Leseprobe

Die Weimarer Sammlung der niederländischen Zeichnungen heute THOMAS KETELSEN CHR I STOPH ORTH1 ÜBER GRENZEN DER Bis heute sind Nationalschulen, bisweilen auch Regionalschulen, als Kategorien der Ordnung von Kunstwerken in Museen etabliert. Dies gilt umso mehr für grafische Sammlungen, in denen aufgrund der Masse an Objekten ein besonders hoher Bedarf an Systematisierung besteht. Wenngleich diese Untergliederung auch praktische Gründe hat, prägen doch vor allem die gewachsenen kunsthistorischen Forschungsfelder die Beschäftigung mit Zeichnungen in »Schulen«. Zunehmend beginnen allerdings etwa Fragen zur Mobilität von Künstlern in der frühen Neuzeit diese Systematisierung aufzubrechen. Mit der sich verändernden Wahrnehmung, dass es sich bei den durch die Forschung definierten großen Abschnitten der westlichen Kunstgeschichte um internationale Phänomene handelt,2 verliert die isolierte Betrachtung der nationalen und regionalen Schulen an Bedeutung. Dies wird noch unterstützt durch den Einbruch des Digitalen in die Kunstgeschichte. Komplexe Netzwerke, Mobilität, aber etwa auch künstlerische Kollaborationen werden darstellbar, wenngleich sich dieses Potenzial erst zu konturieren beginnt. Es wird sich zeigen, ob die Verknüpfung von Forschungsfragen mit nationalen und regionalen Schulen ein tragfähiges Konzept in der Zeichnungsforschung bleiben kann. Nichtsdestotrotz wird das Bedürfnis weiterhin bestehen, Werke kennerschaftlich zu verorten, sie also in einem Koordinatensystem von Zeit und Ort zu verankern. Die Komponente »Zeit« bezeichnet dabei den vermuteten Entstehungszeitraum, der »Ort« kann die Lokalisierung der Entstehung, die Herkunft, aber auch den Arbeitsort des Künstlers meinen. Auf diese Weise setzen sich Werkgruppen zu Clustern zusammen, die das Bild ihrer jeweiligen geografischen »Schule« und ihrer »Zeit« prägen. Hierin liegt eine Gefahr der kennerschaftlichen Methode. Korrekte Zuschreibungen festigen dieses Bild, falsche Zuschreibungen hingegen verzerren es.3 Im Bewusstsein dieser möglichen Irrtümer bleibt die zeitliche und räumliche Verortung dennoch ein konstituierendes Element der Zeichnungsforschung. Die Beschäftigung mit den niederländischen Zeichnungen aus der ehemaligen Großherzoglichen Sammlung sowie der GoetheSammlung bringt eine Reihe von Zeichnungen der Deutschen und Italienischen Schule zutage, die vielfach noch unter dem Namen eines niederländischen Künstlers geführt wurden. Die meisten dieser irrtümlich der Niederländischen Schule zugeschriebenen Zeichnungen gelangten zwischen 1780 und 1832 in die Weimarer Sammlungen, also zu der Zeit, da Goethe sich für den Ausbau sowohl des Großherzoglichen Bestands wie der eigenen Zeichnungssammlung verantwortlich zeigte. Die für uns heute wichtigen Quellen für die falschen Zuschreibungen sind für die Großherzogliche Sammlung das von Johann Christian Schuchardt 1825 aufgestellte Sammlungsinventar4 (ergänzt durch das Erwerbungsinventar von 1825ff.)5 sowie der ebenfalls von Schuchardt 1848 verfasste Katalog von Goethes Kunstsammlungen, in dem die Zeichnungen nach Schulen geordnet aufgelistet sind. Angesichts des Gesamtbestands von circa 1 570 niederländischen Zeichnungen in Weimar hält sich nach heutigem Kenntnisstand der Anteil der irrtümlich der Niederländischen Schule zugeschriebenen Zeichnungen gering; nicht mehr als 30 Zeichnungen lassen sich der Deutschen Schule zuweisen, die gleiche Anzahl ist auch für die italienischen Zeichnungen zu veranschlagen. Noch geringer ist der Anteil der irrtümlich der Französischen Schule zugeschriebenen Zeichnungen. Gleichwohl ist das Besondere bei diesen Fehlzuschreibungen, dass es sich nicht einfach um irrtümliche Zuschreibungen innerhalb der Niederländischen Schule handelt, wie etwa eine Rembrandt-Zeichnung keine Rembrandt-Zeichnung mehr ist oder eine von Schuchardt

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