuz zu erkennen, während ein Stück vom Ordensband unter dem Umhang sichtbar ist. Auf dem energisch nach rechts gewandten Haupt trägt der Herrscher eine üppige Allongeperücke, deren bewegte Lockenpracht von Heermanns Meisterschaft in der Führung von Drillbohrer und Meißel zeugt. Nicht nur kompositorisch, auch in der plastischen Modellierung der Gesichtszüge erweist sich Heermann als souveräner Gestalter, der es versteht, die markante Physiognomie des Herrschers, wie seine vollen Lippen, die große Nase und die buschigen Augenbrauen, präzise wiederzugeben, ihnen aber dennoch eine heroische Aura zu verleihen. Das Resultat seiner Bemühungen ist ein überaus repräsentatives Werk, das als »das vielleicht zuverlässigste Bildnis Augusts des Starken« angesehen werden kann.2 In Anbetracht seiner Ausdruckskraft ist es wirklich bedauerlich, dass dieses Bildnis offenbar Heermanns einziges Porträt geblieben ist. Abb. 71 Paul Heermann, August der Starke, Detail mit der Signatur  Abb. 70 Paul Heermann, August der Starke, um 1718, Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1