Leseprobe

R E M E M B E R V E N I C E ! R E M E M B E R V E N I C E ! BERNARDO BELLOTTO ZEICHNET

R E M E M B E R V E N I C E ! ⁄ Herausgeber Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Mechthild Haas SANDSTE I N VERL AG BERNARDO BELLOTTO ZEICHNET

Inhalt 6 Vorwort M A R T I N F A A S S 8 Grußwort – Bellotto und Polens Untergänge P E T E R O L I V E R L O E W 11 Bernardo Bellottos Zeichnungsschatz M E C H T H I L D H A A S 25 Bellottos Netzwerk zwischen Venedig und Dresden A L E X A N D E R R Ö S T E L 37 Der Krieg im Leben und Werk von Bernardo Bellotto K S E N I J A T S C H E T S C H I K - H A MM E R L 45 Schwarz auf Weiß. Provenienzforschung zu den Radierungen U D O F E L B I N G E R 57 Restauratorische Bearbeitung und kunsttechnologische Aspekte der Zeichnungen F R I E D E R I K E Z I M M E R N - W E S S E L 61 Katalog der Zeichnungen 63 Venedig und die Lagune 109 Terraferma 129 Capricci 155 Rom Florenz Verona 179 Barocke Bühne 199 Anhang 201 Biografie 202 Liste der ehemaligen Darmstädter Bellotto-Zeichnungen 204 Liste der Darmstädter Bellotto-Radierungen 206 Literatur 214 Dank 215 Bildnachweis 216 Impressum ⁄

Bernardo Bellottos Zeichnungsschatz M E C H T H I L D H A A S ⁄

/ 12 Um 1735 konnte der talentierte Bernardo Bellotto eine Ausbildung als Vedutenmaler im florierenden venezianischen Werkstattbetrieb seines Onkels Antonio Canal beginnen.1 Venedigansichten standen damals als Statussymbol unter Kunstsammlern wie auch als Souvenir europäischer, vor allem englischer Bildungsreisender, hoch im Kurs. Anfang des 18. Jahrhunderts war das an Kunstschätzen reiche Venedig eine Metropole internationalen Kulturaustausches. Ein Besuch der Lagunenstadt gehörte als fester Programmpunkt zur Grand Tour des Adels und der patrizischbürgerlichen Eliten. Doch als 1742 der Österreichische Erbfolgekrieg italienischen Boden erreichte und sich zu einemweltumspannenden Konflikt auswuchs, waren die goldenen Zeiten der Serenissima endgültig Geschichte. Mit dem Rückgang des Venedig-Tourismus wurde das Auskommen imMetier der Vedutenmalerei zunehmend schwierig, es gab keine Aufträge mehr. Antonio Canal gab seine Werkstatt auf und ging 1746 nach England, wo er für zehn Jahre blieb und reüssieren sollte.2 Im Jahr darauf entschloss sich auch der 25-jährige Bernardo Bellotto, Venedig den Rücken zu kehren. Er wollte nach Dresden an den kurfürstlichen Hof wechseln, wo ihn ein lukratives Angebot erwarten sollte.3 Zusammen mit seiner Frau Maria Elisabetta, dem fünfjährigen Sohn Lorenzo und dem Diener Checco verließ Bernardo Bellotto im Juli 1747 seine Heimatstadt. Die Zeichnungen, die er im Gepäck mit sich führte, befanden sich noch an seinem Lebensende im Jahr 1780 in Warschau in seinem künstlerischen Nachlass, ergänzt um einige post-italienische Arbeiten, die in Dresden und Warschau entstanden waren. Was war so besonders und einmalig an diesemMaterial für Bernardo Bellotto? Welche spezielle Beziehung hatte der Künstler zu diesen Blättern, dass er sie zeitlebens wie einen Schatz bewahrte? Die Provenienz Es grenzt an einWunder, dass diese Zeichnungen ein äußerst bewegtes Künstlerleben mit Auswanderung, Reisen und Umzügen überdauern konnten, ja erhalten geblieben sind, obgleich Bellottos Hab und Gut in Dresden durch das preußische Bombardement im Siebenjährigen Krieg vernichtet wurde. Das legt nahe, dass Bellotto seine Zeichnungsmappe immer mit sich geführt haben musste, auch bei seinen Arbeitsaufenthalten in Wien und München. Nicht minder erstaunlich ist das posthume Schicksal der Werke, das bis nach Darmstadt führte und das Hessische Landesmuseum Darmstadt neben dem Nationalmuseum inWarschau zu den beiden Sammlungen mit den weltweit größten Zeichnungsbeständen von Bellotto macht. Am 17. Oktober 1780 hatte ein Schlaganfall dem Leben Bellottos in seinem 59. Jahr ein jähes Ende gesetzt. 1785 verstarb seine Frau und 1789 seine älteste Tochter Maria Josepha Friederica; so blieb Theresia Francisca, das jüngste der insgesamt neun Kinder von Elisabetta und Bernardo, die einzige Hinterbliebene. Sie heiratete 1792 den Witwer ihrer ältesten Schwester, Hermann Karl de Perthées, einen Kartografen in Diensten des Polnischen Königs Stanisław August II.4 1798 zogen beide samt Bernardo Bellottos künstlerischem Nachlass5 nach Vilnius in Litauen, wo de Perthées eine Stelle als Dozent für Kartografie bei der russischen Armee antrat. In Vilnius erwarb Anfang des 19. Jahrhunderts der aus Darmstadt stammende Kaiserlich Russische Staatsrat Ludwig Heinrich von Bojanus (Abb. 1) rund 80 Zeichnungen aus Bellottos Nachlass.6 Der ausgebildete Arzt und Chirurg war 1806 einem Ruf als Professor für Tierarzneikunde nach Vilnius gefolgt, 1816 dort zudem Leiter der vergleichenden Anatomie, 1821 Staatsrat und schließlich 1822 Rektor der Universität und ihres Schulkreises ⁄ w Detail Kat. 52

/ 13 geworden.7 Da sich Bojanus’ Gesundheitszustand ab 1824 dramatisch verschlechterte, rieten ihm seine Ärzte, Vilnius zu verlassen. Der Gelehrte kehrte mit seiner Frau zurück in das inzwischen großherzogliche Darmstadt zur Familie seiner Schwester Luise Friederike, die sich 1814 mit Carl Christian Eigenbrodt verheiratet hatte. Nach dreijähriger Krankheit starb Bojanus am 2. April 1827 in Darmstadt.8 In seinem Testament9 hatte er verfügt, dass sein Vermögen zum Unterhalt seiner Pflegetochter Amalie Rüdy dienen sollte, mit deren Vormundschaft er seinen Schwager und dessen ältesten Sohn, den Hofgerichtsadvokaten Reinhard Eigenbrodt, betraute. In Konsequenz erschien am 20. und 24. November 1829 in der »Großherzoglich-Hessischen Zeitung« unter Nummer 2883 die Ankündigung des Hofgerichtsadvokaten Eigenbrodt zur Versteigerung einer »Parthie Kunstgegenstände aus dem Nachlaß des Staatsraths von Bojanus, öffentlich gegen baare Zahlung« im Darmstädter Gasthaus zur Stadt Mainz für den 25. November nachmittags um 15 Uhr (Abb. 2). Die Annonce nannte als Versteigerungsobjekte unter anderem Kupferstiche von »Bernardo Belotto de Canaletto« sowie »Handzeichnungen (eine Mappe von 76 Handzeichnungen Canalettos)«.10 Wie wir aus Heinrich August Schleiermachers Liste von »Kabinetskasserechnungen«11 entnehmen können, bezahlte das Großherzogliche Museum für die »Sam _ l.[mlung] Abb. 1 F R I E D R I C H L E O N H A R D L E H M A N N Ludwig Heinrich Bojanus 1809. Punktiermanier, Radierung und Aquatinta. 215 × 140 mm (Platte), 247 × 168 mm (Blatt). Technische Universität Darmstadt, Historische Sammlung, Inv. his-Port-B-0153-c/001 Abb. 2 Großherzoglich-Hessische Zeitung 24. November 1829. Annonce Nummer 2883

/ 14 von Zeichnungen von Canaletto« 140 Gulden und 40 Kreuzer.12 Das scheint moderat, führt man sich die damals getätigten Investitionen für zeitgenössische Künstler vor Augen.13 Zu den Canaletto-Zeichnungen erwarb man von Eigenbrodt auch einige Publikationen des Naturwissenschaftlers Ludwig Heinrich von Bojanus.14 Zusammen mit diesen kamen die Zeichnungen zunächst in die Hofbibliothek. 1928 veröffentlichte der Kustos der Graphischen Sammlung am Hessischen Landesmuseum Karl Freund in »Stift und Feder« erstmals drei Blätter aus dem Darmstädter Bellotto-Konvolut unter der Provenienzangabe »Sammlung Bojanus«.15 Nachdem die Nationalsozialisten Freund Anfang 1933 aufgrund seiner jüdischen Wurzeln aus dem Dienst entlassen hatten,16 verkaufte das Museum aus dem verwaisten Bestand der Graphischen Sammlung Altmeisterzeichnungen aller Schulen, um mit dem Geld die Sammlung altdeutscher Kunst vor allem mit Glasmalerei zu erweitern.17 Nach heutigem Kenntnisstand wurden dabei auch elf Zeichnungen der Bellotto-Gruppe veräußert; vier Zeichnungen waren schon 1891 abgegeben worden.18 Heute besitzt das Hessische LandesmuseumDarmstadt 61 Zeichnungen von Bernardo Bellotto, 56 gesicherte und fünf ungesicherte Arbeiten. Die Themen Zweifellos bargen die italienischen Veduten für Bernardo Bellotto ein unwiederbringliches Andenken an die Orte seiner Heimat, Notationen von Italiens Einmaligkeit, geografische und urbanistische Vorlagen, die der Künstler zukünftig in seiner Malerei nutzen wollte. Ein Drittel der Ansichten zeigt Venedig (Kat. 1 –20), sodass man anhand dieser Blätter die Lagunenstadt von Süd nach Nord und West nach Ost durchstreifen kann (Abb. 3). Die imaginäre Sightseeing-Tour startet im Zentrum am Bacino di San Marco und dem Markusplatz (Kat. 1 –5), führt den Canal Grande hinauf bis zur Fondamenta della Croce (Kat. 6 –12), hat die wichtigen Kirchen und Plätze im Programm und berücksichtigt auch Randbezirke (Kat. 13 –20). Hinzu kommen Veduten einiger Städte Ober- und Mittelitaliens wie Padua (Kat. 25 –30), Verona (Kat. 51, 52) und Rom (Kat. 42– 47) sowie architektonische Capricci (Kat. 31 – 41). Da damals bereits diverse Stichwerke mit venezianischen wie italienischen Veduten vorlagen,19 dürfte das Repertoire an Bildmotiven für Bellotto jedoch nicht ausschlaggebend gewesen sein, an diesen Arbeiten festzuhalten. Entsprechend der Herkunft aus dem Künstleratelier handelt es sich bei demDarmstädter Bellotto-Konvolut ausschließlich um verschiedene Werkzeichnungen. Autonome, bildhaft geschlossene Zeichnungen, die als finale Kunstwerke für Sammler geschaffen wurden, gehören nicht dazu. Die Öl- und Farbflecken20 auf den Papieren belegen, dass Bellotto seinen Zeichnungsschatz ständig neu gehoben und benutzt hat, dass der Künstler die Blätter nicht unter Verschluss hielt, sondern sie als lebendiges Arbeitsmaterial in Gebrauch hatte. Die gängige Lesart definiert Bellottos Zeichnungen als Schritte innerhalb eines auf Malerei gerichteten Entwicklungsprozesses,21 doch lassen sich damit nicht alle Qualitäten dieser als Arbeiten auf Papier gefertigten Werke fassen. Der vorliegende Band versucht einen erweiterten Blick auf die Resultate. Dafür werden neueste technologische und restauratorische Untersuchungsmethoden, der kulturhistorische Kontext, erkenntnisphilosophische und wahrnehmungstheoretische Argumente sowie das Nachdenken »über die ästhetische Erfahrung des in der Zeichnung Erscheinenden«22 einbezogen – mit dem Ziel, das Künstlerindividuum Bernardo Bellotto noch deutlicher aus dem Schatten seines Onkels Antonio Canal hervortreten zu lassen.

Abb. 3 Iconografica Rappresentatione della inclita Citta di Venetia: Con tutti i Canali, Ry, Chiese, Ponti, Isolette, Division de Sestieri, i.e; Urbs Venetiarum ad Exemplar Typi maioris, qui Serenißimo Senatui Veneto consecratus, Venetÿs 1729 prodÿt, in hanc minorem formam redacta; Cum P. S. C. M. / Curantibus Hommanianis Heredibus; Homannsche Erben Etwa 1750. Radierung, koloriert. 540 × 380 mm (Plattenrand). Technische Universität Darmstadt, Historische Sammlung, Inv. his Stadtplaene Venedig 1750

Bellottos Netzwerk zwischen Venedig und Dresden* A L E X A N D E R R Ö S T E L ⁄

/ 26 Blickt man auf die Rücken der Ausstellungskataloge, die in der jüngeren Vergangenheit dem venezianischen Vedutenmaler Bernardo Bellotto gewidmet wurden, entsteht nicht unberechtigterweise der Eindruck, sie setzten sich mit einem Chronisten europäischer Großstädte auseinander: Houston bewarb 2001 beispielsweise »Bernardo Bellotto and the Capitals of Europe«; vier Jahre später lautete der Untertitel in Wien »Europäische Veduten«; in München hieß es 2014 schließlich »Bellotto malt Europa«. Der wiederholte Bezug auf Europa mag für eine Epoche, in der sich die Nationalstaaten meist auf Schlachtfeldern gegenüberstanden, anachronistisch erscheinen. Im Fall von Bellotto erscheint er jedoch geradezu zynisch. Die Auswirkungen des Österreichischen Erbfolgekriegs zwangen ihn zu steten Reisen und letztlich zum Verlassen seiner Heimatstadt, in die er nie wieder zurückkehren sollte. Die neue Existenz, die er sich in Dresden aufbaute, ging beim preußischen Bombardement der Stadt im Zuge des Siebenjährigen Krieges in Flammen auf. Nach Zwischenstationen in Wien und München erlebte er schließlich ein Polen, welches die umliegenden Großmächte allmählich begannen, unter sich aufzuteilen. Anders als für viele seiner Auftraggeber war das Erlebnis europäischer Städte also weniger demVergnügen als vielmehr der Notwendigkeit geschuldet. Das erfolgreiche Navigieren entlang stetig wechselnder Aufenthaltsorte wäre ohne ein ausgeprägtes soziales Netzwerk nicht möglich gewesen. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, dieses Netzwerk nachzuzeichnen. Er legt den Fokus folglich nicht auf die europäischen Städte als Anziehungspunkte oder Repräsentationsobjekte, sondern auf die persönlichen Kontakte, die die Wege zwischen ihnen geebnet haben. Anfänge in Venedig Als Bernardo Bellotto am 20. Mai 1722 in Venedig das Licht der Welt erblickte, feierte sein Onkel, Giovanni Antonio Canal, besser bekannt als Canaletto, dort bereits die ersten künstlerischen Erfolge. 1727 ließ der britische Impresario und Förderer Canals, Owen McSwiney, den Herzog von Richmond wissen, dass sein Schützling mehr Aufträge hätte als er in absehbarer Zeit bewältigen könne.1 Um die hohe Nachfrage zu bewältigen, benötigte Canal schon bald eine eigene Werkstatt. Dass der junge Bellotto dort das Malerhandwerk erlernte, wird nicht zuletzt anhand seiner frühen und zum Großteil in Darmstadt befindlichen Zeichnungen deutlich. In dieser Zeit fungierte der in Venedig residierende britische Konsul Joseph Smith nahezu exklusiv als Agent von Canal.2 Smith, selbst ein bedeutender Kunstsammler, trug maßgeblich zur wachsenden Beliebtheit seiner Veduten bei, indem er sie insbesondere in der britischen Oberschicht erfolgreich vermittelte. Zum Kreis der Interessenten gehörte beispielsweise Henry Howard: Inspiriert von der Sammlung des Konsuls, bestellte er eine Serie von über 40 Veduten für Castle Howard, seinen Landsitz in Yorkshire. An deren Ausführung waren neben Canal auch Michele Marieschi, Giovanni Battista Cimaroli und – wie die Forschung der letzten Jahre anhand von Stilvergleichen überzeugend herausgearbeitet hat – der junge Bernardo Bellotto beteiligt. Für die Koordination dieses Großprojekts verantwortlich war der Grafiker, Gelehrte und Kunsthändler Anton Maria Zanetti der Ältere (1680 –1767).3 Parallel zum Auftrag von Howard dürfte eine ähnliche, wenngleich deutlich kleinere Werkgruppe für den englischen Gelehrten James Harris (1709 –1780) entstanden sein. Im Addendum seines 1739 begonnenen »Account of My Pictures« finden sich »vier Ansichten ⁄ w Detail Kat. 49

/ 27 von Venedig, von denen die beiden größeren von Marieschi zum Preis von 20 Guineas und die beiden kleineren von Bellotto für 10 Guineas gemalt worden waren«.4 Zeitgenössische Quellen, darunter ein oft zitierter Brief des Universalgelehrten Francesco Algarotti an seinen Bruder Bonomo, belegen, dass Maler wie Marieschi und Bellotto vor allem für ihre Fähigkeit, die stark nachgefragten Veduten Canalettos zu imitieren, geschätzt wurden.5 Ohne Vorbild seines Onkels sind die sechs Ansichten von Florenz (darunter Abb. 1), die Bellotto im Sommer 1740 für Andrea Gerini und Vincenzo Riccardi, Mitglieder zweier florentinischer Adelsfamilien, anfertigte.6 Aus Rechnungsbelegen geht hervor, dass Zanetti dabei einmal mehr eine Mittlerrolle zwischen Auftraggebern und Maler, der hier als »Bernardo Canaletto« bezeichnet wird, einnahm. Zanetti genoss aufgrund seiner grundlegenden Arbeit über die Antikensammlung der Bibliothek von San Marco, die im gleichen Jahr erstmals publiziert wurde, internationales Ansehen. Zu den Abonnenten gehörten neben seinem Freund Gerini auch viele weitere der künftigen Auftraggeber von Bellotto, was nahelegt, dass er – analog zur Rolle Smiths für Canal – einen entscheidenden Anteil am Fortgang von Bellottos Karriere hatte. Abb. 1 B E R N A R D O B E L L O T T O Florenz. Ansicht arnoaufwärts gegen den Ponte alla Carraia 1740. Öl auf Leinwand. 50 × 75 cm. Privatsammlung

/ 28 Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für Gerini, der neben Bernardo auch dessen Brüder Pietro (1725 geboren und ebenfalls als Vedutenmaler tätig) und den in Arezzo im Druckgewerbe dokumentierten Michele Bellotto förderte.7 Für den jungen Künstler dürfte das Netzwerk des Marchese Gerini Weichen gestellt haben. Zu den Abnehmern der von Gerini in Auftrag gegebenen und 1744 erschienenen Florentiner Vedutenserie von Giuseppe Zocchi zählte beispielsweise der »Reale Principe di Pollonia«, aller Wahrscheinlichkeit nach Friedrich Christian von Sachsen, über den noch gesondert zu berichten sein wird.8 Weitere Dokumente belegen, dass Gerini enge Kontakte zu Giuseppe Pozzobonelli unterhielt, der im Juni 1743 zum Erzbischof von Mailand ernannt wurde und der im Folgejahr eine Reihe von Veduten lombardischer Orte bei Bellotto in Auftrag gab. Auch mit dem Wiener Hof, an dem sich Bellotto zwischen 1759 und 1760 aufhielt, stand Gerini im Austausch. Über einen der beiden Wege ergab sich womöglich auch der Kontakt zum Kammerherrn der Habsburger in Mailand, Graf Antonio Simonetta. Wie die Inschriften auf zwei Darmstädter Zeichnungen (Kat. 49 und 50) verraten, fertigte Bellotto für ihn im Jahr 1744 die Ansichten von Vaprio und Canonica an. Mit dem Erfolg von Florenz im Rücken ist es gewiss kein Zufall, dass Bellotto kurz nach seiner Rückkehr nach Venedig, am 8. Dezember 1740, erstmals eine seiner erhaltenen Federzeichnungen signierte (Kat. 20). In die gleiche Phase fallen auch seine ersten dokumentierten venezianischen Veduten: Der in den Diensten der Republik tätige GeneralfeldAbb. 2 B E R N A R D O B E L L O T T O Venedig. Ansicht des Canal Grande mit den Palazzi Foscari und Moro Lin Öl auf Leinwand. 101 × 162 cm. Stockholm, Nationalmuseum, NM 49

/ 29 marschall Johann Matthias von der Schulenburg erwarb sie im November 1740 für seine Sammlung. Aus privaten Unterlagen geht hervor, dass es sich dabei um zwei Ansichten von San Marco und zwei vom Arsenale handelte, für die von der Schulenburg eine Zahlung von neun Zechinen veranlasst hatte.9 Welche Absichten von der Schulenburg verfolgte, lässt sich nur erahnen: Während Smith vordergründig mit Veduten von Canal warb und die Beteiligung von Bellotto aufgrund der arbeitsteiligenWerkstattorganisation gewissermaßen in Kauf nehmen musste, war demGeneralfeldmarschall durchaus amAufbau einer Sammlung gelegen, die das gesamte künstlerische Spektrum der Lagunenstadt repräsentierte.10 Als gut vernetztem Kenner und Förderer dürfte ihm darüber hinaus das offensichtliche Talent des jungen Bellotto bei vergleichsweise niedrigen Kaufpreisen kaum entgangen sein. In einem Speditionsdokument vomMärz 1741, also weniger als ein halbes Jahr nach ihrem Erwerb, werden die vier »Prospettive di Venezia del Nipote di Canaletto« folgerichtig mit 80 Dukaten schon deutlich höher bewertet.11 Erste Kontakte nach Dresden In die Zeit von Bellottos frühesten nachweisbaren Aufträgen fällt auch der Venedig-Aufenthalt von Friedrich Christian von Sachsen. Der sächsische Thronfolger weilte imRahmen seiner Grand Tour vom 21. Dezember 1739 bis zum 11. Juni 1740 in der Stadt. Sein Reisetagebuch liefert detaillierte Informationen über seine dortigen Aktivitäten.12 Zwar ist eine Begegnung mit Bellotto darin nicht explizit erwähnt, doch wird Friedrich Christians gesteigertes Interesse an venezianischen Veduten anhand eines Eintrags vom 5. April 1740 deutlich: »AmNachmittag habe ich [. . .] den Brigadegeneral Stratico mit mehreren Gemälden empfangen, die ich Marschall Schulenburg gebeten hatte, mit anderen zu vergleichen, die angeblich von einem gewissen Canaletto – Maler aus Venedig – stammen. Jedoch wurde die Angelegenheit sehr zweifelhaft, da diese Bilder in keiner Weise denen ähnelten, die der Marschall besitzt und die wahrlich von dem erwähnten Canaletto stammen.«13 Über den Brigadegeneral Stratico liegen außerhalb des Tagebuchs, aus dem hervorgeht, dass er dem Kurprinzen in Venedig mehrfach Gesellschaft leistete, bedauerlicherweise keine weiteren Informationen vor. Auch ist nicht überliefert, wem die Gemälde aus seinem Besitz letztlich zugeschrieben wurden. Möglich wäre, dass es sich um Frühwerke von Bellotto handelte, verwies doch dessen Biograf und späterer Kollege in Dresden, Pietro Guarienti, zu Recht auf die Schwierigkeiten, seine Venedigansichten von denen seines Onkels zu unterscheiden.14 Der Tagebucheintrag würde auch zusätzliche Erklärungen dafür liefern, warum von der Schulenburg trotz der vermeintlichen Überlegenheit Canals, von dem er bereits wichtige Werke besaß, nur wenige Monate später gleich vier Veduten von dessen Neffen erwerben sollte. Die Grand Tour Friedrich Christians nährte bei der örtlichen Künstlerschaft die berechtigte Hoffnung auf lukrative Aufträge. Am selben Tag, an dem er Canal bewunderte, hatte er bereits seine erste Sitzung bei der Pastellmalerin Rosalba Carriera, die sein Porträt anfertigte; ein Maler aus demUmkreis von Pietro Longhi hielt seinen feierlichen Empfang an der Grenze der Republik Venedig fest, während Michele Marieschi die Regatta verewigte, die zu seinen Ehren veranstaltet wurde.15 Vor diesemHintergrund ist sehr wahrscheinlich auch eine weitere frühe Vedute einzuordnen, die imNationalmuseum in Stockholm bewahrt wird (Abb. 2). Sie zeigt den jungen Prinzen, der seit seiner Geburt an einer Gehbehinderung litt, gestützt von zwei Begleitern, beim Betreten einer Gondel vor der Ca’ Foscari, wo er während seines gesamten Aufenthalts

/ 64 Feder in Braun (Eisengallustinte) über schwarzem Stift 365 × 392 mm Starke horizontale Knickung im oberen Viertel; Augpunktlinie mit schwarzem Stift etwa 155 mm von unten; mit schwarzem Stift in vertikale Viertel zu je etwa 97 mm geteilt; viele Markierungen durch Zirkeleinstiche. Mittelstarkes beiges Hadernpapier; rechts mittig WZ (Dreiblatt über Turm[?], nicht weiter identifizierbar) P R OV E N I E N Z ab 1780 Familie des Künstlers, Vilnius; nach 1806 in Vilnius erworben von Ludwig Heinrich Bojanus (1776 –1827), später Darmstadt; 1827 durch Erbschaft an seinen Schwager Geheimer Staatsrat Karl Christian Eigenbrodt (1769 –1839), Darmstadt; am 25. November 1829 erworben durch Großherzogliches Museum zu Darmstadt bei öffentlicher Versteigerung in Darmstadt durch dessen Sohn Hofgerichtsadvokat Reinhard Eigenbrodt (1799 –1866) aus dem Nachlass Ludwig Heinrich Bojanus Inv. AE 2189 L I T E R A T U R Fritzsche 1936, Nr. VZ 14; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Z 68; Darmstadt 1973, Nr. 17; Darmstadt 1981, Nr. 2 Bellotto übte sich hier an einer der berühmtesten Ansichten Venedigs: demMarkusbecken mit dem Bucintoro am Festtag Christi Himmelfahrt. Mit dem ikonischen Blick reiht sich der Eleve in die Tradition venezianischer Vedutenmaler, beginnend mit Luca Carlevarijs (1663 –1730) bis zu seinem Lehrmeister und Onkel Antonio Canal (1697–1768). Letzterer hat kein anderes Motiv so oft in Szene gesetzt. Das Hochfest Christi Himmelfahrt, venezianisch sensa, war die touristische Hauptattraktion der Lagunenstadt. Alljährlich am 9. Mai wurde der Doge im Rahmen einer großen Schiffsprozession auf das offene Meer hinausgerudert, wo er mit denWorten »Wir heiraten dich, Meer, zum Zeichen unserer wahren und beständigen Herrschaft« einen goldenen Ring in die Fluten warf und die venezianische Seeherrschaft über die Adria symbolisch bekräftigte. Dabei saß der Doge in seinem Staatsschiff, dem Bucintoro. Zu Bellottos Zeiten war dies eine vergoldete Prachtgaleere, die 1728 im Arsenal von Venedig aus Holz gebaut worden war. Sie maß 43,8 Meter in der Länge, 7,3 Meter in der Breite und 8,4 Meter in der Höhe. Die 84 Ruder wurden von je zwei Mann bedient. Der Bucintoro kam ausschließlich an der sensa, zum Empfang fremder Herrscher oder zur Überführung einer neuen Dogaressa in den Dogenpalast zum Einsatz. Bellottos Zeichnung orientierte sich an Canals Gemälde, das um 1738 datiert wird und sich in der Sammlung des Earl of Leicester, Holkham, befindet. Dessen perspektivische Anlage lässt den Betrachter in leicht distanzierter Position von einem erhöhten Standpunkt frontal auf das Geschehen blicken. Auch auf Bellottos nahezu quadratischer Zeichnung ragt in die leere Himmelszone der Markusturm auf, in der unteren Blatthälfte wird die Wasserfläche planparallel ausgeklappt. Mit Federstrichen aus Zeichenkürzeln und Umrisslinien bemühte sich der Schüler, das Prachtspektakel in allen Details wiederzugeben. Während Canal in seinem Gemälde Regie führte und durch Licht-, Schatten- und Farbgebung die sich überschneidenden Schiffe voneinander absetzte, den Dogenpalast und die Staatsgaleere deutlich separieren konnte, lösen sich in Bellottos Zeichnung die Grenzen zwischen Land und Wasser auf. Vor uns steht eine märchenhafte Zauberkulisse, in der nicht nur der orientalisch-byzantinische Dekor des Palazzo Ducale scheinbar nahtlos in den geschnitzten Zierrat des Bucintoro übergeht, sondern sich das gesamte Regierungszentrum in ein von Leben durchdrungenes Gemisch aus Gebäuden, Schiffen und Menschen verwandelt hat. – MH 1 / A N T O N I O C A N A L Rückkehr des Bucintoro zum Pier am Himmelfahrtstag Um 1738. Öl auf Leinwand. 106,5 × 106,6 cm. The Earl of Leicester and Trusties of Holkham Estate, Norfolk, Inv. 342

Der Molo vom Bacino di San Marco aus 1735 –1738

/ 66 Feder in Braun (2 Farbtöne, Eisengallustinte) über schwarzem Stift 177 × 378 mm Augpunktlinie mit schwarzem Stift etwa 59 mm von unten; durch drei schwache vertikale Knicke in Viertel zu je etwa 93 mm geteilt; viele Zirkeleinstiche. Festes beiges Hadernpapier; ohne WZ; Farb- und Ölflecke V E R S O Grobe Architekturskizze mit schwarzem Stift; bez. mit Inschriften von späterer Hand mit schwarzem Stift und verschiedenen Bleistiften P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2211 L I T E R A T U R Freund 1928, Abb. Mappe 4, 87 (Darmstadt 87); Hadeln 1930, S. 30 f., 43, Abb. 69; Fritzsche 1936, Nr. VZ 31; Parker 1948, bei Nr. 62; München 1958, Nr. 248; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 3; Darmstadt 1973, Nr. 16; Constable/Links 1976, Bd. 2, bei Nr. 537; Darmstadt 1981, Nr. 5; Morolli 1994, S. 277, mit Abb. Es dürfte den Ehrgeiz des angehenden Vedutisten Bellotto befeuert haben, sich dem Markusplatz zeichnerisch nähern zu dürfen, denn hier befand sich das Zentrum der in Marmor gefassten Macht der Seerepublik. Mit seinen prachtvollen Bauten bot der Platz die repräsentative Bühne für Staatsbesuche, feierliche Umzüge und reges Markttreiben. Bei seiner Zeichenübung wählte Bellotto eine Position, die sein Onkel Canal in einer Zeichnung (Windsor Castle, RCIN 907422) wie auch in einem Gemälde (Constable/Links 1976, Bd. 1, Nr. 53) vorgelegt hatte. Der Standort ist vor dem Uhrturm, dem Torre dell’Orologio. Von dort kann man einerseits die Platzbebauung von Ost nach West überblicken, beginnend amMarkusdom über die neuen Prokuratien an der Südseite bis zur westlichen Flanke mit den Arkaden der neuen und alten Prokuratien, dazwischen steht die damals noch vorhandene Kirchenfassade San Geminiano, die von Jacopo Sansovino entworfen wurde. Andererseits führt der Blick links vorbei an den drei Fahnenmasten, dem freistehenden campanile auf die sogenannte Piazzetta mit dem Dogenpalast und den zwei Säulen bis zum Ufer, wo sich das Bacino di San Marco mit der vorgelagerten Insel San Giorgio Maggiore öffnet. Die architektonische Autopsie der den Platz säumenden Bogengänge der Prokuratien bedeutete für den Zeichenschüler eine wahre Sisyphusarbeit. Um die perspektivische Verkürzung ihrer kaum enden wollenden Phalanx aufs Papier zu bringen, markierte Bellotto mit dem Grafitstift zunächst parallele vertikale Segmente, deren Abstände sich Millimeter um Millimeter verschmälern. Zuvor hatte er mit drei vertikalen Faltungen den Blattraum in vier gleichgroße Kompartimente unterteilt. Die penible Vorzeichnung der Arkadenabschnitte füllte der Eleve dann mit ungezählten winzigen Leibungen, Bögen und Gesimsen, die er mit der Feder ausführte. Damit stieß er offensichtlich an seine feinmotorischen Grenzen. Insbesondere beim hoch aufragenden campanile wird dies spürbar. Deutlich sieht man den unsicher wackelnden Strich einer verkrampften Hand, die der Schüler nach den ungezählten kurzen Federstrichen zur Füllung der Bogensegmente davongetragen hatte. Im Vergleich zu den mühsam ausgeführten Gebäuden wirkt die Staffage erheblich lockerer, auch wurde sie mit anderer Tinte ausgeführt. Vermutlich brachte Bellotto diese erst zu einem späteren Zeitpunkt und mit geübterer Hand in seine Zeichnung ein. – MH 2 / Verso

Der Markusplatz vom Torre dell’Orologio aus gesehen 1735 –1738

/ 68 Feder in Braun (Eisengallus- und Mischtinte) über schwarzem Stift 151 × 331 mm Festes beiges Hadernpapier; in der Mitte vertikal gefaltet, ringsum beschnitten; rechts mittig WZ (Lilie im Wappen, Detail, über Handelsmarke »4« über Buchstaben »WR« über Buchstaben »VL«, gestürzt und gespiegelt, wahrscheinlich unterer Teil von WZ auf Inv. AE 2219, Kat. 47) P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2194 L I T E R A T U R Hadeln 1930, S. 43, Abb. 68; Fritzsche 1936, Nr. VZ 18; Parker 1948, bei Nr. 61; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 2; Darmstadt 1973, Nr. 15; Constable/Links 1976, Bd. 2, bei Nr. 538 (irrig als A.E. 2914); Darmstadt 1981, Nr. 6; Venedig 1995, Nr. 163, S. 442, mit Abb.; Kowalczyk 2019, S. 15 f., Abb. 2 Das Blatt, zu dem bislang keine Vorlage von Canal bekannt ist, hatte in Bellottos Zeichnungsfundus die wichtige Funktion, die Gesamtansicht der Piazza zu komplettieren. Entsprechend beginnt diese Vedute links, dort wo die andere Ansicht (Kat. 2) rechts endet: an der Westseite mit den fünf Arkadenbögen der alten Prokuratien. Deren mächtiger Gebäudekomplex erstreckt sich entlang der Nordseite bis zum Uhrturm, dem Torre dell’Orologio. Den rechten Schlusspunkt bildet die linke Seite der in fünf Portale gegliederten Fassade des Markusdoms, der auf der Pendant-Zeichnung den Ausgangspunkt links gibt. Obwohl die Perspektive und Größenverhältnisse beider Veduten unterschiedlich sind, ergeben sie zusammen gleichsam ein Panorama und ermöglichen eine Rundumschau auf alle vier Platzseiten. Das auffällige queroblonge Format beider Blätter unterstreicht die enorme Fläche der Piazza di San Marco, die mit 175 Metern Länge und 82 Metern Breite zwei Fußballfeldern entspricht. In Venedig führte nur dieser Platz den Namen piazza, alle anderen Freiflächen der Stadt waren ungepflastert und wurden campi genannt (ital. campo, das Feld). Indem Bellotto mit der Feder ein Gitternetz über das Geviert legte, markierte er den glatten, hellen Steinbelag der Piazza aus Trachyt und istrischem Kalkstein. Dieser ersetzte im Jahr 1722 den alten roten Backsteinbelag wegen der hohen Instandhaltungskosten und der Stolpergefahr. In der anderen Zeichnung zur Piazza (Kat. 2) ist das geometrische, weißgraue Flächenmuster von Andrea Tirali zu erkennen, das sich in zwei Bahnen über den Platz zog. Die aus lockeren Kringeln formierte Staffage verweist auf die geübtere Hand. Wir sehen unterschiedliche Figurengruppen, darunter auch einen Menschenauflauf bei einer artistischen Bühnenschau von Gauklern. Dass Bellotto nicht nur die Architektur des Platzes dokumentierte, sondern diese in seiner Zeichnung souverän zu inszenieren verstand, wird an den vor dem Dom aufragenden gegossenen Schiffsmasten anschaulich. Zu Festtagen wehten an ihnen die Fahnen der im Besitz der Serenissima befindlichen drei Königreiche: Zypern, Kandia (Kreta) und Morea (Peloponnes). In der Vedute bilden ihre Spitzen gleich einem Crescendo eine aufsteigende Achse und heben den Blick vom Markusplatz – als dem tiefst gelegenen Punkt der Stadt – empor zur Basilica di San Marco, dem zentralen Staatsheiligtum der Republik Venedig bis zu ihrem Ende 1797. – MH 3 /

Markusplatz mit den Alten Prokuratien 1735 –1738

/ 118 Feder in Braun (Eisengallustinte) über Grafit 134 × 202 mm Bez. u. r. mit Rötel: 1-c; in der Mitte vertikal gefaltet; unten grob beschnitten, linker Rand durch Schnitt vom Original getrennt und wieder angesetzt, alt hinterlegt. Dünnes beiges Hadernpapier; oben mittig WZ (Detail nicht identifizierbar) P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2231 L I T E R A T U R Fritzsche 1936, Nr. VZ 50; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 32; Darmstadt 1981, Nr. 30 Wie aus Schaumwolken scheinen die imposante Kirche und andere Gebäude hier aufzusteigen. Mit kurzen kurvigen Strichen hat Bellotto in dieser Zeichnung von Padua eine Reihe von Baumkronen durch die Bildmitte gezogen, und ganz links in ein Stück der Stadtmauer auslaufen lassen. Von dort aus zieht sich der Wasserlauf des Stadtgrabens in den Vordergrund. Was links wie eine ebene Auenlandschaft beginnt, entwickelt sich zu einer mit lockeren Strichen ausgeführten Skizze von Uferpartien mit Anglern, einem kleinen Pavillon, einigen Häusern, die von einem Wallstück verdeckt sind und einem bildabschließenden Hügel im Vordergrund. Deutlicher markiert ist neben der Kirche Santa Giustina nur das quadratische Renaissancegebäude, die Porta Pontecorvo, ein 1517 von dem Luganer Architekten Sebastiano Mariano errichtetes Stadttor. Die Stadtsilhouette selbst ist kaum zu erkennen, nur vereinzelt sind wenige Millimeter hohe Hausdächer hinter den Baumkronen auszumachen, hinterfangen von einer Hügelkette in der Ferne. Bei dem beeindruckenden, sofort ins Auge springenden Kirchengebäude handelt es sich um eine Abteikirche des Benediktinerordens im Range einer basilica minor. Geweiht ist sie der Märtyrerin Justina, die im Jahr 304 unter dem Kaiser Diokletian für ihren Glauben gestorben ist. Der von Bellotto gezeichnete Bau entstand im 16. Jahrhundert als fünfschiffige Basilika über dem Grundriss eines lateinischen Kreuzes und zählt mit einem Langhaus von über 122 Metern Länge zu den weltweit größten Kirchen. Der an der Seite aufragende Kirchturm ist 82 Meter hoch. Die charakteristische Silhouette aus vier großen und vier kleinen Kuppeln findet sich ähnlich bei der Basilika des Heiligen Antonius, der Kirche des Stadtheiligen Paduas. Nach den akribischen venezianischen Architekturaufnahmen unter Anleitung seines Onkels vermag die lockere Skizze zu überraschen. Sie gehört zu einer Gruppe von Zeichnungen, die auf der Reise nach Padua mit Canal in den Jahren 1740 oder 1741 entstanden sind. – SL 26 /

Ein Teil Paduas mit der Kirche Santa Giustina 1740 –1742

/ 120 Feder in Braun und Dunkelbraun (Eisengallustinte) über schwarzem Stift 218 × 381 mm Bez. o. r. mit Feder in Braun: 18; über Rötel: 16; Augpunktlinie mit schwarzem Stift 63 mm von unten; sehr wenige Zirkeleinstiche vorhanden. Festes beiges Hadernpapier; unten mittig WZ (Detail, nicht identifizierbar) P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2182 L I T E R A T U R Fritzsche 1936, Nr. VZ 8; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 45; Darmstadt 1981, Nr. 21 Über einem Abhang wuchern dichte Laubsträucher, aus deren Mitte ein zierlicher, sich scheinbar im Wind krümmender Baum mit wenigen, teils vertrockneten Ästen hervorsprosst. An dieser wild bewachsenen Kuppe führt ein kräftig zerfurchter Weg vorbei. Von der anderen Seite flankieren alte Häuser mit ihren Fassaden aus unregelmäßigemMauerwerk die raue Straße. Diese Federzeichnung mit der Ansicht Paduas von der Hand des jungen Bellotto gibt die sommerliche Atmosphäre des Vororts der alten Universitätsstadt geradezu haptisch wieder. Bellottos Zeichnung ähnelt zwar in ihrem Sujet dem entsprechenden Blatt seines Onkels Antonio Canal aus der königlichen Sammlung in Windsor Castle, unterscheidet sich jedoch von jenem entschieden im Charakter der grafischen Ausführung. Dichte und gleichmäßige Parallelschraffuren prägen die Zeichnung des Onkels und erwecken den Eindruck, dass ausschließlich effektvolle Lichtführung das Thema der Landschaftsdarstellung bildet. Bellottos Zeichnung bezeugt vielmehr das Interesse des Künstlers an der suggestiven Wiedergabe verschiedener Materialien und Oberflächenstrukturen. Mit wenigen virtuosen Linienkürzeln deutete der Künstler auf dem Darmstädter Blatt menschliche Figuren an, die wohl ermüdete Pilger auf ihrem beschwerlichen Weg zum Grab des Heiligen Antonius darstellen. Die kuriosen runden und pyramidalen Kuppeln der berühmten Wallfahrtsbasilika San Antonio sind auf der Horizontlinie im Bild deutlich erkennbar. Weiter links von der Kirche fällt in der paduanischen Ansicht ein mächtiger mittelalterlicher, mit Zinnen umkränzter Wehrturm ins Auge. Es handelt sich um die Torlonga der mittelalterlichen Burg, deren Anlage auf die Herrschaftszeit des grausamen Ezzelino III. da Romano im 13. Jahrhundert zurückgeht. Von 1767 bis 1777 wurde der obsolet gewordene Wehrturm in ein Observatorium, die heutige Specola di Padova, umgebaut. Der Turm wurde seitdem jedoch nicht nur zum Beobachten der Gestirne genutzt, sondern ebenso als Aussichtsplattform von Reisenden verwendet. Während seines Besuchs in Padua im September 1786 bestieg auch der neugierige Johann Wolfgang von Goethe den Turm und bewunderte den Ausblick: »Die herrliche Lage der Stadt konnte ich vom Observatorium aufs klärste überschauen.« (Goethe 1975, S. 56) – KTH 27 / A N T O N I O C A N A L Ansicht von Padua Um 1742. Feder und Tusche, über Stiftvorzeichnung. 272 × 373 mm. Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II 2022, RCIN 907507

Paduanische Ansicht mit der Torlonga des Castelvecchio und der Kirche San Antonio 1740 –1742

/ 122 Feder in Braun (Eisengallustinte) über Grafit 261 × 388 mm Bez. o. r. mit Rötel: 18; der Gebäudekomplex rechts durch vier mit dem Lineal gezogene Striche mit Grafit als Ausschnitt begrenzt. Festes beiges Hadernpapier; oben Mitte WZ (Dreiblatt, Detail); am unteren Rand unsauber beschnitten P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2181 L I T E R A T U R Wiesbaden 1935, Nr. 218; Fritzsche 1936, Nr. VZ 7; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 46; Darmstadt 1981, Nr. 33 Die Vedute findet sich auf einer von Canal als finales Kunstwerk für seinen Sammler, den Konsul Smith, gefertigten Kabinettzeichnung (Windsor Castle, RCIN 907542). Dabei hat Bellottos Blatt nichts von einer wohltemperierten, fein illuminierten, bildhaft geschlossenen Federzeichnung, wie sie sein Onkel vorlegte. Vielmehr visierte der junge Zeichner hier mit schnell gesetzten, lebhaften Federzügen die Szenerie, wobei die Tinte bisweilen fast klecksende Spuren hinterließ. Als Riegel verläuft der Staketenzaun durch die Mitte der Komposition und markiert den Beginn der Stadt außerhalb ihrer Mauern mit einigen ländlichen Gebäuden auf der rechten Seite. Den point de vue bildet der Glockenturm der Kirche Santa Giustina in der Ferne. Links der Mitte ist das Torhaus der Porta Pontecorvo zu erkennen. Mit wenigen Zutaten wie Wolkenschleier oder Vogelschwarm gelang es, die atmosphärische Stimmung der sommerlichen Landschaft einzufangen. Aus der weiten Poebene erhebt sich links die sanfte Hügelkette der Colli Euganei mit ihren seit der Antike berühmten Thermalheilbädern vulkanischen Ursprungs. Die konische Silhouette ihres höchsten Berges, des Monte Rusta, ist deutlich zu erkennen. Der mit schwarzem Stift rechteckig umgrenzte Ausschnitt über dem Gebäudekomplex ist nicht der verworfene Versuch einer Motivfindung, wie Bleyl meinte (Darmstadt 1981, Nr. 33). Vielmehr markierte Bellotto hier die Passlinien für das Arkadenmotiv, das er in einer weiteren Zeichnung mit derselben Ansicht (Kat. 32) einfügte und dann auch in seine ausgeführte Radierung übernahm (Abb. siehe S. 138). – MH 28 / A N T O N I O C A N A L Padua: Außenbezirke der Stadt Um 1742. Feder und Tusche, über Stiftvorzeichnung. 270 × 378 mm. Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II 2022, RCIN 907542

Paduanische Ansicht aus der Nähe der Stadtbefestigungen 1740 –1742

/ 164 Feder in Braun (Eisengallustinte) über schwarzem Stift 256 × 370 mm Bez. o. r. mit Rötel: 9-b; Augpunktlinie mit Grafit etwa 80 – 85 mm von unten; Blatt durch vertikale Faltung in Viertel zu je etwa 93 mm geteilt, Mittelsenkrechte und linke Knickfalte mit schwarzem Stift präzisiert; wenige Zirkeleinstiche. Mittelstarkes beiges Hadernpapier; ohne WZ; stark verbräunt; Tintenfraß; Farb- und Ölflecke P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2242 L I T E R A T U R Wiesbaden 1935, Nr. 207; Fritzsche 1936, Nr. VZ 60; Rom 1959, Nr. 69; London 1960, bei Nr. 184; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 66; Darmstadt 1981, Nr. 43; Constable/ Links 1989, Bd. 2, bei Nr. 407; Villis 2000, S. 76 – 81, 79, Abb. 8; Venedig/Houston 2001, bei Nr. 24; München 2014, Nr. 23, S. 197, Abb. Oft wurden die als Souvenirs für wohlhabende Touristen gedachten Ansichten in Sets angefertigt. Entsprechend hatte Bellotto seine Vedute des Tibers als Gegenstück zu dem bis heute ikonischen Blick auf die Ewige Stadt mit Sankt Peter, Engelsbrücke und Engelsburg (Castel Sant’Angelo) entwickelt. Beide ausgeführten Gemälde existieren bis heute (Kozakiewicz, Nr. 65, Toledo Museum of Art, Toledo Ohio und das Gegenstück, Detroit Institute of Arts), während sich von Bellottos Vorzeichnungen einzig das vorliegende Blatt erhalten hat. Um seinen Pendantblick auf die Engelsburg zu kreieren, wählte Bellotto einen Standpunkt am rechten Tiberufer gegenüber San Giovanni dei Fiorentini. Kurz zuvor, nämlich erst 1734, war der gewaltige Kuppelbau der Kirche der florentinischen Gemeinde in Rom fertiggestellt worden. Zwar war das Prestigeprojekt bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach Plänen Jacopo Sansovinos begonnen worden, blieb aber wegen Planungsschwierigkeiten bis dato unvollendet. Insbesondere die Fundamentierungsarbeiten des Chors, der in das Bett des Tiber ragte, verschlangen enorme Summen. Bellottos Tuschzeichnung elaboriert die Hell-Dunkel-Verteilung der Szene. Quasi aus demWasser des Tiber wachsen Chor und Vierungsturm empor und dominieren die Bildkomposition. In der Silhouette verschmilzt die Kubatur des mächtigen barocken Baukörpers mit der Stadtbebauung am nördlichen Ende der Via Giulia, unmittelbar am Ponte Principe Savoia-Aosta. Dunkel kontrastiert das Monument gegen die hellere Hauswand am linken Bildrand. Rund 350 Meter entfernt von Bellottos Standpunkt liegt im Zentrum, links der Mittelsenkrechten, die Engelsburg. Das massive Grabmal des römischen Kaisers Hadrian, das in eine päpstliche Festung umgewandelt worden war, galt als Symbol des über die heidnische Antike triumphierenden Christentums. Bellotto nutzte die Vordergrundstaffage als Kommentator seiner Bildfindung: An der Uferpromenade diskutieren neben einheimischen Spaziergängern zwei junge Rombesucher mit ihrem Lehrer oder Reiseführer, dessen Stockspitze den Blick führt. Zweifellos befanden sich die wohlhabenden Jugendlichen im Rahmen ihrer Grand Tour in der Ewigen Stadt. Hier sollten sie Lebenserfahrungen sammeln, europäische Geschichte und Kultur studieren, um so den nötigen kosmopolitischen Schliff zu erhalten. – MH 46 / B E R N A R D O B E L L O T T O Tiberansicht mit dem Castel Sant’Angelo 1743 oder 1744. Öl auf Leinwand. 87,3 × 148,3 cm. Detroit Institute of Arts, Founders Society Purchase with funds from Mr. and Mrs. Edgar B. Whitcomb, Inv. 40.166

Rom. Der Tiber mit der Kirche San Giovanni dei Fiorentini 1742

/ 166 Feder in Braun zwei Farbtöne (Eisengallustinte) über schwarzem Stift 223 × 375 mm Bez. o. r. mit Feder in Braun: 2; mit Rötel: 4 c; Bezifferung und Beschriftung mit Feder in Braun einiger Details; oben in der Mitte Einzelstudien von Architekturdetails mit Feder in Braun; dünne Quadrierung; schwache Augpunktlinie etwa 54 mm von unten mit schwarzem Stift; Blatt vertikal in Viertel zu je etwa 93 mm eingeteilt; wenige Zirkeleinstiche. Mittelstarkes beiges Hadernpapier; unten mittig WZ (Bekröntes Lilienwappen, Detail; eventuell oberer Teil von AE 2194, Kat. 3); ungleichmäßig stark verbräunt P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2219 L I T E R A T U R Hadeln 1930, S. 20 f.; Wiesbaden 1935, Nr. 213; Fritzsche 1936, Nr. VZ 38; Rom 1959, Nr. 68; Heidelberg 1964, Nr. 20; Wien 1965, Nr. 3 b; Darmstadt 1969, Nr. 9; Paris 1971, Nr. 24; Bacou 1971, S. 306, Abb. S. 303; Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Nr. 80; Darmstadt 1981, Nr. 46; Constable/Links 1989, Bd. 2, bei Nr. 401d; Villis 2000, S. 77, Abb. 2; Turin 2008, bei Kat. 40: Ludwig 2010, S. 44, Abb. 9; Darmstadt 2015b, S. 219, Abb. S. 219; Mailand/Dresden/Warschau 2016, bei Nr. 49 Unter Bellottos Vedute liegt eine präzise, mit schwarzem Stift und Lineal ausgeführte Konstruktionszeichnung. Nur wer durch eine der schmalen Zugangsöffnungen tritt, wird die spezielle, von barocker Feierlichkeit dominierte Atmosphäre der Piazza Navona erfassen können. Bellotto lenkte aus leicht erhöhter Perspektive den Blick in diesen Bühnenraum. Es ist eine piazza sala, offen und geschlossen zugleich. Bis heute entspricht die ovale Form einer vor fast 2 000 Jahren unter Kaiser Domitian dort errichteten Arena. Die säumenden drei- und viergeschossigen Bürgerhäuser überragt gleichsam schwerelos die dünne Nadel des ägyptischen Obelisken von Gian Lorenzo Berninis Vierströmebrunnen, der Fontana dei Quattro Fiumi. Bereits 1645 hatte Papst Innozenz X. (Giovanni Battista Pamphilj) die Wasser der Acqua Vergine zuführen lassen, um diesen Monumentalbrunnen zu errichten. 1654 konnte in der Südwestecke das Stadtpalais des Papstes, der Palazzo Pamphilj, vollendet werden. Bellotto zeigte das sich über drei Gebäude erstreckende Anwesen vorne links nur zur Hälfte. Sein künstlerisches Hauptaugenmerk galt dem 1657 beendeten Kirchenneubau Sant’Agnese. Francesco Borromini konstruierte seine von einem Tambour erhöhte Kuppel und die konkav eingeschwungene Fassade. In der Himmelszone fertigte Bellotto Detailstudien zu einem Fenster des Palazzo Pamphilj und zu den Glockentürmen der Kirche. Offensichtlich interessierte sich der Vedutenmaler für Borrominis kühne Überlagerungen geometrischer Formen, denn in seiner Dresdener Bibliothek befand sich das posthum veröffentlichte Stichwerk des Barockarchitekten (Borromini 1720, siehe Mailand/Dresden/Warschau 2016, Nr. 83, S. 234). Der Platz ist frei von Staffagefiguren. Sicherlich konnten solche im Nachhinein dazu komponiert werden, wie auf dem Gemälde der Piazza Navona (Italienische Privatsammlung, Mailand/Dresden/Warschau 2016, Kat. 49, S. 156) zu sehen ist. Gleichwohl könnte Bellotto mit der leeren Fläche auch auf eine weitere theatralische Inszenierung der barocken Herrschaftsarchitektur verwiesen haben. Nachdem man erkannt hatte, dass die piazza eine Mulde bildete und damit überflutet werden konnte, wurde vor allem im heißen Sommer der Platz unter Wasser gesetzt (piazza allagata). Das künstliche »Wassergrundstück« bot der Familie Pamphilj die imposante Kulisse für ihre prächtigen Empfänge in Gondeln und Prunkschiffen. Das von den Römern geliebte Wasserspektakel wurde im 19. Jahrhundert wegen der Angst vor einer potenziellen Malaria-Epidemie untersagt. Indem Bellotto den weißen Papiergrund mit wenigen ineinanderlaufenden Wellenlinien belegte, wollte er vermutlich Wasser andeuten. Auch lässt die Zeichnung den konkaven Verlauf des Platzes erkennen: Der Vierströmebrunnen liegt auf einem tieferen Niveau als die Randbebauung. Liest man die Beschriftungen am Boden vorne links, wo sich dieWellenlinien verdichten, als »serra« von serra tura (Schloss/Schleuse) und »para« von paratoi (Tore), könnte das außerdem auf das Fluten und Schließen der Abflüsse hinweisen. – MH 47 / G I OVA N N I PAO L O PA N N I N I Piazza Navona in Rom unter Wasser gesetzt, zur Festa del Lago (Seefest) 1756. Öl auf Leinwand. 95,5 × 136 cm. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv. PAM 834

Rom. Piazza Navona 1742–1744

/ 168 Giuseppe Zocchi (Bernardo Bellotto, abgeschrieben) Florenz 1711 –1767 Florenz Feder in Grau (2 Farbtöne) über schwarzem Stift 268 × 382 mm Bez. o. r. mit Feder in Braun: 13; o. r. mit Rötel: 8-a; allseitig bildmäßige Umrandung mit Feder in Grau über schwarzem Stift; Bildfeld durch vertikale Striche mit Grafit in Viertel zu je etwa 92 mm geteilt; Augpunktlinie mit Grafit 93 mm von unten; einige Zirkeleinstiche. Festes beiges Hadernpapier; mittig WZ (Sonne, achtstrahlig) P R OV E N I E N Z siehe Kat. 1 Inv. AE 2197 L I T E R A T U R Fritzsche 1936, Nr. VZ 21 (als Bellotto); Kozakiewicz 1972, Bd. 2, Z 313 (als Bellotto); Darmstadt 1981, Nr. 57 (als Bellotto); Gregori 1983 (als Zocchi); Mailand/Dresden/ Warschau 2016, bei Nr. 37 (als Zocchi); Lucca 2019, Nr. 12, S. 68, Abb. a (als Zocchi) Eine Ansicht wie auf der vorliegenden Zeichnung ist nicht Teil von Giuseppe Zocchis Florenz-Serie, die er im Auftrag des Marchese Andrea Gerini schuf (Zocchi 1744). Jedoch eine Vedute, die den Arno flussaufwärts zeigt, also von dem Ponte alla Carraia Richtung Ponte Santa Trinità. Das Darmstädter Blatt ist dazu wie die Gegenseite einer Medaille: Ist die Staffage hier von vorne zu sehen, wird sie dort von hinten erfasst. So fährt auf dem Darmstädter Blatt rechts auf dem Lungarno Corsini eine zweispännige Kutsche dem Betrachter entgegen. Auf dem Gegenblatt fährt dieselbe Kutsche in die gleiche Richtung und ist folglich auf der linken Seite von hinten zu sehen. Weitere ähnliche »Vice-versaSpiele« in den zwei Zeichnungen unterstreichen die Komplementarität beider Veduten. Erst zusammen ergeben sie eine komplette Sicht auf diesen zentralen Brückenabschnitt des Arnos im Herzen von Florenz. Spekulativ muss der Anlass bleiben, der Zocchis Vedute in Bellottos Besitz brachte. Beide Künstler waren sich vermutlich im Sommer 1740 begegnet, als Bellotto für Andrea Gerini und Vincenzo Riccardi sechs Florenzveduten angefertigte (siehe Beitrag Röstel, S. 27). Womöglich standen sie bei ihrer Motivsuche gemeinsam auf dem Ponte Santa Trinità, von wo aus Zocchi mit weichem, in graue Tinte getauchtem Federstrich seine Komposition nach streng perspektivischen Regeln entwickelte. Möglicherweise sollte Bellotto Zocchis Zeichnung für den Druck überarbeiten und so den illustren Reigen der radierenden Künstler der Edition, unter ihnen Marieschi und Piranesi, ergänzen, wozu es aber dann doch nicht gekommen ist. Auch wäre es keine ungewöhnliche Künstlerpraxis, wenn Zocchi dem elf Jahre jüngeren Kollegen seine Zeichnung zur Erinnerung an ihre fruchtbare Begegnung in Florenz 1740 als Freundschaftsblatt übereignet hätte. Mit der Zuschreibung an Giuseppe Zocchi folgen wir Mina Gregori (Gregori 1983) und Bożena Anna Kowalczyk (Lucca 2019). Die Uffizien in Florenz verwahren ein motivgleiches Blatt (Inv. 1842 P), das traditionell Giuseppe Zocchi zugeordnet wurde. Kowalczyk sieht darin eine Zeichnung von Bernardo Bellotto, womit dies seine einzige noch heute vorhandene gezeichnete Vedute von Florenz wäre (Lucca 2019, S. 68). Bellotto griff in einem Gemälde (Cambridge, The Fitzwilliam Museum, Inv. 195) auf das Motiv vom Ponte Santa Trinità gegen den Ponte alla Carraia zurück. – MH 48 / G I U S E P P E Z O C C H I Ansicht von Florenz gegen den Ponte Santa Trinità, arnoaufwärts (Vorzeichnung für die Radierung Nr. 7 in »Scelta di XXIV vedute delle principali contrade, piazze, chiese, e palazzi della città di Firenze«. Florenz 1744.) Feder in Schwarz, laviert. 465 × 673 mm. The Morgan Library & Museum, New York, Inv. 1952.30:9

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