Leseprobe

Fotografie 1975–1985

Herausgegeben von Jens Bove und Simone Fleischer Sandstein Verlag Fotografie 1975 – 1985

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INHALT 6 Vorwort Jens Bove  Simone Fleischer 8 Ingolf Thiel Multitalent Jens Bove  Simone Fleischer 12 Einsame Bank um1976 14 M ode, Menschen und Montagen Die frühen Arbeiten Jens Bove  Simone Fleischer 20 Fotomontagen 1975–1980 40 Außenseiter der Mode 1976/77 44 Körperbilder 1978/79 48 Moderne Gefühle Schönheit mit Widerhaken Jens Bove 52 Moderne Gefühle 1978–1984 72 Heimweh nach dem Traurigsein 1979 84 Liebesgeschichten 1984 94 Anzuggeschichten – Eine Woche Hausverlassen 1984 98 L eute von heute Werbung und Auftragsarbeiten Jens Bove  Simone Fleischer 106 Werbung, Auftragsarbeiten 1980–1982 112 Schaumstoffmode 1982 116 Leute von heute 1981/83 120 Ektaflex 1984 122 Events, Ballett & Neonschatten Im Cross-over der Künste Simone Fleischer 132 Sie trifft/1969 »Ich werde mal berühmt« Ulla Rogalski 136 Lanzarote. Kraft durch Freude 1984 140 Anhang

8 INGOLF THIEL MULTITALENT JENS BOVE SIMONE FLEISCHER

9 Dass er einmal Fotograf werden würde, ist Ingolf Thiel nicht in die Wiege gelegt worden. Am 20. August 1943 in Danzig geboren, verbrachte er die ersten Lebensjahre mit seiner Mutter bei den Großeltern in Zoppot, 1945 wurde die Familie nach Dänemark evakuiert, in ein Internierungslager in Aalborg/Jütland. Ende 1947 erfolgte die Übersiedlung nach Asperg in der Nähe von Stuttgart, wo Thiel seine Kindheit und Jugend verbrachte. Von 1959 bis 1967 lebte er in Marbach am Neckar. Nach seiner mit der Mittleren Reife abgeschlossenen Schulzeit absolvierte Thiel ab 1960 zunächst eine Lehre als Schaufenstergestalter im Kaufhaus Union in Stuttgart, die er 1963 mit Auszeichnung abschloss. Bei einem anschließenden Praktikum als Schuhdesigner in Köln ergaben sich erste Kontakte zu Fotografen, allerdings traf Thiel seine Berufswahl letztendlich »eher durch Zufall und aus Verlegenheit. Vielleicht auch deshalb, weil er sich schon früher für Mode interessierte und ihn beim Durchblättern von Journalen der Duft der großen weiten Welt faszinierte. Es beeindruckte ihn ganz einfach, wenn unter einem Foto stand, daß es in der Karibik oder in einem Superhotel in Afrika entstanden ist. Zu der Zeit, so ungefähr im Jahre 1964, wußte der gelernte Schaufenstergestalter lediglich, daß ihn sein Berufsziel, Schuhdesigner zu werden, nicht länger interessierte. Es war ihm zu technisch, zu wenig kreativ. Dann schon lieber Fotograf werden, dachte er.«1  »Aus einer Laune heraus«, so Thiel, bewarb er sich bei dem renommierten Industrie- und Werbefotografen Franz Lazi (1922–1998) in Stuttgart um eine Lehrstelle, »ohne je ein einziges Foto gemacht zu haben.«2 Aber Thiel lernte schnell und schloss auch seine zweite Ausbildung 1967 mit Auszeichnung ab. Er wurde Kammersieger Stuttgart, Landessieger Baden-Württemberg und schließlich als Bundessieger Deutschland vom Bundespräsidenten geehrt. Im Anschluss an seine Lehre blieb Thiel zunächst bei Lazi und übernahm dann zum 1. Januar 1968 die Leitung des Großraumfotostudios H. F. Wehrle KG in Freiburg im Breisgau, kündigte dort aber nach knapp anderthalb Jahren: »Zum Katalog-Fotografieren (und das war unser täglich Brot) hast Du diesen Beruf nicht erlernt, sagte ich mir. Ich machte eine totale Kehrtwendung und fing wieder als kleiner Assistent bei Modefotografen«3 an, von Mai bis Juli 1969 bei Rico Puhlmann in Berlin,4 dann, vom Arbeitsamt dorthin vermittelt, von August 1969 bis Januar 1970 als Assistent und Mitarbeiter im Fotostudio Zwietasch, Murr an der Murr, und schließlich von Januar bis August 1970 bei der Bildjournalistin Karin Kraus in München. Unzufrieden mit den Arbeitsmöglichkeiten in München zog es Thiel schließlich zurück nach Stuttgart, wo er von August 1970 bis Januar 1975 als »Studioleiter und Creativ Berater«5 für Jürgen Dommnich tätig war, der auch schon bei Franz Lazi gelernt hatte.6  Der Arbeitsvertrag mit dem Fotostudio Dommnich sah vor, dass Thiel einerseits am Gewinn beteiligt und andererseits berechtigt war, Aufträge auf eigene Rechnung auszuführen.7 Neben dem Tagesgeschäft für das Studio entstanden Anfang der 70er Jahre vor allem Fotomontagen. Sie waren Thiels Mittel der Wahl, um seine Bildideen adäquat umzusetzen; Raum, Maßstäbe und Perspektiven konnte er so kreativ manipulieren. Ein erstes Mal überschnitten sich die Grenzen zwischen Auftrag und fotokünstlerischem Ausdruck: Die Montagen entstanden einerseits als freie Arbeiten, die 1975 im Stuttgarter AT Musikpodium erstmals in einer Ausstellung gezeigt wurden, zum anderen nutzte Thiel sie zur Umsetzung eigener kommerzieller Aufträge. Seine Fotomontagen dienten als Vorlagen für Plakate und Werbeanzeigen, etwa für das Württembergische Staatstheater. Während der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Theater knüpfte Thiel für seine späteren Aktivitäten als Tänzer, Performer und Kostümbildner wegweisende Kontakte zur neuen Tanzszene rund um das Stuttgarter Ballett von John Cranko, und vor allem lernte er William Forsythe kennen, mit dem er ab 1979 in mehreren Projekten zusammenarbeitete. Zeitgleich fertigte Thiel Architekturfotografien für die Ausstellung Inventur – Stuttgarter Wohnbauten 1865 –1915 des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg im Kunstverein Stuttgart an, für die er 1975 auch das Plakat gestaltete. Unterlagen im Nachlass legen nahe, dass Thiel hier über die Aufnahmen hinaus wohl auch konzeptionell in die Vorbereitung der Ausstellung involviert war – ein erster Ausflug in andere Gefilde. „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 88. „ 2 Mode, Menschen und Montagen, in: Calwer Time. Aktuelles aus der Calwer Straße & Passage, Heft 1 (1981), o. Pag. Dokumente im Nachlass zeigen allerdings, dass Thiel bereits seit seiner Schulzeit regelmäßig fotografierte. „ 3 Ebd. „ 4 Puhlmann schloss sein Berliner Studio Mitte 1969 und wechselte nach New York. „ 5 Schreiben von Jürgen Dommnich an Ingolf Thiel, 31. 10. 1974. „ 6 Vgl. Hans W. Rolli, 1983, S. 90. „ 7 Arbeitsvertrag Ingolf Thiels mit Jürgen Dommnich BDG, o. Datum. 1 Selbstporträt Ingolf Thiel, um 1983

10 PROMINENTES MITGLIED UNSERES BERUFSVERBANDES Ab 1975 hatte Thiel ein eigenes kleines Studio in der Römerstraße 67b in Stuttgart. Aufträge kamen unter anderem von den Zeitschriften Elle, Nora, Linea Italiana, Playboy und vor allem von zahlreichen Modelabels wie Bleyle, Breuninger, Einhorn, Jockey oder Lee Cooper und aus der Industrie, etwa von Daimler-Benz. Er hatte zunehmenden Erfolg. 1977 erlitt er einen Herzinfarkt, der zu einer Schaffenspause bis weit in das Jahr 1978 hinein führte. Dennoch scheint Thiel seinen Output noch forciert zu haben. Im gleichen Jahr folgte eine Ausstellung freier Arbeiten in der Stuttgarter Galerie Kubinski und die Aufnahme in den Bund Freischaffender Foto-Designer (BFF): »Seit 1978 wurde er mehr und mehr zum prominenten Mitglied unseres Berufsverbandes. Seine intensiven Beziehungen zu außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeiten, seine Nähe zu Theater und Ballett, seine Liebe zum Tanz schlugen sich immer wieder neu in seinen Fotografien nieder. Er hatte sich damit die unbestrittene Kompetenz erworben, seine fotografisch-künstlerischen Ideen jeweils dort durchzusetzen, wo er auf kongeniale Partner im Artwork traf.«8  Und Ingolf Thiel traf seine Partner in allen Sparten der Kunst, seine kreative Energie schien ab 1979 keine Grenzen zu kennen. Er entwarf Kostüme für die experimentelle, von Randi Bubat konzipierte und von William Forsythe inszenierte Modenschau-Performance Event, war Mitglied der Performancegruppe famili, mit der er, ebenfalls 1979, zu Auftritten nach New York reiste. Dort entstand die Serie Heimweh nach dem Traurigsein, die für viele seiner künftigen, zugleich der klassischen Schwarzweiß-Fotografie und dem Zeitgeist verpflichteten freien Arbeiten wegweisend wurde. 1980/81 wirkte Thiel als Tänzer in dem von William Forsythe choreografierten Ballett Schade, daß sie eine Hure ist in Montepulciano, Kopenhagen und Stuttgart mit. Bis 1982 war er in nicht weniger als vier Filmproduktionen zu sehen: 1979 in einer Nebenrolle in Neonschatten, 1981 an der Seite von Christine Kaufmann im Episodenfilm Inflation im Paradies sowie im Experimentalfilm Homo Saphires – der wertvolle Mensch seines Freundes Rolf S. Wolkenstein, 1982 schließlich im Stop Motion-Kurzfilm Der Tanz Mechanikk, ebenfalls unter Wolkensteins Regie. Besonderes Highlight war im Februar 1983 die Premiere der ersten, einmal mehr skandalträchtigen Forsythe-Choreografie für das Frankfurter Ballett, Gänge. Ein Stück über Ballett an der Alten Oper. Thiel entwarf die Kostüme des dritten Teils, außerdem übernahm er die Fotodokumentation der achtmonatigen, im Juni 1982 aufgenommenen Proben. Die Kostüme waren eine Weiterentwicklung seiner wiederum um 1979 begonnenen Ausflüge in das Modedesign: Schaumstoffkreationen, die auch Eingang in seine freien Arbeiten fanden und die er zeitgleich als »freie Arbeiten im Auftrag« für die Produktwerbung von Kodak in Szene setzte. Parallel zu all diesen genreübergreifenden Streifzügen arbeitete Thiel weiterhin an großen Aufträgen für Mode und Industrie, so an seiner preisgekrönten, überaus erfolgreichen Werbekampagne Leute von heute, von sich selbst fotografiert, seine bekannteste Arbeit, die er mit der Agentur Leonhardt + Kern, Stuttgart, für Mustang Jeans in Künzelsau produzierte. Die Kampagne war zwischen 1981 und 1983 allgegenwärtig – als ganzseitige Anzeigenmotive wurden die Aufnahmen millionenfach unter anderem in Stern, Spiegel, Freundin, Bravo, Motorrad, Kicker, Sounds oder Musikexpress geschaltet. AUF DER ÜBERHOLSPUR Wie getrieben auf dem Weg zum Erfolg hetzte Thiel Anfang der 80er Jahre von Engagement zu Engagement, bediente mit dem Cover der LP Herzklopfen der Münchner Neue Deutsche WelleBand Zero Zero auch Aufträge für die Musikindustrie und produzierte mit wachsendem Erfolg vermehrt freie Arbeiten, die ihren Weg in Einzel- und Gruppenausstellungen fanden. An seiner meistrezipierten, in mehreren Portfolios veröffentlichten Werkserie Moderne Gefühle arbeitete er mehrere Jahre. In ihr bannte Ingolf Thiel die gleichermaßen bunte wie kalte Neonwelt desillusionierter Individuen in strenges Schwarzweiß. Die Serie wurde damit zum Zeugnis einer Selbstvergewisserung und Selbstvermessung – einer Suche nach dem Selbst inmitten des von Punk angestoßenen Aufbruchs in eine nüchterne, antiromantische Phase, deren Name sich gerade herausbildete: New Wave. Mit seiner dezidiert coolen Ästhetik nahm Thiel endgültig „ 8 Walter E. Lautenbacher: Ingolf Thiel 20-8-43 16-3-85. Auszug aus der Trauerrede für den BFF (Manuskript), o. Datum (1985).

11 Abschied von der warmen, als gescheitert betrachteten »Hippie-Kultur« der 70er Jahre. Er thematisierte Individualisierung und Vereinzelung, Entfremdung von der Natur, Zweifel am Konzept der romantischen Liebe oder die Wirkung von Medien an der Schwelle zur Digitalisierung. Als strukturbildende Stilmittel setzte er Selbstironie, Witz und Parodie ein, ferner eine gewisse avantgardistische Düsternis, Coolness und bewusste Übertreibung, die seine oberflächlichmimetische Annäherung an eine als »Welt aus Beton« empfundene Gegenwart stets begleiteten.  Umtriebig, fast atemlos war Ingolf Thiel in vielen Künsten unterwegs, kehrte aber »immer wieder zu seiner größten Leidenschaft, seinem stärksten Talent zurück: der Fotografie«,9 so auch für die skurrilen Rauminstallationen der Serie Schauraum, die ab Ende 1983 im Auftrag von Kodak entstand, eine der ersten Arbeiten in seinem neuen, größeren Studio in der Landhausstraße 37a in Stuttgart, das er am 1. August 1983 bezogen hatte. Im September 1983 war ein umfangreiches Porträt über ihn in ZOOM erschienen;10 1984 folgten Portfolios in Photographie,11 w&v12 und foto magazin.13 Im gleichen Jahr fotografierte Thiel auf Lanzarote Rolf S. Wolkenstein für die Serie Kraft durch Freude, imMärz 1985 wollte er unbedingt wieder auf die Kanarischen Inseln. Das letzte seiner zahlreichen Selbstporträts entstand dort (Abb. 2). Mit langen Lupen schaut er in die Erde. Jutta Rößner erklärte er das Bild mit den Worten »Meine Zukunft liegt unter der Erde«14. Die Ausstellung dieser Fotografie erlebte er nicht mehr.15 Seine zusehends angeschlagene Gesundheit zwang ihn zur vorzeitigen Rückreise, in ein Stuttgarter Krankenhaus. Thiel starb am 16. März 1985. Am zweiten Herzinfarkt. Auf der Überholspur. Sein Selbstporträt für die Mustang-Kampagne tourte da in der Ausstellung Foto-Design als Auftrag des BFF bereits über mehrere Jahre von Köln über Tokio, Osaka, New York, Rochester, Toronto, Berlin, Bradford, Paris, Budapest und Belgrad bis nach Singapur. „ 9 Jutta Rößner-Kropp: Ingolf Thiel, Vortrag für den BFF (unveröffentlichtes Manuskript), 7. 3. 1986. „ 10 Vgl. Hans W. Rolli, 1983, S. 88 – 93. „ 11 Ingolf Thiel. Portfolio, in: Photographie. Das internationale Monatsmagazin für Fotografie und Film, Juni, 8. Jg. (1984), S. 71–76. „ 12 Ektaflex-Unikate, w&v [Werben & Verkaufen] Nr. 9 (2. 3. 1984), S. 44. „ 13 eh: Foto-Geometrie mit Schaumstoff, Licht und Lurex. Profi-Report: Ingolf Thiel, in: foto magazin, April (1984), S. 94 – 97. „ 14 Auskunft Ulla Rogalski, 2022 „ 15 Das Selbstportrait im Zeitalter der Photographie. Maler und Photographen im Dialog mit sich selbst, hg. v. Erika Billeter, Ausst.-Kat. Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne, 18.1.–24. 3. 1985, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 19. 4.–9. 9. 1985, Akademie der Künste Berlin, 1. 9.–6. 10. 1985, Bern 1985. 2 Selbstporträt Ingolf Thiel auf Lanzarote, 1985

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48 MODERNE GEFÜHLE SC ÖNHEIT MIT WIDERHAKEN JENS BOVE

49 Ende der 70er Jahre werden die freien Arbeiten Ingolf Thiels gewissermaßen fotografischer, die klassische Schwarzweißfotografie rückt, mit Zeitgeist aufgeladen, ins Zentrum seiner künstlerischen Arbeit und ersetzt weitgehend die Fotomontage. Während einer Reise mit der Performancegruppe famili nach New York war der Fotograf 1979 offenkundig in den Sog der vom Punk angestoßenen NewWave geraten, was seinen fotografischen Stil grundlegend verändern sollte. Unter dem Eindruck der »faszinierenden Anfänge der New-Wave-Bewegung […], die hierzulande damals selbst unter Insidern nur vom Hörensagen bekannt war«,1 entstand seine erste Schwarzweiß-Serie Heimweh nach dem Traurigsein (Abb. S. 72– 83), die 1982 in der Stuttgarter Galerie Tanja Grunert ausgestellt wurde. Vielleicht dachte Thiel bei der Konzeption an den von Marlene Dietrich interpretierten Friedrich Hollaender-Song Wenn ich mir was wünschen dürfte, in dem es heißt: »Wenn ich mir was wünschen dürfte / Möchte ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu glücklich wär’ / Hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein.« In jedem Fall findet sich die Melancholie der Hollaender’schen Zeilen und die Skepsis gegenüber dem Konzept des Glücklichseins in den Bildmotiven wieder: Isolierte, vereinzelte Menschen stemmen sich gegen übergroße Häuserschluchten, irren durch verlassene U-Bahnstationen und stranden in anonymen Hotelzimmern, in denen nicht mal das Fernsehbild zuverlässig Gesellschaft leistet.  Indifferenz und Skepsis scheinen die Gefühlswelt um 1980 generell zu kennzeichnen. Thiels freie Fotografien dieser Zeit transportieren eine radikal subjektive Kunst, aber Eskapismus war nicht mehr angesagt. Punks wollten sich nicht betäuben mit Träumen vom fernen Glück, sondern der verschwundenen Zukunft mit weit aufgerissenen Augen entgegenlaufen. Maschinen machen krank, das war klar, aber Kranksein war jetzt cool, hart wie die Maschinen selbst sein, das Ziel.2 Die Kälte der Maschinen, des technisierten Alltags, die Härte, mitunter Brutalität der Verhältnisse ist allgegenwärtig in diesen Bildern Thiels. Dennoch: Mit dem Punk kommt auch eine gewisse Melancholie. Thiels Fotografien zeigen Menschen, deutlich als Models zu erkennen, in Raumkonstellationen, die sich nicht mehr in der eigentlichen Realität zu befinden scheinen, aber dennoch genug Anbindung an die Gegenwart haben, um die Betrachtenden zu involvieren. Der ursprüngliche No Future-Gedanke des Punk wird in Thiels Serien zunehmend in einen ganz dem New Wave verpflichteten, äußerst kühlen, desillusioniert-romantischen Kontext gesetzt – man ist schließlich cool. EXAKT UND KÜHL GESTYLT Coolness und Desillusion bestimmen vor allem die hochartifiziell gestylten Motive der Serie Moderne Gefühle, an der Thiel seit Anfang der 80er Jahre kontinuierlich gearbeitet hat.3 Sie gehört zu seinen bekanntesten und populärsten Arbeiten, die 1982 unter anderem in den Gruppenausstellungen Gunter Sachs, Eveline Meeuwse, Ingolf Thiel und Junge deutsche Fotografie in der Zürcher Nikon Foto Galerie zu sehen waren und außerdem als Portfolios 1982 in nikon news und 1984 in Photographie publiziert worden sind.  Die Modernen Gefühle Thiels zeigen die Menschen und ihre Körper in weitgehend quasi raumlosen Bildräumen zwischen Artifizialität und Natürlichkeit,4 in einer Art Zwischenwelt. Die ausnahmslos männlichen Models stellen darin in äußerst statischen Kompositionen die Verletzlichkeit bei gleichzeitiger Optimierung des eigenen Körpers zur Schau. Die extreme Nahsicht verhilft zu unmittelbarer Präsenz, die involviert, wenn nicht gar in den Bann schlägt. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung wird man jedoch über die ›schöne‹ Oberfläche hinausweisender, irritierender Details gewahr: Nägel, die sich in Köpfe bohren, Scherben, die Gesichtern gefährlich nahekommen, Kabelenden als Fesseln inszeniert. Durch die subtile Brechung des Schönen präsentieren die Fotografien den Körper gleichermaßen in Absetzung und in Abhängigkeit von dessen intensiver Präsenz in den Massenmedien und der Konsumwelt der Werbung, deren perfekte Körperlichkeit als infrage zu stellende Folie stets mitzulesen ist. Die Bilder reagieren damit auf eine von den Massenmedien geschaffene, inszenierte und idealisierte Realitätskonstruktion, der die zivilisierte, westliche Gesellschaft nachzueifern versucht. Der dadurch entstehende gesellschaftliche Druck erhebt den eigenen Körper leibhaftig zu einem Instrument der täglichen Selbstinszenie1 O. T. (Pose, Model: Rainer Grupe), aus der Serie Moderne Gefühle, 1981/82 (Ausschnitt) „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 90. „ 2 Vgl. Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München, 25. 6. –11. 10. 2015, Ostfildern-Ruit 2015, S. 118 f. „ 3 Thiel produzierte fast durchgängig 30×40 cm große Prints. Die Aufnahmen wurden mit einer Nikon FM und dem Objektiv Nikkor 85mm f/2 gemacht. Als Lichtquellen dienten Kunst- oder Blitzlicht (vgl. Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, in: nikon news, Nr. 2 (1982), S. 28 –31). „ 4 Vgl. Christin Sander: Natürlich Künstlich. Kunst und Körperbild zwischen physischer und artifizieller Präsenz, in: www.medienobservationen.de, 2011, S. 1 f.

50 rung,5 was Thiel mit seinen mit Gefühlen wie Isolation und Einsamkeit unterlegten »leicht übersteigerten surrealistischen Porträts«6 seinerseits reinszeniert.  Der Fotograf selbst sah sich dabei weniger in der Tradition der Surrealisten als vielmehr am Puls der Gegenwart: »Wenn er [d. i. Ingolf Thiel] Einflüsse gelten lässt, dann am ehesten jene einer bestimmten Hollywoodzeit oder – neueren Datums – der ganzen Punk-Bewegung. […] Parallel zu seiner lebenshaltenden kommerziellen Beschäftigung mit Mode, Beauty und schönen Modellen betreibt er, für ihn mehr als nur wichtiger Ausgleich, seine freie Fotografie. […] Ein bisschen sieht er diese Bilder denn auch als kleine, private Abrechnung mit der kommerziellen Berufsfotografie. Seine Porträts haben nicht umsonst sehr viel mit Werbefotografie gemeinsam. Sie sind ebenso exakt und kühl gestylt, wie es heute ›in‹ ist. Sie sind ebenso ›schön‹.«7 Damit ist Schönheit als zentrale Kategorie benannt. Allerdings erfährt der Körper durch die aggressive Publizität der Medien eine massive Verwandlung, denn nicht das außergewöhnliche und individuelle Bild des Körpers wird propagiert, sondern das gegenwärtig normierte Schöne.8 In den Modernen Gefühlen erweist sich Schönheit als eine »Schönheit mit Widerhaken«, wie Hans W. Rolli sein Porträt über Thiel in der Zeitschrift ZOOM 1983 benennt. Thiel betonte darin: »Bei meinen freien Arbeiten […] wird diese Schönheit reflektiert. Die Bilder sind dann oft so schön, daß sie für mich schon wieder fast zum Kotzen sind. Mit eingebauten Elementen, die eben diese Schönheit negieren,«9 jedoch nicht in plakativ zugespitzter Eindeutigkeit, sondern stets ambivalent. Jeder Betrachter, so Thiel, solle aus einem Bild vielmehr seine eigene Geschichte herauslesen, »erst wenn diese Vielschichtigkeit erreicht ist, dann finde ich meine Fotos gut.«10  Neben der angesprochenen Wirkmacht der Massenmedien könnte auch die Ende der 70er Jahre einsetzende Fitnesswelle als Hintergrund für eine dieser vielschichtigen Bedeutungsebenen gelesen werden. Durch visuelle Medien vermittelte »Pop-Körper«, wie die von Farrah Fawcett oder Arnold Schwarzenegger, lieferten Bilder idealer Körperlichkeit, die nicht nur auf die Mode, sondern auch auf den Körper und dessen Wahrnehmung einwirkten. Sie gaben die Richtung vor, nach der die Identifikation strebte.11 Wie die Aerobic-Welle appellierte das damals noch »Trimm-Dich-Laufen« genannte Jogging an die Leistungsbereitschaft und das individuelle Streben nach Schönheit und Glück. Insbesondere Bodybuilding und Jogging waren als Praxen der Selbstformung immer auch »Modelle dafür, sich dem neoliberalen ökonomischen Imperativ entsprechend als ein aktives und selbstverantwortliches Subjekt zu konstituieren«.12 Andererseits hatte Fitness als eigenständiges, prägendes kulturelles Feld immer auch mit Emanzipation und Empowerment zu tun.13 So oder so scheint auf den Imperativ der Selbstformung in Thiels fotografischer Interpretation, angesichts wiederkehrender Requisiten wie Zollstöcke und Maßbänder, stets auch die Selbstvermessung des Individuums zu folgen. Die (mediale) conditio humana des Körpers zwischen Realitätskonstruktion und Inszenierungsdruck wird Gegenstand künstlerischer Reflexion. PUNK UND HOLLYWOOD Die Serie Moderne Gefühle zeigt, so eine zeitgenössische Interpretation von 1982, »in beeindruckender Weise, wie durch eine unterkühlte, fast beängstigend distanzierte Darstellung Menschen und Gesichter zu ›Objekten‹ werden – zu ›Dingen‹, die sich, zusammengeführt mit Gegenständen des Alltags, zu Stilleben formen und als solche von der Kälte unseres gesellschaftlichen Umfeldes sprechen.«14 Dass Ingolf Thiel, bevor er fotografierte, eine Ausbildung als Schaufenstergestalter absolvierte, lässt sich, so eine Stimme von 1983, an seinen »kühn und kühl stilisierten Schwarzweißbildern« geradezu ablesen: »Thiel ›inszeniert‹ seine Fotos buchstäblich, wobei er die Wirkung durch phantastisch-bizarre Requisiten – geeckte, aus dem Karton geschnittene Pappumrisse für die Akteure, dazu reelle Bühnenbildnereien zwischen Schneiderwerkstatt und dramatischem Schultafelspuk – effektstark hochzusteigern weiß, in Bilder von kalkuliertem Gruselwitz.«15  Die strengen, unterkühlten Porträts der Modernen Gefühle „ 5 Vgl. Annette Barkhaus: Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, hg. v. Annette Barkhaus und Anne Feig, München 2002, S. 27– 46, hier S. 27. „ 6 Ingolf Thiel, in: Portfolio 3. 162 Fotografien 34 zeitgenössischer Fotografen aus PHOTOGRAPHIE 1– 6/ 1984, Schaffhausen 1984, o. Pag. „ 7 Ingolf Thiel. Portfolio, in: Photographie. Das internationale Monatsmagazin für Fotografie und Film, Juni, 8. Jg. (1984), S. 71–76. „ 8 Vgl. Christin Sander, 2011. „ 9 Hans W. Rolli, 1983, S. 88. „ 10 Ebd. „ 11 Vgl. Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Frankfurt/Main 2021, S. 396. „ 12 Ebd., S. 406. „ 13 Vgl. Jens Balzer: High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt, Berlin 2021, S. 205, 211. „ 14 Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, 1982, S. 28 –31. „ 15 ska: Zarte Schwärze, ins Helle gehängt, Stuttgarter Zeitung, o. Datum (Dezember 1983).

51 beschäftigten Thiel über mehrere Jahre. 1984 entwickelte er eine dritte, deutlich leichtere und in manchen Motiven humorvolle Serie, die er unter dem Titel Liebesgeschichten zusammenfasst. Wenngleich in loser Folge entstanden, so suggerieren die Liebesgeschichten dennoch eine narrative Lesart, die durch die an Filmstills erinnernden Settings noch verstärkt wird. Trotz aller spielerischen Details bleibt aber auch dieser Serie eine gewisse melancholische Grundierung erhalten, die sich in teils streng formalen Kompositionen niederschlägt, so etwa bei den der Serie zuzuordnenden Figuren im Raum (Abb. S. 86u.): »Quadratisch, praktisch, gut. Der Mensch und der Meter, das Maß aller Dinge.«16 Das Kodak-Magazin zur photokina 1984 erkennt darin »ein modernes Gegenstück zu Outerbridge’s klassischem Formenspiel. […] Auch hier leben Sujet und Komposition offensichtlich von Quadrat / Rechteck / Kreis / Kreisbogen und Dreieck / Diagonale. (Offensichtlich zwar für den spitzfindigen Formensucher, doch schon ganz schön verdeckt für den schlichten Beschauer.)«17 Ähnlich sieht es das foto magazin: Thiel »experimentiert schon seit Jahren mit den geometrischen Grundformen, läßt nach eigenen Plänen dreidimensionale Körper und Räume bauen, die er im Studio (manchmal auch im Freien) verwendet und die Eingang in seine professionelle Werbefotografie finden. Die Themen erfindet er selbst und ist damit oft dem Trend der Zeit und den damit verbundenen modischen Richtungen voraus.«18  Auf die Frage, worin er die Zukunft seiner fotografischen Arbeiten sehe und was ihn am meisten interessiere, hatte Ingolf Thiel 1983 in ZOOM geantwortet, »daß er vor allem immer viel Phantasie haben und dies in seinen Bildern ausdrücken wolle. Weil gerade dies ihm in unserem Zeitalter der Technik als besonders wichtig erscheine. Auf jeden Fall möchte er sich weiterhin dem Thema ›Mensch‹ widmen, und ansonsten würde er gerne etwas mehr für Zeitschriften fotografieren. ›Aber nicht unbedingt die in Deutschland so üblichen Lustig-lustig-trallala-Bilder. ImMoment sitze ich in dem Elfenbeinturm der Neo-Sachlichkeit, mit sehr schlichten, reduzierten Bildern; in einer Mischung aus Hollywood und Kraft durch Freude ’83‹.«19 Visuelle Chiffren von Zeitgeist und rohe Do it yourself-Ästhetik auf der einen, filmische Gestaltung mit – vor allem in Heimweh nach dem Traurigsein und in den Liebesgeschichten – an Filmstills erinnernden Settings auf der anderen Seite evozieren jedoch eher ein Amalgam aus Punk und Hollywood, das auch Thiel selbst an anderer Stelle als kennzeichnend für sein Werk betrachtet hatte.20  Fotografien mit dem parodierenden Titel Lanzarote. Kraft durch Freude entstanden dann 1984 tatsächlich. Im Mittelpunkt dieser letzten konzeptionellen Serie Thiels (Abb. S. 136 –139) stehen einmal mehr der Körper und der Versuch, sich mittels Inszenierung, Konstruktion und Manipulation der eigenen Authentizität und Leiblichkeit zu vergewissern. Anstelle der Torsi und bandagierten Körper der späten 70er Jahre tritt jedoch eine Art persiflierte Künstlichkeit, ein Spiel mit physischer und artifizieller Präsenz, das in Moderne Gefühle bereits angelegt ist. Der Frage nachzugehen, was sich hinter dem allgegenwärtigen Bedürfnis nach Schönheit und dem Streben nach Makellosigkeit verbirgt, welche Projektionen und Wünsche damit verbunden sind, erscheint als ein Kontinuum der Arbeiten Ingolf Thiels. Es soll jedoch »dem Leser überlassen bleiben, die sehr eigenwilligen, surreal anmutenden Bilder zu deuten, denn Ingolf Thiel zieht einer Bildinterpretation die Veröffentlichung von R[olf S.] Wolkensteins Gedicht vor: ›Die Oberfläche ist so tief – wenn man mit der Perfektion von Maschinen einen Schnitt macht durch die innersten Gefühle – wenn man das Imaginäre kurz in Händen spürt, ohne zuzugreifen – wenn man etwas sagt, ohne zu antworten – wenn man Sehnsucht hat.‹«21 „ 16 Der Kodak Room. Für alle Profis zur photokina ’84, Halle 8, Obergeschoss (Werbemagazin), 1984, o. Pag. „ 17 Ebd. „ 18 eh: Foto-Geometrie mit Schaumstoff, Licht und Lurex. Profi-Report: Ingolf Thiel, in: foto magazin, April (1984), S. 94 – 97, hier S. 94 f. „ 19 Hans W. Rolli, 1983, S. 90. „ 20 Vgl. Ingolf Thiel. Portfolio, 1984, S. 71. „ 21 Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, 1982, S. 28. 2 Doppelseite aus Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, in: nikon news, Nr. 2, 1982

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99 Zur angewandten Werbefotografie hatte Ingolf Thiel ein von Beginn an ambivalentes Verhältnis. Er lebte davon, hätte jedoch viel lieber nur frei gearbeitet. Aber die Werbung machte ihn bekannt.  Seine erste Anstellung als Studioleiter des Großraumstudios H. F. Wehrle KG in Freiburg im Breisgau hatte er gekündigt, da es ihm »bald zu blöd wurde, Handtuchstapel für Kataloge zu knipsen.«1 Die Arbeit als Assistent in kleineren Studios bot ihm mehr kreativen Freiraum, den er für freie und auch für gewerbliche Aufträge nutzen konnte. Seit Anfang der 70er Jahre kamen diese regelmäßig aus dem Kulturbereich, von Theatern wie dem Renitenztheater Stuttgart, dem Stuttgarter Theater der Altstadt, dem Tübinger Zimmertheater, demWürttembergischen Staatstheater (Stuttgarter Ballett) oder den Wuppertaler Bühnen (Abb. 2) sowie von bildenden Künstlern und Musikern wie Wolfgang Dauner. Er arbeitete für die ARD, insbesondere den Süddeutschen Rundfunk, auch lieferte er später häufig das Bildmaterial für die Werbekalender der Technischen Werke Stuttgart (TWS). Zur Gestaltung von Theaterplakaten oder Covern von Programmheften und Broschüren griff er häufig auf seine in freien Arbeiten erprobte Montagetechnik zurück, ebenso zur Illustration von Werbeanzeigen für Modelabel, Modeseiten im Playboy Deutschland (Abb. S. 17) oder Bildseiten in der Hauszeitschrift des Automobilkonzerns Daimler-Benz Mercedes-Benz in aller Welt (Abb. S. 19).  Weitaus lukrativer als die Aufträge aus öffentlicher Hand dürften neben dem Zeitschriftengeschäft für Elle, Nora, Linea Italiana oder Playboy die zahlreichen Aufträge im Bereich Mode gewesen sein. Thiel arbeitete für Label wie Bleyle, Breuninger, Cerruti, Einhorn, Jockey Wäsche, John Moss, Lee Cooper, Christian Schöller Textil, Louis London, Margret Wäsche, Mustang Jeans Künzelsau, Noël, Paco Rabane, Ramon Couture oder San Felice Sportswear. Außerdem bewarb er Automobile, Brillen, Chemiefasern, Getränke, Haarpflegeprodukte oder Haushaltsgeräte für Marken wie Enka Glanzstoff, Kandus, Martini, Progress oder Zeiss. Eine wichtige Rolle spielten auch seine Geschäftsbeziehungen zur Fotoindustrie, zu Nikon und vor allem Kodak.  Ingolf Thiel scheint also gut im Geschäft gewesen zu sein. Vielleicht gerade deshalb war ihm die Betonung seiner Unabhängigkeit wichtig, die Abgrenzung von der rein kommerziellen Sphäre der Auftragsfotografie, obwohl gerade die Vermischung der Ebenen, treffender deren gegenseitige Befruchtung, kennzeichnend war für seine Arbeit und sicher ein wichtiger Faktor seines Erfolgs. So korrespondiert die übergroße Eiswaffel der Bleyle-Anzeige (Abb. 5) mit den oft diagonal ins Bild gesetzten Lichtkörpern späterer Arbeiten, die engen, perspektivisch zulaufenden Räume der Louis London und Lee Cooper-Werbung (Abb. 5) sind auch im trashigen Experimentalfilm Der Tanz Mechanikk zu sehen und bilden später das Setting für die Serie Schauraum (Abb. S. 120 –121, Abb. 7). Zudem finden sich einzelne Accessoires wie der Zollstock gleichermaßen in Anzeigenmotiven wie auch in Der Tanz Mechanikk und in den Modernen Gefühlen (Abb. S. 57, 108 –109), die selbstgebauten Schaumstoffkulissen dekorieren die Margret-Werbung (Abb. 5) und die freien Arbeiten für Kodak (Abb. 6).  In einem Porträt Ingolf Thiels in der Calwer Time 1981 wird diese Interpendenz in Thiels Werk gleichzeitig negiert und betont: »Bei Werbeaufnahmen beschränkt er sich auf Mode und Menschen und auf Aufgaben, zu denen er ein persönliches Verhältnis finden kann. Seine Arbeit als Modefotograf soll ihm ›Freiräume‹ lassen, genügend Zeit und Kreativität für andere schöpferische Arbeit. So findet man Ingolf Thiel nicht nur als sein eigenes Modell (in seiner Anzeigenserie für einen Jeans-Hersteller), und als Autor von bisher acht Titelbildern für die seriöseste unter den ›unseriösen‹ Zeitschriften [d. i. Playboy], sondern auch als Designer von Schmuck, Hüten und Möbeln aus Schaumstoff und als Akteur in einem Tanzdrama. Im Herbst wird man ihn sogar in einem Film auf der Leinwand sehen können: ›Inflation im Paradies‹ heißt die Produktion junger Filmer. Ingolf Thiel spielt, wer hätte es gedacht, einen Journalistenmit Kamera.«2 JEDE EINZELNE SCHAUMSTOFFPORE SUPERSCHARF Eine gern genutzte Möglichkeit, sein künstlerisches Cross-over auszuleben und zu finanzieren, boten Ingolf Thiel auch »freie Arbeiten mit Auftrag«.3 Als ihm 1982 von Kodak angeboten wurde, neues Material für den Konzern zu testen, wählte er seine Schaumstoffmode als Anwendungsfall: »Für den deutschen Berufsfotografen Ingolf Thiel war es ein Auftrag, der so richtig Spaß gemacht hat: dieTestaufnahmen für die Kodak AG, Stuttgart, mit dem KodakTechnical Pan Film 2415 und dessen 1 Werbeaufnahme für Christian Schöller Textil, um 1980 „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 90. „ 2 Mode, Menschen und Montagen, in: Calwer Time. Aktuelles aus der Calwer Straße & Passage, Heft 1 (1981), o. Pag. „ 3 Jutta Rößner-Kropp: Ingolf Thiel, Vortrag für den BFF (unveröffentlichtes Manuskript), 7. 3. 1986.

100 anschließender Entwicklung im neuen KodakTechnidol LC Entwickler. […] Ingolf Thiel, ›Erfinder der Schaumstoffmode‹ (Thiel über Thiel), konnte für seine Aufnahmen das Thema und die kreative Umsetzung völlig frei bestimmen. Es sollten lediglich die charakteristischen Eigenschaften dieser Film-/Entwickler-Kombination herausgestellt werden: das extrem feine Korn bei einemAuflösungsvermögen von 400 Linien pro Millimeter, die Konturenschärfe und die betonten Kanteneffekte sowie für die bildmässige Fotografie idealen Kontrast. Thiel verpackte sein Fotomodell in sein derzeitiges Lieblingsmaterial, den Schaumstoff. Obwohl die Bilder dadurch etwasWeiches, Anschmiegsames ausstrahlen, sind sie so brillant, dass selbst bei grosser Vergrösserung jede einzelne Schaumstoffpore zu erkennen [ist] und scharf wiedergegeben wird.«4 Fotograf und Auftraggeber waren zufrieden, die Ergebnisse wurden von Kodak in einer Werbekampagne für diesen Film verwendet (Abb. 6), in Magazinen5 und auf der photokina in Köln aufwendig präsentiert,6 und der Fotograf, der meist mit Nikon-Kleinbildkameras und mit Brennweiten von 24 bis 400 mm arbeitete, schien der Marke weiterhin treu geblieben zu sein: »Als Aufnahmematerial nimmt er ausschließlich Kodak Filme. Für Dias kommen der Ektachrome 64 Professional Film, aber auch die Filme Ektachrome 400 und Ektachrome 160 zum Einsatz. Für SW-Aufnahmen sind es die FilmeTri-X-Pan, Panatomic undTechnical Pan.«7  Seine ersten Schaumstoffhüte hatte Ingolf Thiel bereits 1979 entworfen, es folgten Schaumstoffkleider, Schaumstoffmöbel und Schaumstoffschmuck. Der Choreograf William Forsythe ließThiel 1982 einenTeil der Kostüme für die Inszenierung Gänge. Ein Stück über Ballett entwerfen.8 Für diese Bühnenproduktion wie auch fürWerbeaufträge und freie Arbeiten schnitt er grobstrukturierte Schaumstoffe (nach Erzählungen Rolf S. Wolkensteins mit dem elektrischen Brotmesser9) zurecht und stattete seine Modelle mit futuristischen Hüten und glockenförmigen Kleidungsstücken aus. AlsThiel an seinen extravaganten Entwürfen arbeitete, so bemerkte rückblickend ein zeitgenössischer Rezensent, »rutschten in der Mode die Röcke wieder höher, Puffärmel wurden angesetzt und verklärten die Körperformen im romantischen Stil der 50er Jahre. Jetzt, da für Ingolf Thiel diese Experimente (beinahe) abgeschlossen sind, tauchen die Farben Schwarz und Grau auf, kommen in der Modewerbung Räume, gewissermaßen als Schaufenster, vor, sind Kunststoffe wieder ›in‹ [und] Ingolf Thiel, der sich mit diesen Farben und Formen [seiner Zeit weit voraus] beschäftigt, ist plötzlich ›in‹.«10 2 Seelenwanderung, Plakat für die Wuppertaler Bühnen, 1973 3 Werbeanzeige für Ramon Couture, 1983 „ 4 Superscharf, o. Quellenangabe (Bulletin für die angewandte Fotografie [?], um 1982), S. 8. „ 5 Vgl. ebd. „ 6 Vgl. Das Loft. Das Neueste für Profis! Aus dem Kodak Loft-Studio auf der photokina ’82. Werbemagazin 1982. „ 7 Hans W. Rolli, 1983, S. 90. „ 8 Vgl. ebd. „ 9 Rolf S. Wolkenstein in einem Gespräch mit den Herausgeber:innen, 31. 8. 2022. „ 10 eh: Foto-Geometrie mit Schaumstoff, Licht und Lurex. Profi-Report: Ingolf Thiel, in: foto magazin, April (1984), S. 94 – 97, hier S. 94 f.

101 SCHAURAUM IM EINBADVERFAHREN Zwei Jahre später, 1984, hat Thiel, wiederum auf Einladung von Kodak, an der Serie Schauraum gearbeitet. Waren seine früheren Bildfindungen wie bereits erwähnt oft auch dem begrenzten Atelierraum geschuldet, so scheint er die räumliche Enge hier trotz neuem, größerem Studio zum Prinzip erhoben zu haben. Experimentierfeld war der neue EktaflexFilm, der im gleichnamigen Einbadverfahren normalerweise verwendet wird, um von farbigen Durchlichtmedien Prints anzufertigen: »Mit den KODAK EKTAFLEX Produkten können Fotoamateure und Profis hochwertige Vergrößerungen von Dias und Negativen auf einfachste Weise in kürzester Zeit herstellen. Man kann aber auch – und dazu hat KODAK renommierte Fotografen eingeladen – dieses Weiterverarbeitungsmaterial direkt in der 8×10 inch Fachkamera experimentell einsetzen. Eine Art Sofortbildfotografie, bei der man schon nach wenigen Minuten das fertige Ergebnis in Händen hat.«11 Die Ektaflex-Bilder entstanden mit »viel Kunstlicht und teilweise sehr langen Belichtungszeiten. Das macht ihre Brillanz aus. Denn das EktaflexPapier, ursprünglich nur als Vergrößerungspapier gedacht, gibt sich spröde und unempfindlich.«12 Dennoch, oder gerade deshalb: »Die Ergebnisse der fünf Topfotografen Christian von Alvensleben, Hans Hansen, Ingolf Thiel, Gerhard Vormwald und Conny Winter waren so phantastisch, daß der Art Director Fritz Reuter und die Kodak Werbeabteilung daraus die eindrucksvolle und ungewöhnliche Ausstellung ›Ein Fotografisches Experiment auf Kodak Ektaflex – Unikat Prints im Format 8×10 inch‹ realisierten. Ungewöhnlich schon deshalb, weil die 8×10 inch Unikate in 70×100 cm großen ›Objektrahmen‹ gezeigt werden, die neben dem Foto noch wesentliche Bildelemente als reale Gegenstände enthalten.«13 (Abb. 7) Diese Wanderausstellung wurde erstmals Anfang Februar 1984 anlässlich der Jahreshauptversammlung des Bundes Freischaffender Foto-Designer (BFF) in Berlin gezeigt. Während der anschließenden Vernissage am 9. Februar 1984 »in der überfüllten Hamburger PPS-Galerie« veranstaltete Conny Winter ein »Ektaflex-Live-Happening«, die Eröffnung in Stuttgart in der Neuen Staatsgalerie fand am 29. Juni 1984 in Anwesenheit von Ingolf Thiel statt.14 Zu seinen Projektergebnissen bemerkte Thiel auf der Einladungskarte: »Meine Fotoserie heißt ›Schauraum‹ und zeigt Personen, die sich und ihre Gefühle ›ausstellen‹. Die perspektivisch zulaufenden Räume haben die Funktion eines Schaufensters, und die Personen darin erzählen ihre Geschichte. Meine Neugier nach dem Ergebnis war während der Produktion so groß, daß ich es manchmal kaum erwarten konnte, nach 10 Minuten das fertige Bild vorliegen zu haben.«15 5 (v. l. n. r.) Werbeanzeigen für bleyle, um 1978, Louis London, um 1981, Margret Wäsche, 1981 „ 11 Ein fotografisches Experiment auf KODAK EKTAFLEX – Unikat-Prints im Format 8×10 inch (Einladungskarte), »Fresko« Neue Staatsgalerie Stuttgart, 29. 6. 1984; über Ektaflex: Buntes im Bad, in: Der Spiegel, Heft 18 (1981), Ektaflex-Unikate, w&v [Werben & Verkaufen] Nr. 9 (2. 3. 1984), S. 44. „ 12 Maria Franziska Adelmann: Puppenmenschen in der Bar. Foto-Experimente im Staatsgalerie-Lokal »Fresko«, o. Quellenangabe, 5. 7. 1984, S. 14. „ 13 Ektaflex. Sofortbild-Fotografien in der PPS-Galerie, in: Kodak Fotografie International, Nr. 30 (1984), S. 27. „ 14 Vgl. ebd. „ 15 Ein fotografisches Experiment auf KODAK EKTAFLEX (Einladungskarte), 1984.

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132 SIETRIFFT / 1969 ULLA ROGALSKI »ICH WERDE MAL BERÜHMT«

133 In einem kleinen Fotostudio in der württembergischen Provinz haben sie sich 1969 kennengelernt: der Foto-Assi(stent) aus Stuttgart mit den langen Haaren und schrägen Klamotten und die etwas jüngere Innenarchitektin aus München. Sie leitet von Seiten des Kunden die Fotoaktion und hat die Studio-Aufbauten mit den farbig akzentuierten Jugendmöbeln geplant. Ihr Chef hat mit ihr zusammen das Programm für einen großen Möbelhersteller entworfen, inklusive der visuellen Kommunikation. Er ist Fotograf und arbeitet hier im Studio als Assistent. Beide fallen da ein wenig aus dem Rahmen, diese Umgebung ist nicht ihre Welt. Das führt zusammen. Letzter Tag der Fotoaktion: Da wird immer gefeiert. Dass man das Pensum in den gebuchten Tagen absolviert hat, dass keiner von einer wackeligen Wand getroffen wurde, kein Aufbau wegen falscher Belichtung wiederholt werden musste. Und dass die sich bisher Fremden verschiedener Profession und Mentalität zu einem gut funktionierenden Team zusammengefunden haben, auch an langen Arbeitstagen. Alle posieren auf einem Erinnerungsfoto: der Fotograf, zwei weitere »Assis« und in der Mitte thront sie mit Indien-Halstuch im aufblasbaren Sessel, er hockt daneben mit Lammfellweste1 und hohen Stiefeln auf dem damals zeittypischen Flokati-Teppich (Abb. 2).  Sie wohnt in München. Er kommt bald nach und arbeitet dort in einem Fotostudio, genießt das Münchner Nachtleben, das damals das heißeste in der Republik ist. In Stuttgart war er einer der wenigen Paradiesvögel, selbst in der aufgeschlossenen Künstler- und Homo-Szene. 1971 zieht er trotzdemwieder zurück nach Stuttgart. Sie folgt im gleichen Jahr zufällig dorthin – wegen einer neuen, interessanten Stelle. Sie sind ja kein Paar, sie sind sehr enge Freunde. Er arbeitet zuerst in einem Fotostudio. Eigentlich will er nur frei arbeiten – und nicht nur im begrenzten Bereich Fotografie. Ab 1975/76 hat er endlich ein eigenes Studio. Er wird Mitglied der Performancegruppe famili und reist 1979 mit ihnen zu Auftritten nach New York. Dort entsteht eine Fotoserie, inszenierte Szenen, die er Heimweh nach dem Traurigsein nennt. Von einem Motiv schenkt er ihr einen Handabzug und sagt etwas theatralisch: »Ich signiere dir das – ich werde später mal berühmt.« Es hört sich komisch an – beide lachen.  Er ist in vielen Milieus unterwegs: Er ist der neuen Tanzszene rund um das Stuttgarter Ballett von John Cranko nahe, er fotografiert dort und lernt 1973 William Forsythe kennen, der damals noch Tänzer war. Später wird er viel mit ihm zusammenarbeiten. Höhepunkt wird 1983 die erste Forsythe-Choreografie für das Frankfurter Ballett in der Alten Oper sein. Etliche Kostüme stammen da von Ingo und natürlich alle Fotos im Programmbuch. 1980/81 tanzt er sogar unter Forsythes Regie auf dem Werner HenzeFestival in der Toskana und den nachfolgenden Aufführungen in Kopenhagen und Stuttgart. Zwischendrin fotografiert er alles Mögliche, viel Mode, auch Architektur für das Landesdenkmalamt. Mit einer Werbeagentur konzipiert und realisiert er eine später preisgekrönte Anzeigenkampagne für Mustang Jeans. Er macht Fotomontagen für Mercedes Benz und für den Playboy, auch Platten- und Buchcover. Für Kodak probiert er neues Filmmaterial aus, schafft dafür skurrile Rauminstallationen. Auch bewegte Bilder reizen ihn. Er spielt in einigen experimentellen Filmen mit wie auch in einem Episodenfilm, den das ZDF 1986 sendet, an der Seite von Christine Kaufmann und Karlheinz Böhm. Dann wieder kreiert er Schaumstoffhüte und -kleider. Zwischendrin, 1977, stoppt ihn ein Herzinfarkt, das muss sie damals seinen Eltern schonend beibringen.  1980 zieht sie nach Heidelberg, wieder wegen eines neuen Jobs. Man sieht sich seltener, bleibt sich aber nahe. Am 27. Februar 1983, ihrem Geburtstag, lädt er sie zur ersten Forsythe-Premiere in Frankfurt ein, zum Ballett Gänge. Anfang 1985 telefonieren sie. Er möchte im März unbedingt wieder nach Lanzarote, auch zum Fotografieren – ob sie nicht mitkommen mag? Sie ist unsicher, es liegen Termine an… Denn seit zwei Jahren ist sie selbstständig und muss schauen, »dass der Laden läuft«. Und sie ist gerade dabei, ein großes gemeinsames Fest mit einem Freund zu planen. Mit dem geht sie im März auf Location-Suche. Als sie nach Hause kommt, ist erstmals in ihrem Leben der Anrufbeantworter voll. Alle teilen ihr mit, dass Ingo nicht mehr lebt. Ihm ging es auf Lanzarote so schlecht, dass er vorzeitig zurückreiste – ins Krankenhaus. Er starb am 16. März 1985 in Stuttgart im Alter von nur 41 Jahren – am zweiten Herzinfarkt. 1 Modeaufnahme mit Ellen von Unwerth (rechts), um 1976 „ 1 Ingos Schwester sieht 2021 erstmals das Abschiedsfoto aus dem Fotostudio von 1969 und schreibt: »Die Hippie-Weste hat mein damaliger Freund Henri von einem Indien-Trip mitgebracht… heute ist die Weste in der Schule für Krippenspiele im Fundus und war schon zigmal im Einsatz!!!«

134 ZEITSPRUNG: 30 JAHRE SPÄTER: 2015 Inzwischen ist die gelernte Innenarchitektin in Berlin gelandet und dort ausgesprochen glücklich. Inzwischen ist sie im Rentenalter und hat nach einer Ausstellung und einem Buchprojekt wieder viel Zeit. Da sortiert man/frau eben seinen Hausstand und/oder sein Leben. Zum Hausstand gehören einige Arbeiten und Unterlagen von Ingo: Fotoabzüge, Ausstellungsplakate, das Programmheft von Gänge inklusive Eintrittskarte, gemeinsame private Fotos: Ingo mit Halbglatze und Pferdeschwanz in der roten Streifenhose tanzend vor ihrer Terrasse in Stuttgart, eine Fotocollage zu ihrem Geburtstag, seine charmanten Umzugsanzeigen… Und natürlich das besondere Heimweh-Foto aus New York – mit inzwischen leider verblichener Signatur. Sie schaut ins allwissende WWW und findet unter Ingolf Thiel überraschend eine Auktionshausmeldung von 2010: Da wurde ein Foto aus seiner Werkserie Moderne Gefühle versteigert. Anderswo findet sich noch eines seiner Motive unter der Bezeichnung Head in a glass cube. Offenbar findet seine Arbeit heute noch Aufmerksamkeit. Jetzt ist sie neugierig: Wie würde sie mit ihrem heutigen Blick all die Arbeiten von Ingo sehen, beurteilen, einschätzen? Nach all den Jahren, in denen sie sich auch mehr und mehr mit Design und Kunst beschäftigt hat.  Sie sucht Ingos Schwester und ruft sie an: »Ich würde so gerne einmal wieder mehr von Ingos Fotos sehen …«. Die Schwester freut sich, sie hat viele Kisten im Keller und anderswo und lädt zum Besuch ein. Zwischendrin hat die Freundin in den Tiefen des Netzes noch Ingos Namen auf der Website eines Regisseurs namens Rolf S. Wolkenstein gefunden – dort sind einige Experimentalfilme, bei denen Ingo mitgespielt hat, aufgeführt. Sie schreibt eine Mail. Ganz einfach kommen sie zusammen: Er wohnt in Berlin, gar nicht weit weg. Und dann kommt langsam eine Maschinerie in Gang. Es formiert sich ein kleines Arbeitsteam zur Sichtung des Nachlasses: Ingos Schwester, seine ehemalige Laborfrau und Galeristin, ein ehemaliger Fotografenkollege (beide aus Stuttgart) und die beiden aus Berlin: der Regisseur und sie, die alte Freundin. Sie treffen sich mehrmals einige Tage lang in der Nähe von Pforzheim auf dem Land, wo die Schwester wohnt. Die ist hoch zufrieden, dass jetzt Bewegung in den Nachlass kommt. Alleine war das nicht zu schaffen. In mühsamer Kleinarbeit wird Stück für Stück sortiert und notiert. 2 Fotostudio Zwietasch: Gruppenfoto am Set für Möbelwerbung mit Ulla Rogalski (Mitte) und Ingolf Thiel (rechts), November 1969

135 Viele Dias und Negative hatte Ingo schon chronologisch in Ordnern abgeheftet und auf Karteikärtchen vermerkt. Es wird gesichtet, Arbeitskategorien werden gemeinsam definiert, man versucht, Zusammenhänge herzustellen. Und immer, wenn eine Kategorie aufgelistet ist, taucht in irgendeiner Ecke noch etwas auf: beispielsweise Ingos Steuerunterlagen hinter Winterreifen in der Garage seiner verstorbenen Mutter. Sie belegen die kommerziellen Aufträge. Oder Playboy-Hefte mit einem Titelbild von Ingo – einer witzigen Fotomontage – und ein Plakat – auch eine Collage – für eine Aufführung von Die Blume von Hawaii … Durch all das weiß sie auch inzwischen, dass er beispielsweise einer der ersten Fotografen war, der mit dem späteren TopModel (und heutigen Fotografin) Ellen von Unwerth arbeitete. Die erinnert sich heute noch gut und gerne an eine gemeinsame Reise nach Sri Lanka. Die alte Freundin hat auch erfahren, dass Ingo für seinen Lehrabschluss 1967 beim Fotografen Franz Lazi gleich drei Preise bekommen hat: Als Höhepunkt empfing ihn der Bundespräsident als »Bundessieger Deutschland«. Und sie weiß jetzt auch, dass ihn im November 1969 das Arbeitsamt (als wohl Arbeitslosen) zum Arbeiten nach Murr an der Murr beorderte, wo sie sich kennenlernten.  Irgendwann, exakt gesagt Ende August 2016, geht ihr Exposé über Ingos Werk an die Stiftung F. C. Gundlach in Hamburg. Der berühmte Fotograf hat sich zum Ziel gesetzt, Fotografennachlässe zu erhalten und sichtbar zu machen. Von dort kommt die Nachricht, dass man in zwei Monaten wieder eine Besprechung mit der Deutschen Fotothek in Dresden habe, da würde man gerne über Ingos Nachlass diskutieren. Dann kommt die Nachricht: Ja – sehr gerne! Der Leiter der Fotothek kommt später persönlich bei Ingos Schwester vorbei, um die stattliche Ladung mit einem großen Wagen abzuholen. Und ganz schnell steht Ingos Lebenslauf bei der Deutschen Fotothek online, inklusive der circa 60 Fotos, die schon vorher digitalisiert waren. Es wären noch ein paar Korrekturen in der Vita schön, schreibt die Freundin dann nach Dresden… Und zwei Tage später sind sie auf der Website ausgeführt! Auf ihren Dank hin schreibt der Institutionsleiter, dass er das schnell selbst gemacht habe – es habe ihm Freude gemacht.  2020, 35 Jahre nach Ingos frühem Tod, gibt es nochmals Freude bei Freunden und Familie: Bald wird in der Fotothek an einem opulenten Buch über Ingo gearbeitet, mit etwa 200 Abbildungen. Sein Werk überzeugte die Fachleute offenbar. Ist er vielleicht schon ein bisschen berühmt?? Wer weiß, wie es weitergeht… Sie hofft es und sie glaubt auch, dass Ingos Werk noch mehr Aufmerksamkeit bekommen wird. Jedenfalls wird er dann berühmter sein als in den letzten 35 Jahren! Er hat es gewusst – oder erahnt – oder ersehnt … 3 Werbeanzeige von Ingolf Thiel in Instant, Heft Nr. 9 (1984), o. Pag.

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