Leseprobe

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar EINE »ALLGEME INE ÜBERS I CHT« , ODER : E INE SAMMLUNG WI RD S I CHTBAR! Den Gedanken Goethes von der »allgemeinen Übersicht« über die Weimarer Sammlungen aufgreifend, soll im Folgenden anhand der überlieferten Inventare, Kataloge, fotografischen Mappenwerke, Museumsführer und Ausstellungskataloge sowie der digitalen Datenbank die Geschichte des Sichtbarwerdens der Zeichnungssammlung in Weimar beschrieben werden. Dabei liegt – dem Forschungsprojekt gemäß – der Schwerpunkt auf den niederländischen und flämischen Zeichnungen. Die Geschichte der Weimarer Zeichnungssammlung ist im Besonderen dadurch geprägt, dass es seit Goethes Wirken in Weimar zwei Sammlungen gegeben hat: die Herzogliche, seit 1815 Großherzogliche Sammlung sowie Goethes eigene Sammlung. Wir haben es daher mit zwei zeitgleich verlaufenden Geschichten der Sichtbarwerdung zu tun, die jeweils einer eigenen Dynamik unterworfen waren. Erst 2003 wurden beide Sammlungen »völlig in Eins gefaßt«, wie Goethe gesagt hätte,8 sowohl organisatorisch unter dem Dach der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, die seit 2006 Klassik Stiftung Weimar heißt, als auch – zeitlich leicht versetzt – räumlich im Tiefmagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Dort hat die vereinte Sammlung nun ihre vorläufige Bleibe gefunden, bevor sie in naher Zukunft ein eigenes Gebäude erhalten wird.9 Verfolgen wir nun das Sichtbarwerden der Weimarer Zeichnungssammlung von Goethes Idee der »allgemeinen Übersicht« im Jahr 1795 bis heute. ERSTE INVENTARE UND VERZE I CHNI SSE 1848, 16 Jahre nach dem Tod Goethes, erhielt die Öffentlichkeit in Form eines gedruckten Katalogs erstmals Einblick in Goethe’s Kunstsammlungen, die weiterhin im Wohnhaus des Dichters am Frauenplan aufbewahrt wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es von den anderen von Goethe oben aufgeführten Sammlungen nur handschriftliche Inventare oder Teilverzeichnisse, die für den internen Gebrauch bestimmt waren. Ein erster früher Ansatz zur Erfassung der Bestände ist etwa das Verzeichnis der Grafikbestände Anna Amalias von 1794.10 Nach dem Tod der Herzogin 1807 wurde ihre Grafik- und Zeichnungssammlung vollständig inventarisiert und für kurze Zeit separat im Fürstenhaus ausgestellt,11 bevor der größte Teil der Sammlung dann gleichsam spurlos in die Sammlung ihres Sohnes Carl August einfloss. Die Großherzogliche Zeichnungs- und Grafiksammlung wurde erstmals 1825 durch Johann Christian Schuchardt inventarisiert, der als ausgebildeter Jurist seit Februar desselben Jahres am Hof in Weimar angestellt war und unter der Oberaufsicht von Goethe die Betreuung der Sammlung übernahm (Abb. 2).12 Zudem war Schuchardt Privatsekretär Goethes, dem aber auch kuratorische Aufgaben für dessen eigene Sammlung zufielen: So richtete Schuchardt in Goethes Haus am Frauenplan ein »Kupferstichzimmer« ein,13 war mit der Abwicklung von Zeichnungs- und Grafikankäufen betraut14 und beschäftigte sich zusammen mit Goethe mit der systematischen Aufstellung von dessen Grafik- und Zeichnungssammlung. Die Inventarisierung der Großherzoglichen Zeichnungssammlung erfolgte im Zusammenhang mit der Überführung der Grafik- und Zeichnungssammlung Carl Augusts aus der Großherzoglichen Bibliothek, die sich seit 1766 im Gebäude der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek befand,15 in das Große Jägerhaus. Dieses sollte fortan in räumlicher Nähe zur Zeichenschule, die seit 1815 im selben Gebäude untergebracht war, als öffentliches Museum in Weimar fungieren.16 Goethe hatte anfänglich starke Bedenken gegen die Verlegung,17 die sich dann aber im Laufe der Zeit relativierten. Waren doch die »ansehnlichen Kupfer= und Zeichnungssammlungen« in der Bibliothek, »weil kein Raum zu einer geregelten Aufstellung war, ohne entschiedene Ordnung verwahrt gewesen«, wie er 1830 rückblickend festhielt.18 Einem Übergabeverzeichnis desjenigen Bestands, der »von [der] Großherzogl. Bibliothek an das Großherzogl. Museum abgegeben worden« (26. Februar 1824),19 ist zu entnehmen, dass in einem ersten Schritt Abb.2 Friedrich Preller d. Ä. Johann Christian Schuchardt, Detail, um 1830 Grafit, 189 × 138 mm

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