Leseprobe

9 Dass er einmal Fotograf werden würde, ist Ingolf Thiel nicht in die Wiege gelegt worden. Am 20. August 1943 in Danzig geboren, verbrachte er die ersten Lebensjahre mit seiner Mutter bei den Großeltern in Zoppot, 1945 wurde die Familie nach Dänemark evakuiert, in ein Internierungslager in Aalborg/Jütland. Ende 1947 erfolgte die Übersiedlung nach Asperg in der Nähe von Stuttgart, wo Thiel seine Kindheit und Jugend verbrachte. Von 1959 bis 1967 lebte er in Marbach am Neckar. Nach seiner mit der Mittleren Reife abgeschlossenen Schulzeit absolvierte Thiel ab 1960 zunächst eine Lehre als Schaufenstergestalter im Kaufhaus Union in Stuttgart, die er 1963 mit Auszeichnung abschloss. Bei einem anschließenden Praktikum als Schuhdesigner in Köln ergaben sich erste Kontakte zu Fotografen, allerdings traf Thiel seine Berufswahl letztendlich »eher durch Zufall und aus Verlegenheit. Vielleicht auch deshalb, weil er sich schon früher für Mode interessierte und ihn beim Durchblättern von Journalen der Duft der großen weiten Welt faszinierte. Es beeindruckte ihn ganz einfach, wenn unter einem Foto stand, daß es in der Karibik oder in einem Superhotel in Afrika entstanden ist. Zu der Zeit, so ungefähr im Jahre 1964, wußte der gelernte Schaufenstergestalter lediglich, daß ihn sein Berufsziel, Schuhdesigner zu werden, nicht länger interessierte. Es war ihm zu technisch, zu wenig kreativ. Dann schon lieber Fotograf werden, dachte er.«1  »Aus einer Laune heraus«, so Thiel, bewarb er sich bei dem renommierten Industrie- und Werbefotografen Franz Lazi (1922–1998) in Stuttgart um eine Lehrstelle, »ohne je ein einziges Foto gemacht zu haben.«2 Aber Thiel lernte schnell und schloss auch seine zweite Ausbildung 1967 mit Auszeichnung ab. Er wurde Kammersieger Stuttgart, Landessieger Baden-Württemberg und schließlich als Bundessieger Deutschland vom Bundespräsidenten geehrt. Im Anschluss an seine Lehre blieb Thiel zunächst bei Lazi und übernahm dann zum 1. Januar 1968 die Leitung des Großraumfotostudios H. F. Wehrle KG in Freiburg im Breisgau, kündigte dort aber nach knapp anderthalb Jahren: »Zum Katalog-Fotografieren (und das war unser täglich Brot) hast Du diesen Beruf nicht erlernt, sagte ich mir. Ich machte eine totale Kehrtwendung und fing wieder als kleiner Assistent bei Modefotografen«3 an, von Mai bis Juli 1969 bei Rico Puhlmann in Berlin,4 dann, vom Arbeitsamt dorthin vermittelt, von August 1969 bis Januar 1970 als Assistent und Mitarbeiter im Fotostudio Zwietasch, Murr an der Murr, und schließlich von Januar bis August 1970 bei der Bildjournalistin Karin Kraus in München. Unzufrieden mit den Arbeitsmöglichkeiten in München zog es Thiel schließlich zurück nach Stuttgart, wo er von August 1970 bis Januar 1975 als »Studioleiter und Creativ Berater«5 für Jürgen Dommnich tätig war, der auch schon bei Franz Lazi gelernt hatte.6  Der Arbeitsvertrag mit dem Fotostudio Dommnich sah vor, dass Thiel einerseits am Gewinn beteiligt und andererseits berechtigt war, Aufträge auf eigene Rechnung auszuführen.7 Neben dem Tagesgeschäft für das Studio entstanden Anfang der 70er Jahre vor allem Fotomontagen. Sie waren Thiels Mittel der Wahl, um seine Bildideen adäquat umzusetzen; Raum, Maßstäbe und Perspektiven konnte er so kreativ manipulieren. Ein erstes Mal überschnitten sich die Grenzen zwischen Auftrag und fotokünstlerischem Ausdruck: Die Montagen entstanden einerseits als freie Arbeiten, die 1975 im Stuttgarter AT Musikpodium erstmals in einer Ausstellung gezeigt wurden, zum anderen nutzte Thiel sie zur Umsetzung eigener kommerzieller Aufträge. Seine Fotomontagen dienten als Vorlagen für Plakate und Werbeanzeigen, etwa für das Württembergische Staatstheater. Während der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Theater knüpfte Thiel für seine späteren Aktivitäten als Tänzer, Performer und Kostümbildner wegweisende Kontakte zur neuen Tanzszene rund um das Stuttgarter Ballett von John Cranko, und vor allem lernte er William Forsythe kennen, mit dem er ab 1979 in mehreren Projekten zusammenarbeitete. Zeitgleich fertigte Thiel Architekturfotografien für die Ausstellung Inventur – Stuttgarter Wohnbauten 1865 –1915 des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg im Kunstverein Stuttgart an, für die er 1975 auch das Plakat gestaltete. Unterlagen im Nachlass legen nahe, dass Thiel hier über die Aufnahmen hinaus wohl auch konzeptionell in die Vorbereitung der Ausstellung involviert war – ein erster Ausflug in andere Gefilde. „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 88. „ 2 Mode, Menschen und Montagen, in: Calwer Time. Aktuelles aus der Calwer Straße & Passage, Heft 1 (1981), o. Pag. Dokumente im Nachlass zeigen allerdings, dass Thiel bereits seit seiner Schulzeit regelmäßig fotografierte. „ 3 Ebd. „ 4 Puhlmann schloss sein Berliner Studio Mitte 1969 und wechselte nach New York. „ 5 Schreiben von Jürgen Dommnich an Ingolf Thiel, 31. 10. 1974. „ 6 Vgl. Hans W. Rolli, 1983, S. 90. „ 7 Arbeitsvertrag Ingolf Thiels mit Jürgen Dommnich BDG, o. Datum. 1 Selbstporträt Ingolf Thiel, um 1983

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1