Leseprobe

134 ZEITSPRUNG: 30 JAHRE SPÄTER: 2015 Inzwischen ist die gelernte Innenarchitektin in Berlin gelandet und dort ausgesprochen glücklich. Inzwischen ist sie im Rentenalter und hat nach einer Ausstellung und einem Buchprojekt wieder viel Zeit. Da sortiert man/frau eben seinen Hausstand und/oder sein Leben. Zum Hausstand gehören einige Arbeiten und Unterlagen von Ingo: Fotoabzüge, Ausstellungsplakate, das Programmheft von Gänge inklusive Eintrittskarte, gemeinsame private Fotos: Ingo mit Halbglatze und Pferdeschwanz in der roten Streifenhose tanzend vor ihrer Terrasse in Stuttgart, eine Fotocollage zu ihrem Geburtstag, seine charmanten Umzugsanzeigen… Und natürlich das besondere Heimweh-Foto aus New York – mit inzwischen leider verblichener Signatur. Sie schaut ins allwissende WWW und findet unter Ingolf Thiel überraschend eine Auktionshausmeldung von 2010: Da wurde ein Foto aus seiner Werkserie Moderne Gefühle versteigert. Anderswo findet sich noch eines seiner Motive unter der Bezeichnung Head in a glass cube. Offenbar findet seine Arbeit heute noch Aufmerksamkeit. Jetzt ist sie neugierig: Wie würde sie mit ihrem heutigen Blick all die Arbeiten von Ingo sehen, beurteilen, einschätzen? Nach all den Jahren, in denen sie sich auch mehr und mehr mit Design und Kunst beschäftigt hat.  Sie sucht Ingos Schwester und ruft sie an: »Ich würde so gerne einmal wieder mehr von Ingos Fotos sehen …«. Die Schwester freut sich, sie hat viele Kisten im Keller und anderswo und lädt zum Besuch ein. Zwischendrin hat die Freundin in den Tiefen des Netzes noch Ingos Namen auf der Website eines Regisseurs namens Rolf S. Wolkenstein gefunden – dort sind einige Experimentalfilme, bei denen Ingo mitgespielt hat, aufgeführt. Sie schreibt eine Mail. Ganz einfach kommen sie zusammen: Er wohnt in Berlin, gar nicht weit weg. Und dann kommt langsam eine Maschinerie in Gang. Es formiert sich ein kleines Arbeitsteam zur Sichtung des Nachlasses: Ingos Schwester, seine ehemalige Laborfrau und Galeristin, ein ehemaliger Fotografenkollege (beide aus Stuttgart) und die beiden aus Berlin: der Regisseur und sie, die alte Freundin. Sie treffen sich mehrmals einige Tage lang in der Nähe von Pforzheim auf dem Land, wo die Schwester wohnt. Die ist hoch zufrieden, dass jetzt Bewegung in den Nachlass kommt. Alleine war das nicht zu schaffen. In mühsamer Kleinarbeit wird Stück für Stück sortiert und notiert. 2 Fotostudio Zwietasch: Gruppenfoto am Set für Möbelwerbung mit Ulla Rogalski (Mitte) und Ingolf Thiel (rechts), November 1969

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