Leseprobe

51 beschäftigten Thiel über mehrere Jahre. 1984 entwickelte er eine dritte, deutlich leichtere und in manchen Motiven humorvolle Serie, die er unter dem Titel Liebesgeschichten zusammenfasst. Wenngleich in loser Folge entstanden, so suggerieren die Liebesgeschichten dennoch eine narrative Lesart, die durch die an Filmstills erinnernden Settings noch verstärkt wird. Trotz aller spielerischen Details bleibt aber auch dieser Serie eine gewisse melancholische Grundierung erhalten, die sich in teils streng formalen Kompositionen niederschlägt, so etwa bei den der Serie zuzuordnenden Figuren im Raum (Abb. S. 86u.): »Quadratisch, praktisch, gut. Der Mensch und der Meter, das Maß aller Dinge.«16 Das Kodak-Magazin zur photokina 1984 erkennt darin »ein modernes Gegenstück zu Outerbridge’s klassischem Formenspiel. […] Auch hier leben Sujet und Komposition offensichtlich von Quadrat / Rechteck / Kreis / Kreisbogen und Dreieck / Diagonale. (Offensichtlich zwar für den spitzfindigen Formensucher, doch schon ganz schön verdeckt für den schlichten Beschauer.)«17 Ähnlich sieht es das foto magazin: Thiel »experimentiert schon seit Jahren mit den geometrischen Grundformen, läßt nach eigenen Plänen dreidimensionale Körper und Räume bauen, die er im Studio (manchmal auch im Freien) verwendet und die Eingang in seine professionelle Werbefotografie finden. Die Themen erfindet er selbst und ist damit oft dem Trend der Zeit und den damit verbundenen modischen Richtungen voraus.«18  Auf die Frage, worin er die Zukunft seiner fotografischen Arbeiten sehe und was ihn am meisten interessiere, hatte Ingolf Thiel 1983 in ZOOM geantwortet, »daß er vor allem immer viel Phantasie haben und dies in seinen Bildern ausdrücken wolle. Weil gerade dies ihm in unserem Zeitalter der Technik als besonders wichtig erscheine. Auf jeden Fall möchte er sich weiterhin dem Thema ›Mensch‹ widmen, und ansonsten würde er gerne etwas mehr für Zeitschriften fotografieren. ›Aber nicht unbedingt die in Deutschland so üblichen Lustig-lustig-trallala-Bilder. ImMoment sitze ich in dem Elfenbeinturm der Neo-Sachlichkeit, mit sehr schlichten, reduzierten Bildern; in einer Mischung aus Hollywood und Kraft durch Freude ’83‹.«19 Visuelle Chiffren von Zeitgeist und rohe Do it yourself-Ästhetik auf der einen, filmische Gestaltung mit – vor allem in Heimweh nach dem Traurigsein und in den Liebesgeschichten – an Filmstills erinnernden Settings auf der anderen Seite evozieren jedoch eher ein Amalgam aus Punk und Hollywood, das auch Thiel selbst an anderer Stelle als kennzeichnend für sein Werk betrachtet hatte.20  Fotografien mit dem parodierenden Titel Lanzarote. Kraft durch Freude entstanden dann 1984 tatsächlich. Im Mittelpunkt dieser letzten konzeptionellen Serie Thiels (Abb. S. 136 –139) stehen einmal mehr der Körper und der Versuch, sich mittels Inszenierung, Konstruktion und Manipulation der eigenen Authentizität und Leiblichkeit zu vergewissern. Anstelle der Torsi und bandagierten Körper der späten 70er Jahre tritt jedoch eine Art persiflierte Künstlichkeit, ein Spiel mit physischer und artifizieller Präsenz, das in Moderne Gefühle bereits angelegt ist. Der Frage nachzugehen, was sich hinter dem allgegenwärtigen Bedürfnis nach Schönheit und dem Streben nach Makellosigkeit verbirgt, welche Projektionen und Wünsche damit verbunden sind, erscheint als ein Kontinuum der Arbeiten Ingolf Thiels. Es soll jedoch »dem Leser überlassen bleiben, die sehr eigenwilligen, surreal anmutenden Bilder zu deuten, denn Ingolf Thiel zieht einer Bildinterpretation die Veröffentlichung von R[olf S.] Wolkensteins Gedicht vor: ›Die Oberfläche ist so tief – wenn man mit der Perfektion von Maschinen einen Schnitt macht durch die innersten Gefühle – wenn man das Imaginäre kurz in Händen spürt, ohne zuzugreifen – wenn man etwas sagt, ohne zu antworten – wenn man Sehnsucht hat.‹«21 „ 16 Der Kodak Room. Für alle Profis zur photokina ’84, Halle 8, Obergeschoss (Werbemagazin), 1984, o. Pag. „ 17 Ebd. „ 18 eh: Foto-Geometrie mit Schaumstoff, Licht und Lurex. Profi-Report: Ingolf Thiel, in: foto magazin, April (1984), S. 94 – 97, hier S. 94 f. „ 19 Hans W. Rolli, 1983, S. 90. „ 20 Vgl. Ingolf Thiel. Portfolio, 1984, S. 71. „ 21 Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, 1982, S. 28. 2 Doppelseite aus Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, in: nikon news, Nr. 2, 1982

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