Leseprobe

133 In einem kleinen Fotostudio in der württembergischen Provinz haben sie sich 1969 kennengelernt: der Foto-Assi(stent) aus Stuttgart mit den langen Haaren und schrägen Klamotten und die etwas jüngere Innenarchitektin aus München. Sie leitet von Seiten des Kunden die Fotoaktion und hat die Studio-Aufbauten mit den farbig akzentuierten Jugendmöbeln geplant. Ihr Chef hat mit ihr zusammen das Programm für einen großen Möbelhersteller entworfen, inklusive der visuellen Kommunikation. Er ist Fotograf und arbeitet hier im Studio als Assistent. Beide fallen da ein wenig aus dem Rahmen, diese Umgebung ist nicht ihre Welt. Das führt zusammen. Letzter Tag der Fotoaktion: Da wird immer gefeiert. Dass man das Pensum in den gebuchten Tagen absolviert hat, dass keiner von einer wackeligen Wand getroffen wurde, kein Aufbau wegen falscher Belichtung wiederholt werden musste. Und dass die sich bisher Fremden verschiedener Profession und Mentalität zu einem gut funktionierenden Team zusammengefunden haben, auch an langen Arbeitstagen. Alle posieren auf einem Erinnerungsfoto: der Fotograf, zwei weitere »Assis« und in der Mitte thront sie mit Indien-Halstuch im aufblasbaren Sessel, er hockt daneben mit Lammfellweste1 und hohen Stiefeln auf dem damals zeittypischen Flokati-Teppich (Abb. 2).  Sie wohnt in München. Er kommt bald nach und arbeitet dort in einem Fotostudio, genießt das Münchner Nachtleben, das damals das heißeste in der Republik ist. In Stuttgart war er einer der wenigen Paradiesvögel, selbst in der aufgeschlossenen Künstler- und Homo-Szene. 1971 zieht er trotzdemwieder zurück nach Stuttgart. Sie folgt im gleichen Jahr zufällig dorthin – wegen einer neuen, interessanten Stelle. Sie sind ja kein Paar, sie sind sehr enge Freunde. Er arbeitet zuerst in einem Fotostudio. Eigentlich will er nur frei arbeiten – und nicht nur im begrenzten Bereich Fotografie. Ab 1975/76 hat er endlich ein eigenes Studio. Er wird Mitglied der Performancegruppe famili und reist 1979 mit ihnen zu Auftritten nach New York. Dort entsteht eine Fotoserie, inszenierte Szenen, die er Heimweh nach dem Traurigsein nennt. Von einem Motiv schenkt er ihr einen Handabzug und sagt etwas theatralisch: »Ich signiere dir das – ich werde später mal berühmt.« Es hört sich komisch an – beide lachen.  Er ist in vielen Milieus unterwegs: Er ist der neuen Tanzszene rund um das Stuttgarter Ballett von John Cranko nahe, er fotografiert dort und lernt 1973 William Forsythe kennen, der damals noch Tänzer war. Später wird er viel mit ihm zusammenarbeiten. Höhepunkt wird 1983 die erste Forsythe-Choreografie für das Frankfurter Ballett in der Alten Oper sein. Etliche Kostüme stammen da von Ingo und natürlich alle Fotos im Programmbuch. 1980/81 tanzt er sogar unter Forsythes Regie auf dem Werner HenzeFestival in der Toskana und den nachfolgenden Aufführungen in Kopenhagen und Stuttgart. Zwischendrin fotografiert er alles Mögliche, viel Mode, auch Architektur für das Landesdenkmalamt. Mit einer Werbeagentur konzipiert und realisiert er eine später preisgekrönte Anzeigenkampagne für Mustang Jeans. Er macht Fotomontagen für Mercedes Benz und für den Playboy, auch Platten- und Buchcover. Für Kodak probiert er neues Filmmaterial aus, schafft dafür skurrile Rauminstallationen. Auch bewegte Bilder reizen ihn. Er spielt in einigen experimentellen Filmen mit wie auch in einem Episodenfilm, den das ZDF 1986 sendet, an der Seite von Christine Kaufmann und Karlheinz Böhm. Dann wieder kreiert er Schaumstoffhüte und -kleider. Zwischendrin, 1977, stoppt ihn ein Herzinfarkt, das muss sie damals seinen Eltern schonend beibringen.  1980 zieht sie nach Heidelberg, wieder wegen eines neuen Jobs. Man sieht sich seltener, bleibt sich aber nahe. Am 27. Februar 1983, ihrem Geburtstag, lädt er sie zur ersten Forsythe-Premiere in Frankfurt ein, zum Ballett Gänge. Anfang 1985 telefonieren sie. Er möchte im März unbedingt wieder nach Lanzarote, auch zum Fotografieren – ob sie nicht mitkommen mag? Sie ist unsicher, es liegen Termine an… Denn seit zwei Jahren ist sie selbstständig und muss schauen, »dass der Laden läuft«. Und sie ist gerade dabei, ein großes gemeinsames Fest mit einem Freund zu planen. Mit dem geht sie im März auf Location-Suche. Als sie nach Hause kommt, ist erstmals in ihrem Leben der Anrufbeantworter voll. Alle teilen ihr mit, dass Ingo nicht mehr lebt. Ihm ging es auf Lanzarote so schlecht, dass er vorzeitig zurückreiste – ins Krankenhaus. Er starb am 16. März 1985 in Stuttgart im Alter von nur 41 Jahren – am zweiten Herzinfarkt. 1 Modeaufnahme mit Ellen von Unwerth (rechts), um 1976 „ 1 Ingos Schwester sieht 2021 erstmals das Abschiedsfoto aus dem Fotostudio von 1969 und schreibt: »Die Hippie-Weste hat mein damaliger Freund Henri von einem Indien-Trip mitgebracht… heute ist die Weste in der Schule für Krippenspiele im Fundus und war schon zigmal im Einsatz!!!«

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