Leseprobe

NIEDERLÄNDISCHEN ZEICHNUNGEN DI E SAMMLUNG DER IN WE IMAR DER IN WE IMAR

DER NI EDERL ÄNDI SCHEN DI E SAMMLUNG

Herausgegeben von Thomas Ketelsen und Oliver Hahn Mit Beiträgen von Georg Dietz, Charles Dumas, Uwe Golle, Christien Melzer, Hermann Mildenberger, Christoph Orth, Christian Tico Seifert, Carsten Wintermann Klassik Stiftung Weimar S A N D S T E I N V E R L A G IN WE IMAR E I CHNUNGEN Z Ein Handbuch

 INHALT 132 DI RCK VELLERT, E INE SER I E MI T SCHE I BENR I SSEN. T INTEN- UND PAP I ERANALYSEN Carsten Wintermann, Christien Melzer 140 ANDR I ES BOTH, TR INKENDE BAUERN. WIDERSPRÜCHL ICHE DAT I ERUNGEN UND ORTS ­ ANGABEN Carsten Wintermann, Christien Melzer 146 REMBRANDT ODER NICHT? DI E T INTEN DER REMBRANDTZE ICHNUNGEN IN DEN GRAPHI SCHEN SAMMLUNGEN DER KLASS I K ST I FTUNG WE IMAR Carsten Wintermann, Oliver Hahn 156 JAN BOTH, FELS IGES FLUSSTAL MI T BÄUMEN. WARUM S ICH RÖTEL ZUM ABKLATSCHEN E IGNET Carsten Wintermann, Christien Melzer 86 GOETHES HANDHABE DER NI EDERLÄNDI SCHEN ZE ICHNUNGEN Thomas Ketelsen, Carsten Wintermann 100 CARL RULAND : E IN FRÜHER KENNER IN WE IMAR Hermann Mildenberger Das Zusammenspiel von Materialanalyse und Stilkritik Fallbeispiele 114 NUTZEN UND ZWECK DER MATER IALANALYSE . E INE E INFÜHRUNG Oliver Hahn 122 LUCAS VAN LEYDEN, BRUSTB I LD E INER FRAU MI T HAUBE . BEMERKUNGEN ZU ZE ICHENMI TTELN UND PAP I ER Carsten Wintermann, Christien Melzer 11 VORWORT Wolfgang Holler, Annette Ludwig 12 E INLE I TUNG UND DANK Thomas Ketelsen, Oliver Hahn Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar 20 DI E NI EDERLÄNDI SCHEN ZE ICHNUNGEN IN WE IMAR : BESTAND UND BEFUND. VOM HANDSCHR I FTL ICHEN INVENTAR 1825 ZUR WEBPRÄSENZ 2022 Thomas Ketelsen, Uwe Golle 60 FRÜHE ZE ICHNUNGSANKÄUFE IN WE IMAR DURCH JOHANN HE INR ICH MERCK 1 780 B I S 1 783 Thomas Ketelsen

8/9 166 P I ETER DI RCKSZ . VAN SANTVOORT, E IN KONVOLUT VON LANDSCHAFTSZE ICHNUNGEN. ALLES AUS E INER HAND? Carsten Wintermann, Christien Melzer 176 »GELBHÖHUNGEN« : NUR E IN PHÄNOMEN? Carsten Wintermann 186 ÜBER DI E PAP I ERE DER »NI EDERLÄNDER«-ZE ICHNUNGEN IN WE IMAR Georg Dietz, Thomas Ketelsen 200 PAP I ERE VERB INDEN. GEME INSAMKE I TEN ZWI SCHEN DEN SAMMLUNGEN IN WE IMAR UND DRESDEN Georg Dietz, Thomas Ketelsen 214 ROELANT SAVERYS NAER HET LEVEN-ZE ICHNUNGEN IN WE IMAR Thomas Ketelsen, Carsten Wintermann, Georg Dietz 228 FARBANALYSEN AUF BLÄTTERN DES 18 . UND 19 . JAHRHUNDERTS Oliver Hahn, Carsten Wintermann, Uwe Golle Die Weimarer Sammlung der niederländischen Zeichnungen heute 240 ABRAHAM RADEMAKER KOP I ERT JAN UND BONAVENTURA PEETERS Charles Dumas 252 DI E STE INIGUNG DES HE I L IGEN STEPHANUS VON JAN PYNAS . THEMA UND VAR IAT IONEN Christian Tico Seifert 260 ÜBER GRENZEN DER KENNERSCHAFT. FEHLURTE I LE UND IHRE FOLGEN Deutsche Zeichnungen unter den »Niederländern« in Weimar Italienische Werke unter den »Handzeichnungen von niederländischen Künstlern« in Goethes Sammlung Thomas Ketelsen, Christoph Orth 288 ZUR NEUFORMI ERUNG DER KENNERSCHAFT. »FAMI L I ENÄHNL ICHKE I TEN« AM BE I SP I EL REMBRANDTS Thomas Ketelsen, Oliver Hahn Anhang 300 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur 310 Bildnachweis 312 Impressum

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar BESTAND DI E NI EDERL ÄNDI SCHEN In der Digitalisierung und den damit einhergehenden neuen Formen der Wissensgenerierung liegt die Chance einer Neupositionierung der Kennerschaft.1 Mit Nachdruck hat die digitale Erfassung alle großen, bislang im Verborgenen der Depots schlummernden Zeichnungssammlungen nach außen gestülpt. Zu nennen sind vor allem die Bestände des Rijksprentenkabinet in Amsterdam, des Département des Arts graphiques im Louvre und des Department of Prints and Drawings im British Museum. Heute bekommen Benutzer durch das intellektuelle Top-down-Design der Datenbank mit einem Mausklick im Idealfall sämtliche Zeichnungen auf ihrem Bildschirm angezeigt. Diese digitale Sichtbarkeit der Zeichnungsbestände hat aber eine lange und mitunter verzwickte Vorgeschichte, die anhand der Zeichnungssammlung in Weimar exemplarisch vorgestellt werden soll. Lange bevor Johann Wolfgang Goethe 1815 als Staatsminister die »Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaften und Kunst in Weimar und Jena« erhielt,2 war er an einem umfassenden Überblick über die in Weimar vorhandenen Kunstsammlungen und deren Bestände interessiert. In einem Vortrag vor der Freitagsgesellschaft 1795 mit dem Titel Über die verschiedenen Zweige der hiessigen Thätigkeit heißt es: »Nicht wenig interessant wird es seyn die Catalogen von Kunstwerken die sich THOMAS KETELSEN UWE GOLLE wirklich hier [in Weimar] befinden neben einander zu sehen. Was Durch[lauchtigster] Herzog, die Herzogin, Herr Goore und andere besitzen was selbst in meinem Hause sich befindet, ist nicht ohne Bedeutung. Eine allgemeine Übersicht würde ihren Nutzen und ihre zweckmäßige Vermehrung befördern.«3 Aufgezählt wurden von Goethe neben seiner eigenen Sammlung die Kunstsammlungen der Herzogin Anna Amalia (1739–1807),4 ihres Sohnes Carl August (1757–1828)5 und die des britischen Aquarellmalers Charles Gore (1729–1807), mit dem Goethe seit dessen Zuzug nach Weimar 1791 in engem Kontakt stand.6 Goethe versprach sich von den Katalogen eine Übersicht vom Umfang und den jeweiligen Schwerpunkten der Sammlungen, um diese auch für die eigene schriftstellerische Arbeit effektiver nutzen zu können. Zugleich aber wären die Kataloge die Voraussetzung für eine »zweckmäßige Vermehrung« der Sammlungen gewesen, sowohl was die inhaltliche Ausrichtung der Neuankäufe, als auch was das Vermeiden von Doppelankäufen, vor allem im Bereich der Grafik, betraf. Bislang war an gedruckten Katalogen in Weimar nur die von Johann Anton Klyher 1729 abgefasste Ausführliche und gründliche Specification derer Kunstreichen, kostbahren und sehenswürdigen Gemählden welche auf der Schilderey=Cammer der Hoch=Fürstl. Sächsischen Residenz Wilhelms=Burg zu Weimar

20/ 21 IN WE IMAR : UND BEFUND E I CHNUNGEN Vom handschriftlichen Inventar 1825 zur Webpräsenz 2022 anzutreffen sind (Abb. 1) erschienen, die über die knapp 400 Gemälde umfassende Sammlung im Residenzschloss Aufschluss gab.7 Nach Zerstörung der Gemälde durch den Schlossbrand von 1774 war der Katalog jedoch bereits Makulatur. Aber auch nach Goethes Vortrag Über die verschiedenen Zweige der hiessigen Thätigkeit 1795 musste man in Weimar noch weitere 50 Jahre warten, bis der nächstfolgende gedruckte Katalog im Jahr 1848 erschien. Der von Johann Christian Schuchardt (1799–1870) abgefasste Katalog Goethe’s Kunstsammlungen gewährte Einblick wenigstens in eine der von Goethe vormals aufgeführten Sammlungen, nämlich in seine eigene Kunstsammlung. Allerdings konnte Goethe von diesem Katalog keinen Gebrauch mehr machen, da er dessen Erscheinen nicht mehr erleben sollte. Abb.1 Johann Anton Klyher Ausführliche und gründliche Specification derer Kunstreichen, kostbahren und sehenswürdigen Gemählden [...], Weimar 1729 KSW, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. 4° XXV, 129 Z

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar EINE »ALLGEME INE ÜBERS I CHT« , ODER : E INE SAMMLUNG WI RD S I CHTBAR! Den Gedanken Goethes von der »allgemeinen Übersicht« über die Weimarer Sammlungen aufgreifend, soll im Folgenden anhand der überlieferten Inventare, Kataloge, fotografischen Mappenwerke, Museumsführer und Ausstellungskataloge sowie der digitalen Datenbank die Geschichte des Sichtbarwerdens der Zeichnungssammlung in Weimar beschrieben werden. Dabei liegt – dem Forschungsprojekt gemäß – der Schwerpunkt auf den niederländischen und flämischen Zeichnungen. Die Geschichte der Weimarer Zeichnungssammlung ist im Besonderen dadurch geprägt, dass es seit Goethes Wirken in Weimar zwei Sammlungen gegeben hat: die Herzogliche, seit 1815 Großherzogliche Sammlung sowie Goethes eigene Sammlung. Wir haben es daher mit zwei zeitgleich verlaufenden Geschichten der Sichtbarwerdung zu tun, die jeweils einer eigenen Dynamik unterworfen waren. Erst 2003 wurden beide Sammlungen »völlig in Eins gefaßt«, wie Goethe gesagt hätte,8 sowohl organisatorisch unter dem Dach der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, die seit 2006 Klassik Stiftung Weimar heißt, als auch – zeitlich leicht versetzt – räumlich im Tiefmagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Dort hat die vereinte Sammlung nun ihre vorläufige Bleibe gefunden, bevor sie in naher Zukunft ein eigenes Gebäude erhalten wird.9 Verfolgen wir nun das Sichtbarwerden der Weimarer Zeichnungssammlung von Goethes Idee der »allgemeinen Übersicht« im Jahr 1795 bis heute. ERSTE INVENTARE UND VERZE I CHNI SSE 1848, 16 Jahre nach dem Tod Goethes, erhielt die Öffentlichkeit in Form eines gedruckten Katalogs erstmals Einblick in Goethe’s Kunstsammlungen, die weiterhin im Wohnhaus des Dichters am Frauenplan aufbewahrt wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es von den anderen von Goethe oben aufgeführten Sammlungen nur handschriftliche Inventare oder Teilverzeichnisse, die für den internen Gebrauch bestimmt waren. Ein erster früher Ansatz zur Erfassung der Bestände ist etwa das Verzeichnis der Grafikbestände Anna Amalias von 1794.10 Nach dem Tod der Herzogin 1807 wurde ihre Grafik- und Zeichnungssammlung vollständig inventarisiert und für kurze Zeit separat im Fürstenhaus ausgestellt,11 bevor der größte Teil der Sammlung dann gleichsam spurlos in die Sammlung ihres Sohnes Carl August einfloss. Die Großherzogliche Zeichnungs- und Grafiksammlung wurde erstmals 1825 durch Johann Christian Schuchardt inventarisiert, der als ausgebildeter Jurist seit Februar desselben Jahres am Hof in Weimar angestellt war und unter der Oberaufsicht von Goethe die Betreuung der Sammlung übernahm (Abb. 2).12 Zudem war Schuchardt Privatsekretär Goethes, dem aber auch kuratorische Aufgaben für dessen eigene Sammlung zufielen: So richtete Schuchardt in Goethes Haus am Frauenplan ein »Kupferstichzimmer« ein,13 war mit der Abwicklung von Zeichnungs- und Grafikankäufen betraut14 und beschäftigte sich zusammen mit Goethe mit der systematischen Aufstellung von dessen Grafik- und Zeichnungssammlung. Die Inventarisierung der Großherzoglichen Zeichnungssammlung erfolgte im Zusammenhang mit der Überführung der Grafik- und Zeichnungssammlung Carl Augusts aus der Großherzoglichen Bibliothek, die sich seit 1766 im Gebäude der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek befand,15 in das Große Jägerhaus. Dieses sollte fortan in räumlicher Nähe zur Zeichenschule, die seit 1815 im selben Gebäude untergebracht war, als öffentliches Museum in Weimar fungieren.16 Goethe hatte anfänglich starke Bedenken gegen die Verlegung,17 die sich dann aber im Laufe der Zeit relativierten. Waren doch die »ansehnlichen Kupfer= und Zeichnungssammlungen« in der Bibliothek, »weil kein Raum zu einer geregelten Aufstellung war, ohne entschiedene Ordnung verwahrt gewesen«, wie er 1830 rückblickend festhielt.18 Einem Übergabeverzeichnis desjenigen Bestands, der »von [der] Großherzogl. Bibliothek an das Großherzogl. Museum abgegeben worden« (26. Februar 1824),19 ist zu entnehmen, dass in einem ersten Schritt Abb.2 Friedrich Preller d. Ä. Johann Christian Schuchardt, Detail, um 1830 Grafit, 189 × 138 mm

22 / 23 nur Gemälde, Zeichnungen zeitgenössischer Künstler sowie Reproduktionsstiche nach deutschen, italienischen oder niederländischen Künstlern ins neue Museum gelangt sind. Was die ausgestellten Zeichnungen in den sechs Räumen im Jägerhaus betraf, so lag der Fokus auf dem großen Konvolut an Zeichnungen von Asmus Jakob Carstens (1754–1798), das durch den Nachlass Carl Ludwig Fernows 1804 in die Sammlung gelangt war.20 Altmeisterliche Zeichnungen waren nicht ausgestellt, wie auch das Verzeichnis der Im grossen Jägerhause zu Weimar aufgestellten Gemälde, Zeichnungen und Bildhauerarbeiten (1824) von Johann Heinrich Meyer (1760–1832) verdeutlicht.21 Zeitnah zur Neueinrichtung des Jägerhauses wird Schuchardt die Inventarisierung der Großherzoglichen Zeichnungsbestände noch in der Großherzoglichen Bibliothek vorgenommen haben, bevor jene dann beginnend mit dem 16. Juni 1825 ins Große Jägerhaus überführt wurden.22 DAS SCHUCHARDT ’ SCHE INVENTAR Das erhaltene Inventar macht uns erstmals mit dem Umfang der italienischen, niederländischen, französischen und auch spanischen Zeichnungen zu diesem Zeitpunkt vertraut.23 Ein Teilverzeichnis der deutschen Zeichnungen ist nicht überliefert.24 Goethe hat die Inventarisierungsarbeiten Schuchardts in einem Brief an Großherzog Carl Friedrich (1783–1853), der nach dem Tod seines Vaters Carl August ab 1828 regierte, wie folgt beschrieben: »Zuvörderst ward über einige Tausend Handzeichnungen ein vollständiges Verzeichnis gefertigt, dieselben nummeriert und überhaupt so hergestellt, dass jedermann jedes einzelne Blatt zu finden in Stand gesetzt wird.«25 Ist auch auf den ersten Seiten des Inventars der niederländischen Zeichnungen (Abb. 3)26 mit seinen circa 250 Einträgen noch keine alphabetische Ordnung zu erkennen (fol. 137– 149),27 so setzt diese mit der Benennung einer Zeichnung von Jan Asselyn (fol. 150) ein und endet mit einem Eintrag zu Thomas Wyck (fol. 242). Nach einer kurzen biografischen Notiz zu jedem Künstler ist des Weiteren jede Zeichnung unter Angabe des Künstlernamens, des dargestellten Motivs sowie der zeichnerischen Technik erfasst, wie die Liste der Jan-van-Goyen-Zeichnungen zeigt: »VI. 61: Goyen, Ein Dorf an einem Flusse. / Mit schwarzer Kreide gezeichnet« (Abb. 4). Abb.3 Johann Christian Schuchardt Inventar der niederländischen Zeichnungen, 1825, Titelumschlag KSW, Museen, Sign. Cat. XVII Abb.4 Johann Christian Schuchardt Inventar, 1825, fol. 139v

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar Abb.6 Jan Baptist Weenix Blick auf eine Ruine, 1643 /47 Rötel, 307 × 188 mm Neben dem Hauptinventar von 1825 legte Schuchardt zudem ein Vermehrungsbuch für die Erwerbungen der Großherzoglichen Sammlung an, das am 6. September 1825 einsetzt (Abb. 5).28 Annähernd 150 niederländische und flämische Zeichnungen lassen sich im Vermehrungsbuch nachweisen;29 unter anderem wurde am 5. Dezember 1825 eine Rötelzeichnung von Jan Baptist Weenix (1621–1659) und/oder Nicolaes Berchem (1621/22–1683), so die damalige Zuschreibung, als Zuwachs für die Sammlung verzeichnet (Abb. 6).30 In unmittelbarer Folge wurde dann auch der Bereich der Druckgrafik von Schuchardt katalogisiert.31 Die Großherzogliche Sammlung war somit von ihrem Grundbestand her erstmals erfasst, ohne jedoch in Form eines gedruckten Katalogs auch öffentlich publik zu werden. Allerdings bestand die Möglichkeit, sich die Zeichnungen in dem eigens eingerichteten grafischen Kabinett im Jägerhaus vorlegen zu lassen, um sich ein Bild von der Sammlung zu machen. Abb.5 Johann Christian Schuchardt Vermehrungsbuch 1825, Handzeichnungen, fol. 1r/v KSW, Museen, Sign. 10

24/ 25 DER BEFUND DER GROSSHERZOG- L I CHEN SAMMLUNG In ihrer Rekonstruktion der frühen Sammlungsgeschichte weist Philine Brandt darauf hin, dass mit der Überführung der grafischen Blätter aus der Bibliothek in das Jägerhaus 1824/25 auch ein Wandel in ihrer Aufbewahrung stattfand. Bis dahin waren »Zeichnungen und Kupferstiche«, wie es einleitend auch in der kurzen Sammlungsgeschichte zum ersten gedruckten Katalog der Großherzoglichen Kunstsammlungen von 1869 heißt, »in starke Bände gebunden«, die »einen Theil der Bibliothek ausmachten«,32 die dort jedoch, wie bereits geschildert, »ohne entschiedene Ordnung verwahrt gewesen« waren.33 Die bis dahin in Klebebänden aufbewahrten Kupferstiche (Abb. 7)34 wurden aus diesen herausgelöst, »auf Untersatzbögen montiert«35 – Goethe sprach von »frische[n] Übersetzbogen«36 – und fortan »in Kastenportefeuilles«37 untergebracht. »Als einzige Rechtfertigung für den hohen Material- und Zeitaufwand dieser Unternehmung nennt Schuchardt bequemere Handhabung und besseren Schutz der Blätter bei häufiger Benutzung.«38 Es ist daher anzunehmen, dass auch die Zeichnungen im Zusammenhang mit der Inventur aus den alten Klebebänden herausgelöst und auf eigens hergestellte Kartons aufgezogen wurden. Ein entsprechender Klebeband mit Zeichnungen hat sich leider nicht erhalten.39 Die veränderte Aufbewahrung erforderte neue Sammlungsschränke, in denen die Sammlungskästen abgelegt werden konnten.40 Bemerkenswert ist zudem, dass Schuchardt, der auch selber zeichnete und radierte, einzelne Blätter aus der Großherzoglichen Sammlung restauratorisch bearbeitet hat. So schrieb Goethe in einem Gutachten über Schuchardt, das einem Brief an Großherzog Carl Friedrich vom 11. Oktober 1830 beiliegt: »Eine bedeutende Menge in Fetzen sich vorfindender Sachen hat er durch wochenlanges Bleichen und Waschen mit unsäglicher Mühe hergestellt.«41 Das von Goethe eigens hervorgehobene Schadensbild an Zeichnungen oder Grafiken wird nicht durch den unsachgemäßen Gebrauch oder durch unangemessene Präsentation hervorgerufen worden sein. Vielmehr werden die Blätter bereits »in Fetzen« in die Sammlung gekommen sein. Hinzuweisen ist etwa auf mehrere durch Johann Heinrich Meyer Heinrich Meyer in Rom erworbene Kartons, die ehemals Giovanni Lanfranco (1582–1647) zugeschrieben waren (heute Giuseppe Bartolomeo Chiari, 1654–1727).42 Meyer hatte sie von einer alten Frau erworben, »die sie eben als altes Papier verbrennen wollte«.43 Auch im Bestand der niederländischen Zeichnungen finden sich Beispiele historischer Restaurierungen, die durchaus von Schuchardt stammen können. Als Beispiel sei eine Zeichnung aus dem Besitz Goethes genannt, die Abb.7 Klebeband aus dem Altbestand der Bibliothek mit über 1000 eingeklebten Grafiken

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar THOMAS KETELSEN CARSTEN WINTERMANN OETHES DER ZE I CHNUNGEN GOETHES ARBE I TSZ IMMER ALS B I LDERL ABOR Das Arbeitszimmer Johann Wolfgang Goethes in seinem Haus am Frauenplan diente dem Dichter nicht nur als Schreibstube oder physikalisches Experimentierfeld,1 sondern auch als Bilderlabor, in dem er sich mit Zeichnungen und Grafiken aus der eigenen Sammlung beschäftigte (Abb. 1).2 Zahlreichen Tagebucheinträgen ist zu entnehmen, dass er seine Zeichnungs- und Grafikbestände vor allem ab der zweiten Hälfte der 1820er-Jahre fortlaufend systematisierte und etwa nach Schulen ordnete, dass er die von Kunsthändlern aus Leipzig nach Weimar geschickten Ansichtssendungen mit Zeichnungen durchsah, um eine Auswahl zum Ankauf für die eigene oder die Großherzogliche Sammlung zu treffen, aber auch, dass er sich immer wieder einzelne Zeichnungen oder Konvolute anschaute, ohne im Tagebuch eigens zu vermerken, was der konkrete Anlass für die jeweilige Beschäftigung gewesen war. Zwei Einträge mögen die Zweckdienlichkeit von Goethes Arbeitszimmer auch als Bilderlabor belegen. Aus mehreren Tagebucheinträgen vom März und April 1816 erfahren wir, dass sich Goethe mit Zeichnungen des niederländischen Künstlers Jacob van Ruisdael (1628/29–1682) beschäftigt hat: Am 30. März wird nur der Name des Künstlers erwähnt: »Über Peter [sic] Ruysdael«;3 am 9. April heißt es dann: »Prof. Riemer die Ruysdaelischen Zeichnungen.«4 Und fünf Tage später wird nochmals vermerkt: »Sonderung der Zeichnungen. Mit Riemer, Ruysdael u.a.«5 An diesen drei Tagen hatte sich Goethe zusammen mit Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845), einem seiner engsten Mitarbeiter und jahrelangen Vertrauten, mit Zeichnungen von Jacob van Ruisdael befasst – aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Arbeitszimmer. Aus welchem Anlass er sich aber mit den G Abb.1 Louis Held Goethes Arbeitszimmer in seinem Wohnhaus am Frauenplan, 1886

86/87 HANDHABE NIEDERLÄNDI SCHEN Ruisdael-Zeichnungen beschäftigt hat, bleibt in den Tagebucheinträgen unerwähnt. Hingegen lässt sich ein weiterer Eintrag vom 10. März 1829 auf ein konkretes Ereignis beziehen: »Ich beschäftigte mich nach Tische mit den angekommenen Leipziger Kupferstichen und Zeichnungen.«6 Goethe hatte eine Ankaufssendung von dem Kunsthändler Carl Gustav Boerner (1790–1855) aus Leipzig in Empfang genommen und sofort damit begonnen, sich die zum Verkauf angebotenen Zeichnungen anzuschauen, vermutlich ebenfalls in seinem Arbeitszimmer. In dieser Sendung befand sich unter anderem die mit dem Pinsel ausgeführte und großflächig lavierte Zeichnung Joseph erzählt seine Träume (Gen 37,5–11), die unter dem Namen »Rembrandt« angeboten wurde (Abb. 2).7 Einen Tag später erbat Goethe von Johann Heinrich Meyer (1760–1832), seinem Freund und treuen Mitstreiter aus Straßburger Zeiten, dessen Urteil über das Blatt: »Ich sende, mein Theurer, Johnen [Johann August Friedrich John, 1794–1854, Goethes Sekretär von 1814 bis 1832] ab, um Ihnen die Zeichnung, von der ich gestern sprach, vorzulegen. [...] Das Blatt ist meisterhaft und wird Ihnen anzuschauen gewiß Vergnügen machen. Abb.2 Deutsch, 18. Jahrhundert Joseph erzählt seine Träume Feder und Pinsel in verschiedenen Brauntönen, laviert, 196 × 150 mm

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar Abb.3 »Kupferstichschrank« Weimar, Goethe-Haus am Frauenplan John bringt Papier und Bleystift mit, um ihre Gedanken und Entscheidung sogleich ohne Ihre Beschwerde aufzuzeichnen.«8 Goethe hatte eine Beziehung zu Rembrandts Radierung gleichen Themas gesehen und ging wohl davon aus, nun die Vorzeichnung dazu in den Händen zu haben. Am 13. März bereits bestätigte er Boerner den Ankauf.9 Wenige Tage danach schrieb er an den Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777–1857), dass er sich fortwährend mit dieser »Capitalzeichnung von Rembrandt« auseinandersetze und zu diesem Zweck »andere Werke dieses unvergleichlichen Meisters hervorsuche und in sein Verdienst einzudringen mir zur Angelegenheit mache«.10 Wieder also diente das Arbeitszimmer, wie zu vermuten ist, als Bilderlabor, diesmal, um sich in das zeichnerische wie grafische Werk Rembrandts einzuarbeiten. DI E ZE I CHNUNGSSAMMLUNG IM HAUS AM FRAUENPL AN Dem Vorwort von Johann Christian Schuchardt zum Katalog der Kunstsammlungen Goethes von 1848 entnehmen wir, dass Goethe eine kleine Auswahl von Zeichnungen an den Wänden des sogenannten Deckenzimmers aufgehängt hatte (vgl. Tafel, S. 30f.).11 Die Blätter waren zu diesem Zweck mit einem Passepartout, handgezogenen Einfassungen und Glasrahmen versehen worden. Unter den so präsentierten Zeichnungen befand sich auch die erwähnte »Rembrandt«-Zeichnung.12 Von anderen niederländischen Künstlern waren ebenfalls in Goethes Arbeitsräumen gerahmte Zeichnungen zu sehen. Den damaligen Zuschreibungen folgend, handelte es sich um Zeichnungen von Peter Paul Rubens (1577– 1640), Abraham Bloemaert (1566–1651) und Jacob de Wit (1695– 1754).13 Und auch die Zeichnung eines »aeltere[n] deutsche[n] Künstler[s]« stammt nach heutiger Kenntnis von der Hand eines niederländischen Künstlers des 16. Jahrhunderts.14 Das Gros der Zeichnungssammlung Goethes hingegen war in Grafikschränken, sogenannten Repositorien, untergebracht, von denen wenigstens einer im großen Sammlungszimmer, ein anderer – ein »Gestelle mit gewaltigen Mappen für Kupferstiche in ihrer geschichtlichen Folge«, wie Carl Gustav Carus bei seinem Besuch Goethes im Jahr 1821 bemerkte15 – im sogenannten Juno-Zimmer aufgestellt war. Und am 12. März 1826 notierte Goethe im Tagebuch: »[...] neues Repositorium für schnelleres Arrangement der Kupfer und Zeichnungen«,16 was darauf schließen lässt, dass er Zeichnungen und Grafiken zusammen in den Schränken aufbewahrte. Von einem der Repositorien hat sich eine Belegungsskizze erhalten, der unter anderem zu entnehmen ist, dass die »Landschaften«, aber auch Zeichnungen und Grafiken »nach u. von einzelnen Künstlern« gesondert aufbewahrt wurden.17 Zwei dieser »Kupferstichschränke«, wie Goethe sie nannte, haben sich erhalten (Abb. 3).18 In einzelnen Fächern waren die Blätter in großen Portefeuilles oder Grafikmappen, unter anderem nach Schulen getrennt, aufbewahrt.19 Auch gab es drei »Kommodenaufsatzschränke«, die in den späten 1820er-Jahren aus der Großherzoglichen Bibliothek in Goethes Wohnung überführt worden waren.20 Der untere Kommodenteil dieser sogenannten Glasschränke besteht aus Schubkästen, die möglicherweise für Mappenwerke genutzt wurden. In einem der Repositorien befanden sich Zeichnungen, die Goethe für die eigene Sammlung erworben, jedoch noch nicht in die bestehende Ordnung integriert hatte; ferner enthielt es ein größeres Konvolut an Landschaftszeichnungen sowie Portefeuilles oder Umschläge mit Zeichnungen von einzelnen, gesondert aufbewahrten Künstlern.21 Diese Konvolute dienten Goethe zur Vorbereitung von Aufsätzen, wie etwa der Abhandlung zur Landschaftsmalerei, an der er noch bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat.22 Die Repositorien und Sammlungsschränke befanden sich sowohl im sogenannten Sammlungs- als auch im Deckenzimmer der Wohnung am Frauenplan, also in unmittelbarer Nähe zu Goethes Arbeitszimmer.

88/89 Abb.4 Unbekannt, 17. Jahrhundert Grabsteine im Judenkirchhof in Ouderkerk an der Amstel Rötelabklatsch, 147 × 244 mm Zu vermuten ist also, dass Goethe seine Studien zu der erwähnten »Capitalzeichnung« Rembrandts in dem zum Garten hin gelegenen Arbeitszimmer vornahm und zu diesem Zweck die bereits in der Sammlung vorhandenen Zeichnungen und Grafiken des Künstlers aus den Sammlungsschränken, die sich in den vorderen Räumen befanden, entweder selbst entnahm oder von seinen persönlichen Angestellten entnehmen ließ, wie bereits Trunz feststellte: »Für seine kunstgeschichtlichen Studien ließ Goethe sich durch [seine Diener Carl Johann Wilhelm] Stadelmann oder [Gottlieb Friedrich] Krause die eine oder andere Mappe mit graphischen Blättern in sein Arbeitszimmer bringen.«23 Die oben zitierten Hinweise Goethes aus seinem Tagebuch jedenfalls vermitteln ein eindrückliches Bild von den zahlreichen Aktivitäten, zu denen er sich durch seine Zeichnungssammlung veranlasst sah. Die eher ordnenden Arbeiten werden vor allem in den drei Sammlungsräumen durchgeführt worden sein, während die eingehenderen Betrachtungen einzelner Werke oder ganzer Konvolute im Zusammenhang mit anstehenden wissenschaftlichen Studien wohl ausschließlich im Arbeitszimmer stattgefunden haben werden – dies auf alle Fälle in den Wintermonaten, in denen die Sammlungszimmer nicht beheizt wurden und keinen längeren Aufenthalt erlaubten. Und so wird Goethe die Rembrandt-Zeichnung auch im Zusammenhang mit seinem Aufsatz »Rembrandt als Denker«, an dem er im Oktober 1831 noch arbeitete, erneut angeschaut haben: »Fortgesetztes Studium Rembrandtischer Blätter. Dictirt über den barmherzigen Samariter.«24 Diese Schreibsituation wird sicherlich im beheizbaren Arbeitszimmer zu verorten sein, wo Goethe dem Sekretär Johann August Friedrich John, am großen Schreibtisch sitzend, seinen Text zu Rembrandt diktierte. GOETHES BESCHÄFT IGUNG MI T RU I SDAEL - ZE I CHNUNGEN Goethe hat auf vielfältige Weise von seinen Zeichnungen Gebrauch gemacht. In einem weiteren Tagebucheintrag vom 25. Februar 1819 heißt es: »Die Ruisdaelische Kirchhofszeichnung«.25 Bei der erwähnten Zeichnung (Abb. 4)26 handelt es sich um einen Rötelabklatsch, der im Schuchardt’schen Katalog von 1848 unter der Nr. 882 wie folgt verzeichnet ist: »Jacob Ruisdael. Einige Grabdenkmäler. Kl. Qu. Fol. Rothsteinz. Contradruck.«27 Der Rötelabklatsch befand sich also spätestens seit 1819 in Goethes Besitz, allerdings konnte bislang nicht ermittelt werden, zu welchem Zeitpunkt das Blatt in die Sammlung gelangte. Möglicherweise befand sich die »Ruisdael«-Zeichnung aber bereits unter jenen Blättern, mit denen sich Goethe bereits drei Jahre zuvor, im März und April 1816, beschäftigt hatte. Auf die entsprechenden Einträge im Tagebuch wurde schon hingewiesen: »Prof. Riemer die Ruysdaelischen Zeichnungen«28 sowie: »Sonderung der Zeichnungen. Mit Riemer, Ruysdael u.a.«29 Neben dem besagten Rötelabklatsch aus der eigenen Sammlung könnte Goethe sich zudem Zeichnungen und natürlich auch eigenhändige Radierungen des Künstlers aus der Großherzoglichen Sammlung in seinem Arbeitszimmer angeschaut haben.30 So wissen wir jedenfalls, dass Ruisdael-Zeichnungen zu den frühesten Erwerbungen im Jahr 1781 gehörten.31 Da Goethe jederzeit Zugriff auf die Zeichnungsbestände des Großherzogs hatte, die damals noch im Bibliotheksturm aufbewahrt waren, kann davon ausgegangen werden, dass er von der Großherzoglichen Zeichnungs- und Grafiksammlung wiederholt Gebrauch machte.

Zur Geschichte der Kennerschaft in Weimar Abb.5, 6 Goethes Arbeitspult Birnbaum, Eiche, Nadelholz, Messing, Papier, 113,3 × 78 × 56 cm Weimar, Goethe-Nationalmuseum, Wohnhaus, Inv.-Nr. GMo/00101 Abb.7 Goethes Arbeitspult mit schräggestellter Arbeitsplatte und ausgeklapptem Textilschirm 54 × 63,3 cm Weimar, Goethe-Nationalmuseum, Wohnhaus, Inv.-Nr. GMo/00101.2

90/91 Abb.8 Einstichlöcher auf der Ruisdaelische[n] Kirchhofszeichnung Durchlichtaufnahme GOETHES ARBE I TSPULT ALS VORL AGET I SCH FÜR ZE I CHNUNGEN Am 25. Februar 1819 zog Goethe also seine »Ruisdaelische Kirchhofzeichnung« aus einem der Portefeuilles heraus, vermutlich aus einem extra angelegten Künstlerkonvolut, und brachte diese in sein Arbeitszimmer, um sie dort zusammen mit Riemer zu betrachten. Eigens zum Zweck des Betrachtens und des Studiums von Zeichnungen besaß Goethe einen speziellen Arbeits- oder Pulttisch, der sich bis heute erhalten hat und der nahelegt, dass Goethes Arbeitszimmer auch als Bilderlabor genutzt wurde (Abb. 5–7).32 Dass dieser Pulttisch zu Lebzeiten Goethes in seinem Arbeitszimmer aufgestellt war, belegt ein Inventarium derer Meubles und Geraethschaften welche in des verewigten Herrn Staatsministers von Goethe Arbeitsstube und daranstossenden Piecen zu finden sind, das kurz nach dem Tod Goethes aufgenommen wurde.33 In dem Inventar ist unter anderem verzeichnet: »Eine Stehpult=Komode vom Birnbaumholz mit 4. hohen Füßen und 9. Schubfächern auf allen 4. Seiten. Die obere Platte läßt sich schräg stellen, unter ihr ein vertiefter verschließbarer Raum.«34 Und auch Schuchardt hat in einer um 1843 erstellten Liste der in Goethes Arbeitszimmer befindlichen Gegenstände und Möbel (Verzeichnis der in Goethe’s Arbeits= und Schlafzimmer befindlichen Meubles [...]) ein besagtes »hohes Tischchen mit einigen kleinen Schubfächern« vermerkt; getrennt davon war »ein Rahmen mit grüner Seide überspannt, vielleicht Fenstervorsetzer« abgestellt.35 Ausdrücklich wird wiederum vermerkt, dass das »Tischchen [...] zwischen den beiden Fenstern« des Arbeitszimmers stand (vgl. Abb. 1). Bei diesem »hohe[n] Tischchen« handelt sich um einen umgebauten Schreibtisch, dessen ursprünglicher Korpus mit zwei nach vorne auszuziehenden Schubladen in der Höhe verdoppelt worden war. In der unteren Hälfte des so vergrößerten Korpus sind fünf Schubladen eingefasst, jeweils zwei zu den Seiten und eine schmalere auf der Rückseite, die die gesamte Tiefe des Pults durchmisst; letztere diente etwa zur Aufbewahrung von Schreibfedern. Auf dem unteren Teil des aufgesetzten Korpus wurde eine die komplette Fläche nutzende Ablage geschaffen, die eigens mit Papier sowohl am Boden wie auch an den inneren Seiten ausgeschlagen wurde. Diese neu geschaffene Ablage konnte durch eine Tischplatte von oben geschlossen werden (möglicherweise handelt es sich um die Tischplatte des umgebauten Tischpultes). Diese Platte ließ sich individuell mithilfe von zwei seitlich angebrachten Verstrebungen in verschiedenen Höhen arretieren. Eine eigens am unteren Rand angebrachte Leiste verhinderte, dass die bei Schrägstellung der Arbeitsplatte aufgelegten Papiere – oder Zeichnungen – herunterrutschten. An der Unterseite der klapp- und justierbaren Tischplatte ist des Weiteren ein textilbespannter Rahmen oder Schirm angebracht, dessen Rückseite durch zwei über Kreuz angebrachte Holzleisten verstärkt wird (Abb. 6).36 Dieser Schirm ist nach hinten ausfahrbar. In seiner ursprünglichen Handhabe war er durch eine Führung, die heute fehlt, selbst wiederum aufzustellen beziehungsweise aufklappbar. Dieses Arbeitspult befand sich vermutlich schon seit den 1780er-Jahren im Besitz von Goethe. In einer Rechnung von 1783 wird jedenfalls von einer »Zeichen-« oder »ZeigenMaschine« gesprochen, die mit »grüner Leinwand« beschlagen war.37 Die Tischapparatur diente Goethe vor allem der Betrachtung und dem Studium seiner eigenen Zeichnungen, wie anhand eines

Das Zusammenspiel von Materialanalyse und Stilkritik. Fallbeispiele Mit welchen Tinten zeichnete Rembrandt? Mit welchen Tinten zeichneten seine Schüler – und lassen sich die Zeichnungen Rembrandts von denen seiner Schüler mittels materialwissenschaftlicher Analyse unterscheiden? Die Authentifizierung von Rembrandt-Zeichnungen durch die Analyse der Tinten allein ist ein schwieriges Unterfangen, wie nachfolgend gezeigt wird. Allerdings offenbaren sich materielle Zusammenhänge zwischen den Zeichnungen Rembrandts und denen seiner Schüler, wodurch bislang stilkritische Unterscheidungen durchaus eine Bestätigung erfahren. »Die schönsten Bisterzeichnungen verdanken wir Rembrandt«,1 schreibt Joseph Meder und führt weiter aus: »Zeichnete er auch mit Tinte,2 die sich später in ein ähnliches Braun verfärbte, so fallen seine Bisterblätter mit Pinsel oder dicker Feder doch leicht durch das prachtvoll satte Braun auf [...].«3 Die Differenzierung der beiden Zeichenmaterialien, also Bister und Eisengallustinte, allein durch optische Merkmale ist indes aus heutiger Sicht problematisch, da nicht nur Alterungserscheinungen, sondern auch Beimischungen zu den jeweiligen Zubereitungen die Farbe beeinflussen können. So wurden dem Bister (Abb. 1), üblicherweise aus den wasserlöslichen Bestandteilen des Kaminrußes gewonnen, Eisenoxidpigmente zugesetzt, um ein satteres Braun zu erzielen. Dieses Prozedere ist für die Werkstatt Rembrandts überliefert.4 Genauere Analysen der Berliner5 und Weimarer Bestände offenbarten jedoch, dass die Verwendung von Bister auf Zeichnungen der Rembrandt-Schule eher die Ausnahme ist. So sind es denn die Eisengallustinten, die in vielfältigen Brauntönen das Erscheinungsbild der Zeichnungen Rembrandts und seiner Schüler heute bestimmen. CARSTEN WINTERMANN OL I VER HAHN Auf die Tatsache, dass die brauntonigen Tinten nicht das ursprüngliche Erscheinungsbild der Eisengallustinten widerspiegeln, wies bereits Joseph Meder hin. Die Erkenntnis, dass der heutige Farbeindruck ursprünglich gar nicht intendiert war, ist jedoch viel älter. Schon Ribeaucourt stellte Ende des 18. Jahrhunderts zur Zusammensetzung von Schreibtinten fest, dass sich Tinten mit zu viel Eisenvitriol gelb bis rot verfärben und jene mit zu vielen Galläpfeln zwar beständiger sind, aber bald braun werden.6 So ist davon auszugehen, dass die ursprünglich schwarzen Eisengallustinten nur noch teilweise ihren ursprünglichen Farbton bewahrt haben, und zumeist im Laufe der Zeit verbräunten. Eisengallustinte zählte lange zu den wichtigsten Schreib- und Zeichenmaterialien Europas, zahllose Rezepturen sind überliefert. Das schwarze Material entsteht durch Reaktion der beiden Hauptkomponenten Eisen und Gallussäure.7 In vielen Rezepturen ist fast ausschließlich Vitriol als eisenliefernde Zutat genannt (Abb. 2). Infolgedessen ging die Forschung davon aus, dass Eisengallustinten durch Mischen von natürlichem Eisenvitriol mit Gallapfelextrakten hergestellt wurden. Die Bezeichnung »Vitriolum« findet erstmalig in einem lateinischen Manuskript aus dem 8. Jahrhundert Erwähnung;8 die deutschsprachige Form »Vitriol« stammt wohl aus dem 12. Jahrhundert. Bei der zweiten Zutat, den Galläpfeln, handelt es sich um abnorme Wucherungen an Blattknospen, Blättern und Früchten verschiedener Eichenarten, hervorgerufen durch die Eiablage von Gallwespen. Üblicherweise enthalten die Tinten neben weiteren organischen Materialien wie Gerbstoffen ein wasserlösliches Bindemittel, zum Beispiel Gummi arabicum, zur Extraktion der Galläpfel wurden Lösemittel wie Wasser, Wein oder Essig verwendet. EMBRANDT Die Tinten der Rembrandt-Zeichnungen in den Graphischen Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar R

146/ 147 ODER NICHT? Da es sich bei den Ausgangsmaterialien des 16. und 17. Jahrhunderts um natürlich vorkommende Rohstoffe handelt, weisen die entsprechenden Tinten eine sehr heterogene Zusammensetzung auf. Einerseits enthalten die Galläpfel unterschiedliche Mengen an Gallussäure, andererseits wurden neben den Galläpfeln weitere gerbstoffliefernde Komponenten verwendet. Analytisch bedeutsamer ist jedoch der Umstand, dass das verwendete Vitriol nicht nur aus Eisensulfat besteht, sondern auch Kupfer-, Mangan-, Aluminium- und Zinksulfat enthält.9 Erfolgte die Reinigung der Vitriole seit dem Mittelalter durch Umkristallisation des Rohprodukts, wurden im Zuge der Industrialisierung Methoden eingeführt, mit denen reines Eisensulfat künstlich synthetisiert werden konnte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ausschließlich Eisenvitriol als eisenliefernde Komponente für die Herstellung von Eisengallustinten Verwendung fand. So ist es bemerkenswert, dass nordeuropäische Tinten vom 9. bis in das 12. Jahrhundert hinein neben Gerbstoffen nur Eisen und weitere Komponenten enthalten, die nicht-vitriolischen Ursprungs sind.10 Auch diese Tinten sind Eisengallustinten; die Zugabe des Eisens erfolgte jedoch auf einem anderen Weg durch Verwendung von Rost, Hammerschlag oder Nägeln. Im Gegensatz zu den anfangs beschriebenen vitriolisch basierten Eisengallustinten werden diese daher als nicht-vitriolisch basierte Eisengallustinten bezeichnet. Wie zu erwarten, beschränkt sich das Phänomen nicht nur auf Schreibtinten des Mittelalters, auch im zeichnerischen Werk Rembrandts lassen sich beide Tintentypen nebeneinander nachweisen.11

Das Zusammenspiel von Materialanalyse und Stilkritik. Fallbeispiele Abb.2 Rostige Nägel mit gelöstem Eisen (links) und kristallisiertes hellgrünes Eisen(II)sulfat (rechts) Abb.1 Originalaufstrich von Bister aus Meder 1923, Abb. 51, oben links Neben der Multispektralanalyse zur Klassifizierung der Zeichenmaterialien ist die Röntgenfluoreszenzanalyse, ebenfalls eine nichtinvasive Methode, ein wichtiges Instrument bei der Untersuchung von Zeichnungen. Der Nachweis einzelner Elemente liefert den Bezug zu den verwendeten Materialien – insbesondere zu den anorganischen Bestandteilen wie Pigmenten oder Metallsalzen der Eisengallustinte. Aus den qualitativen Befunden der Elementanalyse lässt sich ein quantitativer Fingerprint für die jeweilige Eisengallustinte ableiten. Dieser zeigt die relativen Konzentrationen einzelner Nebenbestandteile, wie beispielsweise Mangan, Kupfer oder Zink, bezogen auf die Hauptkomponente Eisen (Abb. 3). Absolute Konzentrationen können mit dieser Methode nicht ermittelt werden, da organische Bestandteile der Tinten – wie etwa Gerbstoffe oder Gummi arabicum – nicht zugänglich sind.12 Diese absoluten Konzentrationen sind aber zur Differenzierung nicht notwendig, da durch die Normierung Einflüsse durch unterschiedliche Schichtdicken des Zeichnungsmaterials auf dem Papier herausgerechnet werden.13 Im Weimarer Bestand wurden circa 50 Zeichnungen, die entweder von Rembrandt selbst oder von seinen Schülern stammen, mittels Röntgenfluoreszenzanalyse untersucht. Die Messungen ergaben ein heterogenes Bild. So zählen die Tinten der beiden Rembrandt-Zeichnungen Lot und seine Töchter aus der zweiten Hälfte der 1630er-Jahre (Abb. 4)14 und Alter Mann mit Bart und Turban aus den 1640er-Jahren (Abb. 5)15 zu den klassischen Eisengallustinten, die mit Eisenvitriol hergestellt wurden. Dieser Typ wurde auch für Der Levit und die tote Konkubine verwendet, eine Zeichnung vom Beginn der 1650er-Jahre, die Peter Schatborn ebenfalls als eigenhändige Zeichnung Rembrandts in sein Werkverzeichnis von 2019 aufgenommen hat (Abb. 6).16

148/ 149 Jedoch zeigen auch Schülerzeichnungen in der Weimarer Sammlung, die früher Rembrandt zugeschrieben waren, die Verwendung einer vitriolisch basierten Eisengallustinte. Wie schon eingangs erwähnt, bestätigt die Materialanalyse die landläufige Annahme, dass »Eisengallustinten unterschiedlicher Zusammensetzung in Bezug auf Farbe, Viskosität und Bindemittelgehalt das primäre Zeichenmedium in Rembrandts Werkstatt waren«.17 Der Federschneidende Mann, der bis vor Kurzem noch als authentische Zeichnung Rembrandts galt, bevor sie von Martin Royalton-Kisch dem Schüler Gerbrand van den Eeckhout (1621– 1674) zugeschrieben wurde,18 fügt sich zwar auch in den Kanon der mit Eisengallustinte ausgeführten Zeichnungen ein, sie wurde aber mit einer im Vergleich zu den bisher genannten Federzeichnungen eher ungewöhnlichen Eisengallustinte ausgeführt (Abb. 7).19 Weitere Tintenanalysen von zwei bisher unbestrittenen Rembrandt-Zeichnungen in der Weimarer Sammlung zeigen, dass auch sie mit diesen nicht-vitriolisch basierten Eisengallustinten entstanden sind, das heißt mit Tinten, die mit anderen eisenliefernden Zutaten als Vitriol hergestellt wurden. Bei diesen beiden Zeichnungen handelt es sich um das Studienblatt Drei Studien nach einer alten Frau und ein Bauernhaus und Bäume am Wasser (Abb. 8, 9).20 Dieser sozusagen neu ermittelte Typus der Eisengallustinte wurde auch in anderen Zeichnungen Rembrandts in den Beständen des Rijksprentenkabinets in Amsterdam sowie im Berliner Kupferstichkabinett gefunden.21 Wie die bereits genannte klassische Eisengallustinte ist diese neue Variante nicht auf Zeichnungen Rembrandts beschränkt, denn auch Zeichnungen aus seinem unmittelbaren Schülerkreis, wie das heute der Werkstatt Rembrandts zugeschriebene Blatt Saskia im Bett (vgl. S. 296f., Tafel 2.5), wurden mit ähnlich zusammengestellten Tinten ausgeführt. Die kennerschaftliche Zuordnung »Rembrandt« oder »Rembrandt-Schule« ist durch die Untersuchung und Typologisierung der Eisengallustinten also nicht möglich. Das ist allerdings nicht verwunderlich, da davon auszugehen ist, dass in einer so großen Werkstatt wie der Rembrandts gemeinschaftlich die gleichen Materialien wie Papier und eben auch Tinten verwendet wurden. Dadurch aber ermöglicht die materialwissenschaftliche Zuordnung der Tinte bisher in der Forschung vernachlässigte Zeichnungen wieder in den Werkstattkontext Rembrandts einzufügen. Für die Landschaft Haus unter Bäumen am Kanal mit Brücke (Abb. 10)22 wurde ebenfalls eine Tinte des neuen Typs verwendet, die den Tinten der oben beschriebenen Zeichnungen ähnelt. Insgesamt reicht diese Erkenntnis jedoch ebenso wenig wie die Papieranalyse aus, um die Zuschreibung eines Werks an Rembrandt zu begründen oder gar zu widerlegen, dennoch kann die Zeichnung durch die Materialanalyse wieder in den engeren Kreis der Rembrandt-Zeichnungen der 1640er-Jahre reintegriert werden. Die detaillierte materialwissenschaftliche Untersuchung einer großen Auswahl von Rembrandt-Zeichnungen oder von rembrandtesken Schülerzeichnungen ermöglicht somit neue Erkenntnisse über die zeichnerischen Praktiken in der Werkstatt Rembrandts und offenbart dabei Entwicklungen oder Veränderungen, die sich in der Materialität der Objekte heute immer noch widerspiegeln. Abb.3 Röntgenfluoreszenzspektren zweier Eisengallustinten mit zugehörigem Fingerprint, d.h. den relativen Elementkonzentrationen von Schwefel (S), Kalium (K), Calcium (Ca), Mangan (Mn), Kupfer (Cu) und Zink (Zn), bezogen auf die Hauptkomponente Eisen (Fe)

Das Zusammenspiel von Materialanalyse und Stilkritik. Fallbeispiele Abb.4 Rembrandt Harmensz. van Rijn Lot und seine Töchter, um 1638 Feder in Eisengallustinte, 152 × 191 mm Abb.5 Rembrandt Harmensz. van Rijn Alter Mann mit Bart und Turban, erste Hälfte 1640er-Jahre Feder in Eisengallustinte, 57,5 × 51 mm

150/ 151 Abb.6 Rembrandt Harmensz. van Rijn Der Levit und die tote Konkubine, 1640/50 Vorzeichnung und Überarbeitung in Feder in einer Eisengallustinte, Korrekturen in Bleiweiß, 199 × 207 mm

Die Weimarer Sammlung der niederländischen Zeichnungen heute BRAHAM JAN UND BONAVENTURA In den Graphischen Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar befinden sich neun Zeichnungen (Abb. 1–9),1 die bis vor kurzem noch unter dem Namen Gerrit Rademaker (1672–1711) geführt wurden, einem wenig bekannten Amsterdamer Künstler, der vor allem Darstellungen von imposanten Kirchen- und Palastinterieurs schuf. Im Jahr 2020 konnten jedoch acht dieser Zeichnungen, die alle signiert sind, Abraham Rademaker (1677–1735) zugeschrieben werden, einem Zeichner und Kupferstecher von topografischen Ansichten aus Lisse in Südholland, der nicht mit Gerrit Rademaker verwandt war.2 Die neunte, nicht signierte Zeichnung (Abb. 9)3 unterscheidet sich stilistisch von den übrigen acht signierten Zeichnungen Abraham Rademakers auch in Hinblick auf die zeichnerische Qualität. Sie ist daher einem anderen unbekannten Künstler zuzuschreiben. Dass die acht signierten Zeichnungen in der Vergangenheit nicht als Werke von Abraham Rademaker erkannt wurden, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie in einem völlig anderen Stil gezeichnet wurden als wir ihn von diesem Künstler gewohnt sind. Außerdem weichen die Signaturen von seiner üblichen Art zu unterzeichnen ab. Daher mag man an einen anderen Künstler mit dem Namen Rademaker gedacht haben, und zwar an Gerrit Rademaker, der in der Literatur aufgeführt wurde, dessen zeichnerisches Werk aber kaum bekannt war.4 Der äußerst produktive Abraham Rademaker hat wohl Hunderte von Drucken sowie mehrere tausend Zeichnungen angefertigt. Er wandte dabei viele verschiedene Zeichenstile an, die erst vor Kurzem identifiziert und beschrieben wurden.5 So ist eine Gruppe von 18 Zeichnungen in einem sogenannten sorgfältigen Stil ausgeführt, bei dem die dargestellte Topografie sehr präzise mit scharfen, dünnen Linien und hauptsächlich mit brauner Tinte gezeichnet wurde. Alle Darstellungen wurden zunächst in Grafit (vor-)gezeichnet, dann mit einem Stift nachgezogen und die Grafitlinien ausradiert, in drei Fällen (Abb. 1, 5, 6) jedoch nicht vollständig. Nach der zeichnerischen Ausführung mit dem Stift diente der Pinsel hauptsächlich zum leichten Lavieren des Himmels und der Wasserflächen. Um Schatten anzudeuten, wurden meist Schattierungen mit dem Stift angelegt, der Pinsel wurde nur gelegentlich innerhalb der Stiftlinien der Architektur eingesetzt (Abb. 6, 8). Neben Gebäuden spielen Schiffe oft eine wichtige Rolle, die dargestellte Natur besteht aus Wasser, Felsen und Bergen. Die Wipfel von Bäumen sind mit Zickzacklinien angedeutet, während Menschen nicht oder kaum abgebildet werden. Und wenn sie auftauchen, dann als sehr kleine Figuren, die nicht von der dargestellten Topografie ablenken. Es gibt einige Zeichnungen, die mit dem Pinsel ausgearbeitet sind (vgl. Abb. 2).6 Dies wirft die Frage auf, ob die ausschließlich mit dem Stift gezeichneten Blätter tatsächlich fertiggestellt wurden. A

240/ 241 RADEMAKER KOP I ERT PEETERS CHARLES DUMAS Abb.1 Abraham Rademaker, nach Jan Peeters Die Ruinen der Burg von San Sorzy auf der griechischen Insel Andros, um 1715 /18 Grafit, Feder in Braun, sehr leicht grau laviert, 189 × 344 mm

Die Weimarer Sammlung der niederländischen Zeichnungen heute Abb.2 Abraham Rademaker, nach unbekanntem Vorbild Die Festung von La Asturia, um 1715 / 18 Feder in Braun, Pinsel in Braun und Grau, sehr leicht grau laviert, 185 × 312 mm Abb.3 Abraham Rademaker, nach Gaspar Bouttats, nach Jan Peeters Der Hafen von Methoni (Modon), um 1715 / 18 Feder in Braun, sehr leicht grau laviert, 252 × 444 mm

242 / 243 Abb.4 Abraham Rademaker, nach unbekanntem Vorbild Der Hafen von Brindisi in Italien, um 1715 / 18 Feder in Braun, sehr leicht grau laviert, 145 × 431 mm Abb.5 Abraham Rademaker, nach Gaspard Bouttats, nach Jan Peeters Der Hafen von Damaskus in Syrien, um 1715 / 18 Grafit, Feder in Braun, sehr leicht grau laviert, 145 × 430 mm

Die Weimarer Sammlung der niederländischen Zeichnungen heute Waren sie vielleicht als reine Stiftzeichnungen gedacht? Wurden einige von späterer Hand mit dem Pinsel ergänzt? Wenn ein oder zwei Blätter gewissermaßen unvollendet geblieben wären, wäre diese Hypothese nachvollziehbar, aber dass das Gros unvollendet sein soll, erscheint wenig plausibel. Die Gruppe dieser Zeichnungen im sogenannten sorgfältigen Stil kann selbst noch einmal in zwei Untergruppen aufgeteilt werden. Die erste Gruppe enthält zehn Blätter, von denen sich sieben in Weimar (Abb. 1–5, 7, 8), eines in der Albertina in Wien und zwei im Kunsthandel befinden; sie zeigen alle Häfen, Festungen, Schlösser und Städte rund um das Mittelmeer.7 Obwohl sie thematische und stilistische Ähnlichkeiten aufweisen, unterscheiden sie sich untereinander in ihren Blattmaßen. Es ist davon auszugehen, dass sie nicht als Serie gedacht waren. Bis auf zwei Zeichnungen tragen diese Blätter die gleiche Signatur mit einem etwas eigenwilligen großen »R« am Anfang, das möglicherweise als Kombination der Buchstaben »A« und »R« gedacht war. Zudem weist der Buchstabe »d« eine überschwängliche, nach links geneigte Krümmung auf, während die nachfolgenden Buchstaben unverbunden angehängt sind.8 Die zweite Untergruppe besteht aus acht Blättern, die niederländische, flämische und deutsche topografische Darstellungen zeigen. Drei dieser Zeichnungen befinden sich in Leiden, zwei in Privatbesitz, eine in Amsterdam, eine in Weimar (Abb. 6) und eine letzte 2015 im Kunsthandel; nur das Exemplar in Weimar ist signiert.9 Von den 18 Zeichnungen im »sorgfältigen« Stil tragen 15 eine topografische Angabe am oberen Rand in der Mitte. Zwölf von diesen Aufschriften sind auf einem überstehenden Streifen angebracht, der nach dem Beschneiden der oberen Blattränder stehengeblieben ist; drei Blätter wurden innerhalb der Rahmenlinie bezeichnet. Bei den übrigen drei Zeichnungen ohne Schriftzug ist dieser wohl oben abgeschnitten worden. Den Aufschriften zufolge sind auf den Zeichnungen bekannte ausländische Orte wie Brindisi in Italien (Abb. 4), Cartagena in Spanien (Abb. 8) und Damaskus in Syrien (Abb. 5) abgebildet. Vom griechischen Modon (Abb. 3) hat man dagegen kaum etwas gehört, während die Burg San Sorzy (Abb. 1), die Festung La Asturia (Abb. 2) und eine Stadt Canistro in Rumänien (Abb. 7) überhaupt nicht bekannt sind. Da Abraham Rademaker selbst kaum reiste, handelt es sich bei den topografischen Ansichten, die er selbst gesehen und gezeichnet hat, fast ausschließlich um Orte in den Niederlanden oder kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze (Kleve, Rees, Emmerich, Elten und Eltenberg). Wenn er hingegen auswärtige Motive aufnahm, waren es verständlicherweise immer Kopien nach früheren Vorbildern. Es ist daher anzunehmen, dass es sich bei den acht Zeichnungen in Weimar um Kopien nach anderen Vorlagen handelt – in den meisten Fällen werden dies Drucke gewesen sein. Da Rademaker zum Zeichnen von niederländischen Schlössern, die damals bereits nicht mehr existierten, manchmal Details aus alten Grundrissen in der Vogelperspektive entnahm, denen er aber ein frontales Aussehen verlieh,10 ist auch nach solchen grafischen Vorlagen zu suchen. Die topografischen Darstellungen aus der ersten Gruppe – Ansichten mediterraner Architektur, oft umgeben von Wasser mit Schiffen in einem extrem breiten Format – erinnern sehr an Radierungen, die Lucas Vorsterman d. J. (1624–1666/67) und Gaspar Bouttats (1648–1695/96) nach Zeichnungen des Antwerpeners Künstlers Jan Peeters (1624–1678) gestochen haben.11 Diese Radierungen gehören zu einzelnen Stichserien, die um 1686 von Jacob Peeters (1637–1695), dem jüngeren Bruder von Jan, herausgegeben wurden, so zum Beispiel die Korte beschryvinghe, en aenwysinghe der plaetsen [...], Description des principales Abb.10 Gaspar Bouttats, nach Jan Peeters Der Hafen von Damaskus in Syrien, um 1686 Radierung, 130 × 257 mm Katholische Universität Eichstätt- Ingolstadt, Universitätsbibliothek, Sign. 191/1 Q 16a

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