Leseprobe

100 Meisterzeichnungen der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau VON DÜRER BIS KANDINSKY

MIT BEITRÄGEN VON Gerd Bartoschek Karen Buttler Heiko Damm Annette Dorgerloh Dirk Herrmann Michael Keller Stephan Kemperdick Dagmar Korbacher Guido Messling Anna Pfäfflin Ruben Rebmann Wolfgang Savelsberg Tilman Schreiber Mischa Steidl Kai Wenzel Nadine Willing-Stritzke Juliane Zanke

VON DÜRER BIS KANDINSKY 100 Meisterzeichnungen der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau Sandstein Verlag Herausgegeben von Ruben Rebmann

INHALT 7 8 25 234 245 246 247 Robert Reck Grußwort Abbildungsverzeichnis Impressum KATALOG Ruben Rebmann Zeichnungen in der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau Literatur Autoren und Autorinnen

8 Ruben Rebmann »AUCH DIESE ABTEILUNG BEDARF DER ERWEITERUNG UND VERVOLLSTÄNDIGUNG . . .«1 ZEICHNUNGEN IN DER ANHALTISCHEN GEMÄLDEGALERIE DESSAU Der Name »Anhaltische Gemäldegalerie« kann zu Missverständnissen führen. Denn schnell wird übersehen, dass das Museum nicht nur eine wertvolle Gemäldekollektion, sondern auch eine Sammlung von Zeichnungen und Druckgrafiken besitzt, die den Gemälden in ihrer Bedeutung nicht nachsteht. Da solche grafischen Sammlungen hauptsächlich in befristeten Sonderausstellungen und auf einzelne Ausschnitte begrenzten Bestandskatalogen sichtbar werden, ist ihr individuelles Profil für die Öffentlichkeit oft schwer greifbar. Auch für die Graphische Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie existieren verdienstvolle Bearbeitungen einzelner Teilbestände in Ausstellungs- und Bestandskatalogen der letzten 40 Jahre.2 Mit dem vorliegenden Buch soll nun erstmals für die Dessauer Zeichnungen etwas versucht werden, was für eine Gemäldesammlung in der Regel die Dauerausstellung leistet: eine Auswahl von hochwertigen und bezeichnenden Stücken, welche stellvertretend für die Gesamtsammlung stehen – nicht zwangsläufig ein Best-of der wertvollsten Blätter, sondern ein Überblick über die Vielfalt der Gesamtbestände, ausgesucht nach qualitativen, chronologischen, technischen und thematischen Gesichtspunkten. Abb. 1 Das Palais Reina in der Dessauer Kavalierstraße war ab 1927 Sitz der Anhaltischen Gemäldegalerie. Im zweiten Obergeschoss, der ehemaligen Beletage, befand sich die Dauerausstellung der Gemäldegalerie. Im ersten Obergeschoss, dem niedrigeren Zwischengeschoss, wurde seit 1931 die Graphische Sammlung aufbewahrt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie evakuiert und entging so der Vernichtung. An der Stelle des kriegszerstörten Palais erhebt sich heute das Bauhaus-Museum. Zeichnung der Fassade des Palais Reina, 1927, Stadtarchiv Dessau-Roßlau

9 Eine solche Auswahl ist für ein Museum immer auch eine Form der Selbstvergewisserung und der Erkundung der eigenen Sammlungsidentität. Die Graphische Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie besaß in ihren Erwerbungen nie den breit aufgespannten Horizont großer Kabinette wie in Wien oder Berlin. Auch kannte sie nur kurze Phasen eines intensiven und zielgerichteten Bestandsaufbaus. Entstanden ist die Graphische Sammlung ähnlich wie die Gemäldesammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie 1927 mit der Zusammenführung mehrerer weit älterer Sammlungskomplexe aus ganz Anhalt im Dessauer Palais Reina (Abb. 1).3 Der wertvollste unter diesen ist eine ehemals in zwei Klebebänden aufbewahrte Kollektion deutscher und Schweizer Zeichnungen vom Spätmittelalter bis zum Barock, die erst 1877 nach Dessau gelangte. Aus ihr stammt das bis heute älteste Werk: eine böhmische Zeichnung des späten 14. Jahrhunderts, welche wahrscheinlich sogar auf das berühmte Kunstkabinett des Nürnberger Patriziers Willibald Imhoff (1519–1580) zurückgeführt werden kann (Kat.-Nr. 1). Unter den altdeutschen Blättern aus den Bänden befinden sich Spitzenwerke der heutigen Graphischen Sammlung von Künstlern wie Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer und Lucas Cranach d. Ä., die in der vorliegenden Auswahl nur in einzelnen Stücken Aufnahme finden konnten (Kat.-Nr. 4–11).4 Der erste Museumsführer von 1927 skizziert die Herkunft der einst in zwei Klebebänden zusammengestellten Kollektion so: »Der Gemäldegalerie ist eine graphische Sammlung angeschlossen, der als wertvollster Bestand die Handzeichnungen alter deutscher Meister angehören, die bisher die Landesbücherei aufbewahrt hat. Diese Sammlung, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der Schweiz, vermutlich in Zürich, zusammengebracht wurde, ist durch Erbgang von Schwarzburg-Sondershausen an die Bernburger Linie des anhaltischen Hauses gekommen. Nach deren Erlöschen wurde die Bernburgische Bibliothek nach Dessau in die damalige Behördenbibliothek überführt.«5 Abb. 2 Das 1746 erbaute Regierungsgebäude am Markt der Bernburger Talstadt beherbergte neben der anhalt-bernburgischen Landesregierung die Regierungsbibliothek, welche durch die 1748 erworbene Bibliothek der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen wesentlich bereichert wurde. Zu ihr gehörten zwei Klebebände mit 377 deutschen und Schweizer Zeichnungen des 14. bis 17. Jahrhunderts (darunter Werke von Albrecht Dürer, Urs Graf und Albrecht Altdorfer), welche zu einem der wertvollsten Bestandteile der Zeichnungssammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie wurden. Kupferstich des Gebäudes von Johann Christian Püschel, um 1750, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau

10 Auch der neueren Forschung ist es bisher nicht gelungen, die genaue Herkunft der beiden Klebebände zweifelsfrei zu bestimmen. Inzwischen konnte jedoch die Vermutung, die Blätter seien im 17. Jahrhundert in der Schweiz zusammengetragen worden, präzisiert werden. Unter den jüngeren Zeichnungen des Konvoluts befinden sich viele Werke der Schaffhauser Künstlerfamilie Meyer, sodass die Annahme plausibel erscheint, diese habe die Zeichnungen in ihrer Werkstatt zusammengestellt und nach dem Tod Conrad Meyers (1618–1689) verkauft.6 In der Sammlung der Grafen und Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen sind die Zeichnungsbände durch einen heute verschollenen Bibliothekskatalog erstmals 1715 in Arnstadt nachgewiesen.7 Damals residierte dort Anton Günther II. (1653–1716), welcher nicht nur als eifriger Sammler, sondern auch als Musikfreund bekannt war, unter dem der junge Johann Sebastian Bach 1703 in die schwarzburgische Residenzstadt verpflichtet wurde. Seine Bibliothek ging 1748 durch verwandtschaftliche Verbindungen – und nicht, ohne die Gerichte angemessen zu beschäftigen – an die Fürsten von Anhalt-Bernburg, welche sie im gerade fertiggestellten Regierungsgebäude am Markt der Saalestadt aufbewahrten (Abb. 2).8 Dort blieben die in den beiden Bänden zusammengestellten 377 Zeichnungen nicht unbeachtet. Der anhalt-bernburgische Hofprediger Friedrich Hoffmann (1796–1874) hegte 1826 den Plan, einige der Blätter in Lithografien vervielfältigen zu lassen, sie zu publizieren und anschließend Johann Wolfgang Goethe um eine Besprechung in der Zeitschrift Kunst und Alterthum zu bitten.9 Hoffmann amtierte als Geistlicher in der Residenz des bernburgischen Hofes in Ballenstedt, wohin 1833 auch Wilhelm von Kügelgen (vgl. Kat.-Nr. 76) als Hofmaler verpflichtet wurde. Ob der Autor der Lebenserinnerungen eines alten Mannes, der einen engen Umgang mit dem Hofprediger pflegte, von ihm auf die Zeichnungen in Bernburg hingewiesen wurde, ist bisher nicht bekannt. Gut bekannt waren die Bände mit den wertvollen altdeutschen Blättern damals jedoch in Berliner Museumskreisen. 1854 ließ sich Ignaz Maria von Olfers (1793–1872), Generaldirektor der Königlichen Museen, die Bände in die preuAbb. 3 1914 gab der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts Max J. Friedländer einen repräsentativen Band mit einer Auswahl von 81 reproduzierten Blättern aus der ehemaligen Bernburger Zeichnungssammlung heraus, welche seit 1877 in der Dessauer Behördenbibliothek aufbewahrt wurde. Der Stuttgarter Verleger dieses Prachtbands war ein Großneffe des Ballenstedter Hofpredigers Hoffmann, der die Zeichnungen bereits 90 Jahre vorher in Lithografien veröffentlichen und Goethe als Rezensenten hatte gewinnen wollen. Titelblatt des Buches, Wissenschaftliche Bibliothek der Anhaltischen Landesbücherei Dessau

11 ßische Hauptstadt schicken und sandte sie mit einem Kaufangebot für das Kupferstichkabinett zurück. Der Ballenstedter Hof hegte aber kein Interesse an einem Verkauf.10 Im Berliner Kabinett vergaß man die Zeichnungen jedoch nicht: 60 Jahre später gab dessen Direktor Max J. Friedländer (1867–1958) einen großzügig ausgestatteten Band mit einer Auswahl von 81 in Lichtdrucken reproduzierten Blättern aus der inzwischen in der Dessauer Behördenbibliothek aufbewahrten Sammlung heraus (Abb. 3). Der Verleger dieses Prachtbands war Felix Krais (1853–1937), ein Großneffe des Ballenstedter Hofpredigers Hoffmann, der so das Vorhaben seines Großonkels nach knapp 90 Jahren umsetzte.11 Nach ihrem Eingang in die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau wurden die beiden Klebebände aufgelöst und ihre Zeichnungen einzeln aufgelegt. Einige herausgehobene Stücke wurden sogar zunächst gerahmt in die Dauerausstellung der Gemälde integriert, wie der präzise und informationsreiche Museumsführer aus dem Gründungsjahr 1927 nachweist.12 Das Büchlein nennt in seinem kurzen Abriss der Sammlungsgeschichte ebenfalls die erste Ergänzung, welche diese Keimzelle der Graphischen Sammlung noch im selben Jahr erhielt: »Vor kurzem konnte eine Kollektion von etwa 50 Handzeichnungen von Ferdinand Olivier erworben werden.«13 Auch diese Zeichnungen des aus Dessau stammenden romantischen Künstlers gehören bis heute zu den Höhepunkten der Graphischen Sammlung (vgl. Kat.-Nr. 57, 61). Vorbesitzerin war diesmal die Dessauer Linie der Askanier. Vor 1918 hatte diese Dynastie das mittlerweile vereinigte Herzogtum Anhalt regiert und bewohnte 1927 noch immer das Dessauer Residenzschloss, über dessen Kunstschätze sie als Privateigentum verfügte.14 Zu diesen gehörte auch ein »Herzogliches Kupferstich-Kabinett« in der sogenannten Gipskammer (Abb. 4).15 Über dessen Entwicklung und damit auch die Geschichte des Sammelns von Zeichnungen und Druckgrafik durch das Dessauer Herrscherhaus existieren bisher keine Untersuchungen. Nur einige Streiflichter erlauben einen Eindruck von den diesbezüglichen Interessen und Aktivitäten der Fürsten und Herzöge von Anhalt-Dessau. So können über die Frage, seit wann die schon Ende des 16. Jahrhunderts als Sammlungsraum eingerichtete Gipskammer des Residenzschlosses Kunstwerke auf Papier enthielt, momentan nur Mutmaßungen angestellt werden.16 Der herzogliche Bibliothekar Heinrich Lindner (1800–1861) erwähnt 1833 in seiner Beschreibung Dessaus »in der südöstlichen Ecke des Schlosses die sog. Gipskammer, wo Kostbarkeiten [...], eine Münzsammlung, andere Kunstsammlungen und namentlich eine schöne Sammlung von Kupferstichen und Kupferwerken, vorzugsweise zur schönen Baukunst gehörig, aufbewahrt werden.«17 Dass aber im 19. Jahrhundert die Kunstwerke auf Abb. 4 Die Gipskammer des Dessauer Residenzschlosses befand sich im Erdgeschoss an der Ecke von Ost- und Südflügel. Seit ihrer Errichtung am Ende des 16. Jahrhunderts wurde sie als Sammlungsraum im Sinne eines Kunst- und Raritätenkabinetts genutzt. Aufbewahrt wurde hier vor 1945 auch die grafische Sammlung des Dessauer Herzogshauses. Bevor die Gipskammer im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört wurde, war das Herzogliche KupferstichKabinett durch die Verkäufe der 1920er- und 30er-Jahre bereits (auf kaufmännischem Wege) mehrheitlich liquidiert worden. Zumindest einen Teil hatte der Freistaat Anhalt für die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau erwerben können. Fotografie, um 1930, Stadtarchiv Dessau-Roßlau

12 Papier nicht in einem zentralen Kabinett zusammengetragen, sondern wie die Gemälde auf verschiedene Orte in den anhaltischen Schlössern verstreut waren, kann man der Beschreibung des Philologen August Fuchs (1818–1847) entnehmen, der 1843 im Dessauer Residenzschloss nicht nur wie Lindner »eine bedeutende Sammlung von Kupferstichen und baukünstlerischen Kupferwerken« in der Gipskammer vorfand,18 sondern eine weitere grafische Sammlung in den Räumen des Herzogs Leopold IV. Friedrich (1794–1871, Abb. 5) erwähnte: »Außerdem enthalten die obern Ekkzimmer [sic] des östlichen Flügels eine Sammlung von 475 Kupferstichen und Handzeichnungen von Raffael, Carlo Dolce, Andrea del Sarto, van Dyk.«19 Des Herzogs Großvater, Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740– 1817, Abb. 6), hatte bereits 60 Jahre zuvor begonnen, eine grafische Sammlung in Wörlitz zusammenzutragen. Im dortigen Gotischen Haus schuf er sich einen privaten Wohnsitz, in dessen Räumen er ebenfalls verschiedene Sammlungen wissenschaftlicher und künstlerischer Objekte aufbewahrte. Der Archäologe Carl August Böttiger (1760–1835) besichtigte im August 1797 in Begleitung des Hofmalers Johann Friedrich August Tischbein (vgl. Kat.-Nr. 47) diese Schätze und schrieb anschließend über den Rittersaal, den zentralen Raum des südlichen Trakts: »In der Mitte läuft ein großer Tisch länglicht hinab, auf und in welchem der Fürst seine kostbare Sammlung von antiquarischen Kupferwerken, seine Portefeuilles von Kupferstichen und HandAbb. 5 Leopold IV. Friedrich von AnhaltDessau trug wesentlich zum Ausbau der grafischen Sammlung im Dessauer Residenzschloss bei. Diese war zu seinen Lebzeiten nicht nur in der Gipskammer, sondern auch in den herzoglichen Wohnräumen im Ostflügel untergebracht. Der selbst als Maler und Zeichner aktive Herzog hatte so einen schnelleren Zugriff auf die Werke. Franz Krüger porträtierte den Monarchen im Revolutionsjahr 1849 als soignierten Herrn in Zivil mit Ausblick zu seiner jüngsten Schöpfung, dem italianisierenden Turm des Leopolddankstifts. Lithografie von Friedrich Jentzen nach einem Porträt des Herzogs von Franz Krüger, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau

13 Abb. 6 Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ist heute vor allem für die unter ihm geschaffenen Schlösser und Gärten in Dessau und Wörlitz bekannt. Teil seines umfassenden Reformprogramms war aber auch die Errichtung verschiedener Sammlungen, die mit typisch aufklärerischem Bildungswillen in verschiedenen Gebieten von Wissenschaft und Kunst zusammengetragen wurden. Ab 1795 unterstützte er die Etablierung eines Grafikverlags in Dessau, welcher Zeichner und Kupferstecher in die anhaltische Residenz zog. Unter ihnen war Ludwig Buchhorn, der den 60-Jährigen in einer Zeichnung als Landesvater festhielt, die ihm später als Vorlage dieser Lithografie diente. Lithografie von Ludwig Buchhorn, nach 1802, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau Abb. 7 Der Rittersaal im Gotischen Haus von Wörlitz ist der zentrale Raum im 1785 entstandenen südlichen Teil dieses Parkgebäudes. Leopold III. Friedrich Franz verband hier das eigene private Quartier mit Sammlungsräumen für eine wachsende Kollektion alter Gemälde, Waffen, bemalter Glasfenster und Kunstkammerstücke. Der zentrale Tisch des Rittersaals war gleichzeitig ein trotz seiner »gothischen« Erscheinung erstaunlich moderner Sammlungsschrank, in dem Blätter und Pläne der fürstlichen Grafiksammlung liegend gelagert wurden sowie bei Bedarf auf der verlängerbaren Tischplatte ausgebreitet werden konnten. Fotografie, nach 2015, Kulturstiftung Dessau-Wörlitz

14 zeichnungen aufbewahrt.« (Abb. 7).20 Diese Sammlung wurde 1818 fast vollständig in das Dessauer Residenzschloss verbracht.21 Was jedoch den Rittersaal als erstes nachweisbares »Kupferstich-Kabinett« der Dessauer Fürsten besonders interessant macht, ist der Erhalt der unveränderten räumlichen Situation mit seiner originalen Möbelausstattung. So existiert noch heute der von Böttiger beschriebene Tisch mit seinen breiten und niedrigen Fächern, welche bereits wie in modernen Sammlungsschränken die liegende Aufbewahrung der Arbeiten auf Papier ermöglichten.22 Zeichnungen und Kupferstiche zierten aber auch gerahmt und hinter Glas die Innenräume des Gotischen Hauses, wie das Beispiel eines der hier vorgestellten Blätter zeigt. Die damals noch Israhel van Meckenem zugeschriebe Zeichnung Anna Selbdritt (Kat.-Nr. 3) befand sich nach August von Rodes (1751–1837) Beschreibung des Gotischen Hauses 1817 im »Gang am Treppenthurm«.23 Der Züricher Geistliche Johann Caspar Lavater (1741–1801) hatte sie Leopold Friedrich Franz 1786 mit weiteren Blättern für sein »Gotisches Gebäude« geschenkt und so vermutlich den Anstoß zur Einrichtung einer grafischen Sammlung in dem Wörlitzer Refugium gegeben. Abb. 8 Der Pfarrer und Schriftsteller Johann Caspar Lavater schenkte Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau zwei Blätter mit Allegorien der Gerechtigkeit und der Klugheit von Johann Heinrich Lips, welche an die Tugenden eines aufgeklärten Herrschers gemahnen sollten. 1927 gab die Familie Anhalt sie auf eine Auktion, nach welcher sich die Wege der beiden Zeichnungen trennten. Die Gerechtigkeit ist noch in Dessau (Kat.-Nr. 48), die Klugheit inzwischen in Düsseldorf zu finden. Zeichnung in Wasserfarben von Johann Heinrich Lips, 1796, Goethe-Museum Düsseldorf

15 Wie Herzog Leopold IV. Friedrich seine Blätter, die mit prominenten Künstlernamen von Raffael bis Anthonis van Dyck versehen waren, in seinen Privaträumen in Dessau aufbewahrte, ist nicht überliefert. Leider sind keine genauen Innenraumbeschreibungen und Inventare des Residenzschlosses im Zustand des 19. Jahrhunderts überliefert. Schmerzlicher noch ist die mangelnde Kenntnis des Verbleibs dieser Stücke. Einen Eindruck von den umfangreichen Veräußerungen des Dessauer Herzogshauses nach 1918 gibt der Katalog einer Auktion vom März 1927 bei Henrici in Berlin, auf welcher wenige Monate vor Gründung der Anhaltischen Gemäldegalerie ein Großteil der grafischen Sammlung der Familie Anhalt unter den Hammer kam.24 Der beträchtliche Bestand an architektonischen Kupferstichwerken und an britischen Grafiken des 18. Jahrhunderts, der hier angeboten wurde, ist mit großer Sicherheit auf die Sammelinteressen Leopolds III. Friedrich Franz zurückzuführen.25 Künstlergrafiken und Zeichnungen von deutschen Meistern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden wohl von Leopold IV. Friedrich erworben, welcher selbst ein geübter Zeichner, Maler und Radierer war26 und dessen Nachfolger sich durch kein vergleichbares Interesse für die bildenden Künste auszeichneten. Die oben erwähnten OlivierZeichnungen, die kurz darauf vom Freistaat Anhalt für das junge Museum erworben werden sollten, waren nicht in der Auktion enthalten.27 Wahrscheinlich wurden die Ankaufsverhandlungen hierfür bereits vor dem März 1927 geführt. Einzelne Blätter aus der Berliner Auktion lassen sich heute in der Graphischen Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie nachweisen, wie zum Beispiel die Gouache der Gerechtigkeit von Johann Heinrich Lips (Kat.-Nr. 48). Das 1927 ebenfalls angebotene Pendant, Die Klugheit, kehrte dagegen nicht nach Dessau zurück und kam 1956 in das im selben Jahr eröffnete Goethe-Museum in Düsseldorf (Abb. 8).28 In den internationalen grafischen Sammlungen finden sich immer wieder Zeichnungen, die ihre Herkunft aus der Kollektion Leopold Friedrichs (und damit aus dem Herzoglichen Kupferstich-Kabinett) durch den auf ihnen angebrachten Sammlerstempel des Herzogs verraten: ein großes L in Fraktur, welches eine heraldische Herzogskrone trägt (Abb. 9).29 Er erscheint zum Beispiel auch auf den beiden Zeichnungen modisch gekleideter Dessauer Mädchen von Carl Wilhelm Kolbe, die sich seit 2007 in der National Gallery of Art in Washington befinden und wohl unter der Nummer 1085 des Berliner Auktionskatalogs, einer »Sammlung von etwa 67 Handzeichnungen« Kolbes, subsumiert waren.30 Auch lässt sich zeigen, dass 1927 nicht die gesamte grafische Sammlung der Dessauer Herzöge auf der Auktion bei Henrici in Berlin angeboten wurde. Ein bisher nicht genauer zu bestimmender Anteil wurde durch das Dessauer Kunsthaus Spielmeyer gehandelt. Bis 1945 als herzogliche Hoftapezierer – also als Raumausstatter und Dekorateure – agierend, saßen die Spielmeyers durch ihren Zugang zum Herzogshaus für den Handel mit Gemälden und Grafiken an einer guten Quelle.31 Bis in Abb. 9 Viele der aus den Herzoglichen Sammlungen stammenden Zeichnungen und Druckgrafiken tragen einen Sammlerstempel mit dem Buchstaben L in Fraktur und einer heraldischen Herzogskrone darüber. Mit höchster Wahrscheinlichkeit ist er Leopold IV. Friedrich von Anhalt-Dessau zuzuordnen und kennzeichnet einen großen Teil der einst in seinem Besitz befindlichen Blätter.

16 die jüngere Vergangenheit erwarb die Anhaltische Gemäldegalerie Zeichnungen aus der Kunsthandlung sowie aus der Sammlung Werner Spielmeyers. Für eine Gruppe von 33 altdeutschen Zeichnungen, die 1958 angekauft wurde, wird in der Museumsdokumentation eine Herkunft aus dem Dessauer Residenzschloss angegeben.32 Die in der vorliegenden Auswahl enthaltenen Zeichnungen von Wilhelm Krause (Kat.- Nr. 83) und Eduard Gaertner (Kat.-Nr. 70) markieren mit ihren Erwerbsdaten 1947 und 1989 zwei Eckpunkte der nachweisbaren direkten Ankäufe aus der Kunsthandlung und Sammlung Spielmeyer. Ihre Thematik und das belegte Auftraggeberverhältnis Herzog Leopold Friedrichs zu ihren Urhebern lassen die Herkunft der Blätter aus der Herzoglichen Sammlung plausibel erscheinen. Welche Rolle die Kunsthandlung Spielmeyer vor 1945 bei den direkten Erwerbungen der Anhaltischen Gemäldegalerie aus der Herzoglichen Sammlung spielte, ist bisher nicht erforscht. Unter ihnen stellte der Ankauf des sogenannten Erdmannsdorff-Nachlasses im Sommer 1933 mit Sicherheit die meistbeachtete Ergänzung der noch jungen Graphischen Sammlung dar. Nachdem das Land Anhalt die ungefähr 600 Zeichnungen erworben hatte, wurden sie im Herbst 1933 in einer gut besuchten Sonderausstellung dem Publikum präsentiert.33 Das große öffentliche Interesse erklärt sich durch die besondere Rolle, welche der aus Dresden stammende Hofkavalier und Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736–1800, Abb. 10) in der Dessauer Kultur- und Kunstgeschichte gespielt hatte. Seit der Jugend mit Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau eng befreundet, war er als Architekt zahlreicher klassizistischer Bauten in der Residenzstadt und dem umgebenden »Gartenreich« für den nachhaltigsten Bestandteil des fürstlichen Reformwerks verantwortlich. Dessen pädagogischer Impetus zeigt sich auch in Erdmannsdorffs Plänen, in Dessau eine Zeichenschule zur Ausbildung des Handwerkernachwuchses zu errichten,34 was aber erst 1888 mit der Gründung der Handwerker- und Kunstgewerbeschule gelang (vgl. Kat.-Nr. 99). Der seit 1933 verwendete Begriff »Erdmannsdorff-Nachlass« vermittelt den Eindruck eines klaren Wissens um Herkunft, Umfang und Urheberschaft der Werkgruppe, der sich bei genauerer Betrachtung der bekannten Fakten jedoch schnell verflüchtigt. Zwar konnte zuletzt gezeigt werden, dass im Todesjahr Erdmannsdorffs 1800 tatsächlich vor der Auktionierung der hinterlassenen Besitztümer eine Sammlung von »Kunstsachen« aus der Versteigerungsmasse herausgelöst und höchstwahrscheinlich direkt für die Sammlung des Fürsten erworben wurde.35 Der Bestand an Zeichnungen und Druckgrafiken wird in einem erhaltenen Nachlassinventar jedoch nur recht pauschal aufgeführt. In drei von 52 Unterpunkten erscheinen hier: eine unbestimmte Zahl von Blättern in »verschiedenen Portefeuillen und andern Behältnissen«, welche eine »sehr ansehnliche Sammlung der vorzüglichsten architectonischen und andern Zeichnungen, auch Kupferstichen« ausmachen, »eine Mappe mit alten Handzeichnungen, von verschiedenen Meistern« und »eine Parthie Kupferstiche und Zeichnungen, von verschiedenen Meistern«.36 Da keine Inventare der fürstlichen Sammlungen bzw. des späteren Herzoglichen Kupferstich-Kabinetts überliefert sind, gibt erst Riesenfeld in seiner Biografie des Architekten von 1913, welche ein »Verzeichnis der Originalzeichnungen Erdmannsdorffs« enthält, wieder einen Hinweis auf den möglichen Verbleib der Werkgruppe.37 Er führt (teils nur pauschal klassifiziert, aber mit Inventarnummern versehen) 572 Zeichnungen im Kabinett des Herzogs auf, welche sich in großen Teilen in der heutigen Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie nachweisen lassen, sodass bereits die Vermutung geäußert wurde, es handele sich bei den von Riesenfeld aufgelisteten um die »ungefähr 600 Blätter«, welche 1933 erworben wurden.38 Bestimmend für die Rekonstruktion des »Erdmannsdorff-Nachlasses« war lange die Annahme, dass es sich bei den Ornament- und Architekturzeichnungen sowie Figuren- und Landschaftsstudien um eigenhändige Werke des Architekten und seiner Mitarbeiter handele. Erst durch die wissenschaftliche Bearbeitung in den letzten vier Jahrzehnten konnte ein großer Teil – auch der von Riesenfeld als »Originalzeichnungen Erdmannsdorffs« klassifizierten Blätter – anderen Künstlern zuge-

17 Abb. 10 Der aus Dresden stammende Hofkavalier und Architekt Friedrich Wilhelm Freiherr von Erdmannsdorff prägte mit seinen Bauten das Gesicht des heute als UNESCO-­ Welterbe deklarierten Dessau-Wörlitzer Gartenreichs. Seine durch Ankäufe in Rom erweiterte Zeichnungssammlung befindet sich heute in wesentlichen Teilen in der Graphischen Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau. Ursprünglich sollten ihm die Blätter zur Geschmacksbildung und als Muster bei der Einrichtung einer Zeichenschule dienen, welche die Hebung der Standards des lokalen Gewerbes in der anhaltischen Residenz zum Ziel hatte. Stich in Punktiermanier von Johann Adolf Rossmäßler nach einem Porträt Erdmannsdorffs von Johann Friedrich August Tischbein, 1801, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau schrieben werden. Einen in ihrer Neubestimmung echten Bedeutungsgewinn für die Sammlung stellen die Anfang der 1990er-Jahre dem italienischen Renaissance-Maler Federico Barocci zugeschriebenen gut 30 Blätter dar (Kat.-Nr. 16, 17). Auch unter den Architekturzeichnungen können wichtige Stücke inzwischen verschiedenen in Rom tätigen Künstlern wie Nicolas-François-Daniel Lhuillier und Giuseppe Manocchi zugeordnet werden (Kat. 37, 38). Diese Neuzuschreibungen unterlaufen zwar das ältere Verständnis des »Erdmannsdorff-Nachlasses« als Werknachlass, sie harmonieren aber mit der Erwähnung der Zeichnungen »von verschiedenen Meistern« im Nachlassverzeichnis von 1800. Dabei wird die genau differenzierende Rekonstruktion des »Erdmannsdorff-Nachlasses« noch zu einigen Neuentdeckungen führen. Stets ist dabei die Deckungsgleichheit des 1933 angekauften Zeichnungskonvoluts mit der 1800 hinterlassenen Zeichnungssammlung gebührend zu hinterfragen, wie

KATALOG

26 Böhmischer Zeichner STEHENDER APOSTEL (EVANGELIST JOHANNES?) 1 um 1370 Feder und Pinsel in Graubraun, partiell laviert 15,1 × 7,7 cm (Darstellung), 15,4 × 8,4 cm (Kaschierpapier) bez. oben: »Juncker von Brag gemacht« Inv.-Nr. B I 1 Prov.: Willibald Imhoff (1519–1580)?; 1715 Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen; 1748 an die Fürsten von AnhaltBernburg; 1877 Behörden-­ Bibliothek Dessau; 1927 von dort überwiesen Lit.: Friedländer 1914, Nr. 1; Ausst.-Kat. New York 2005, S. 165–166, unter Kat.-Nr. 35 (Jiří Fajt, Robert Suckale); Kat. Dessau 2011, S. 43–45, Kat.-Nr. 9 (Guido Messling) 1 Vgl. Fajt 1997. 2 Jenni/Theisen 2004, S. 65–87. Diese Zeichnung ist die älteste im Dessauer Bestand und gleichzeitig ein herausragendes Zeugnis für die Hofkunst der Luxemburger Kaiser und Könige im 14. Jahrhundert. Eine Aufschrift am oberen Rand, die vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammt, verweist auf die »Juncker von Brag«, eine Bezeichnung, mit der seit dem Spätmittelalter insbesondere Mitglieder der berühmten Künstlerfamilie Parler bezeichnet wurden, die als Steinmetze, Architekten und Bildhauer in Prag, Böhmen und Süddeutschland tätig waren. Tatsächlich ist der Autor der Zeichnung jedoch eher im Umfeld eines Künstlers zu suchen, der unter dem Namen »Meister Theoderich« bekannt ist.1 Er war Maler am Prager Hof Kaiser Karls IV., in dessen Auftrag er einen umfangreichen Gemäldezyklus für die Heilig-Kreuz-Kapelle auf der Burg Karlstein (Karlštejn), dem Aufbewahrungsort der Reichskleinodien, schuf. Beachtenswert ist die feine Hell-Dunkel-Modellierung, die der Figur ein hohes Maß an Plastizität verleiht – eine Technik, die auch in der zeitgleichen böhmischen Tafelmalerei zu beobachten ist. Welche Funktion die Zeichnung ursprünglich besaß, ist unsicher. Möglicherweise handelt es sich um die Nachzeichnung einer verlorenen Wandmalerei auf der Burg Karlstein. Dass der Zeichner dabei nicht mehr alle Details verstand, deutet die leere linke Hand des Apostels an, die ein Attribut halten müsste. Vielleicht handelt es sich aber auch um eine in der Malerei vielseitig verwendbare Figurenvorlage, die in der böhmischen Hofkunst der 1360er- und 1370er-Jahre kursierte. Die Zeichnung weist bemerkenswerte Analogien zu zeitgleichen Werken der böhmischen Buchmalerei auf, insbesondere zu den Illuminationen im 1368 vollendeten Evangeliar Herzog Albrechts III. von Österreich (Wien, Österreichische Nationalbibliothek).2 Weitere zugehörige Zeichnungen, die ebenfalls mit der Bezeichnung »Juncker von Brag« betitelt sind, befinden sich in der Universitätsbibliothek Erlangen. Die gemeinsame Provenienz des Dessauer Exemplars und der Erlanger Blätter lässt sich wahrscheinlich bis auf die berühmte Sammlung des Nürnberger Patriziers Willibald Imhoff in die 1570er-Jahre zurückverfolgen. KW

28 1 Bibliothèque municipale, Ms. 3024, fol. 102; Ausst.-Kat. Rotterdam 2012, S. 199, Abb. 1. Niederländischer Künstler (Brügge?) DER HEILIGE CHRISTOPHORUS 2 um 1410/1420 Feder in Grauschwarz, Pinsel in Graublau, ausgeschnitten und auf cremefarbenem Papier montiert 19,9 × 14,7 cm Inv.-Nr. B I 2 Prov.: 1715 Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen; 1748 an die Fürsten von Anhalt-Bernburg; 1877 Behörden-Bibliothek Dessau; 1927 von dort überwiesen Lit.: Wescher 1937, S. 16; Kat. Dessau 2011, S. 276–278, Kat.-Nr. 124 (Guido Messling); Ausst.-Kat. Rotterdam 2012, S. 202–203, Kat.-Nr. 40 (Guido Messling) Christophorus wollte dem mächtigsten Herrn der Welt dienen. Eines Tages trug er einen kleinen Jungen über einen Fluss, doch wurde der Knabe unterwegs so schwer, dass der Riese nur mit Mühe das andere Ufer erreichte. Dort erkannte er, dass er Christus und mit ihm die ganze Welt auf seinen Schultern getragen hatte. Entsprechend der Bildtradition kämpft er sich durch die Wellen, wobei seine gebogene Gestalt, der wehende Mantel des Kindes und das bewegte Wasser der Szene Dynamik verleihen. Auf einem bizarren Felsen am linken Ufer steht ein bärtiger Einsiedler vor seiner Klause und hält nach Christophorus Ausschau. Motivisch steht die Darstellung einer Gruppe von Miniaturen sehr nahe, die im frühen 15. Jahrhundert in Brügge entstanden sind.1 Ohne Zweifel stammt die Komposition von einem der verantwortlichen Maler. Indes handelt es bei dem Blatt nicht um einen Entwurf, sondern um eine Nachzeichnung, die jedoch in nächster Nähe zum verlorenen Original entstanden sein wird. Ihr Strichrepertoire mir feinen, dichten Schraffuren ist typisch für niederländische Federzeichnungen der Zeit. SK

74 1 München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 1992:35 Z; Volk-Knüttel 2010, Kat.-Nr. Z 17, S. 214–216. 2 Madrid, Museo del Prado, Inv.-Nr. D 636; Volk-Knüttel 2010, Kat.-Nr. Z 5, S. 199–201. 3 Paris, Musée du Louvre, Inv.- Nr. 19853; Volk-Knüttel 2010, Kat.-Nr. Z 3, S. 198–199.­ 4 Damm/Hoesch 2022, Kat.-Nr. 17, S. 84–89 (Heiko Damm). Pieter de Witte, genannt Peter Candid KNIENDE HEILIGE KATHARINA VON ALEXANDRIEN 25 um 1590 Feder in Schwarz mit Höhung in Bleiweiß (partiell oxidiert), über schwarzem Stift 27 × 19,7 cm Inv.-Nr. B VII 17 Prov.: 1715 Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen; 1748 an die Fürsten von Anhalt-­ Bernburg; 1877 Behörden-­ Bibliothek Dessau; 1927 von dort überwiesen Lit.: Thöne 1937, S. 224–225; Michels 2007, S. 24–25 (Brigitte Volk-Knüttel); Volk-Knüttel 2010, S. 217, Kat.-Nr. Z 18 (mit älterer Lit.) Pieter de Witte, genannt Peter Candid (Brügge um 1548–1628 München) Pieter de Witte wächst als Sohn eines flämischen Teppichwirkers gleichen Namens ab 1558 in Florenz auf, wo er bis 1586 Porträts, Altarbilder und Fresken ausführt. Nach München berufen, nennt er sich Peter Candid und wird mit vielfältigen Aufgaben betraut, aufgrund der angespannten finanziellen Situation des Hofes zwar schon 1589 beurlaubt, 1602 jedoch von Herzog Maximilian I. erneut fest angestellt. Nach der Verkündigung (1587) und dem Martyrium der hl. Ursula (1588) für die Jesuitenkirche St. Michael in München entstehen weitere große Altarbilder etwa für St. Ulrich und Afra in Augsburg, die Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Landsberg am Lech oder den Freisinger Dom. Bedeutend sind auch die unter Candids Leitung geschaffenen Raumausstattungen der Münchner Residenz, von denen ein großer Teil im Zweiten Weltkrieg zugrunde ging. Eine kniende junge Frau mit aufwendiger Flechtfrisur blickt, die Arme vor der Brust gekreuzt, anbetend aufwärts. Dass es sich hier um die heilige Katharina von Alexandrien handelt, verrät das Bruchstück eines geborstenen Rades, Attribut der zyprischen Königstochter und Hinweis auf ihr Martyrium. Candid hat die Figur über dem Gerüst einer mit schwarzem Stift ausgeführten Vorzeichnung mit der Feder modelliert, dabei die Schraffuren zu tiefen Schatten verdichtet und durch die Weißhöhung den Lichteinfall von oben links angezeigt. Im geradezu tektonischen Draperiestil und der Rhythmisierung der Konturen verrät sich die Florentiner Schulung des Zeichners, der sich zeitlebens stark an der Kunst Andrea del Sartos orientierte. Die Dessauer Studie dürfte nur wenige Jahre nach seiner Berufung an den Münchner Hof entstanden sein, die der mediceische Hofbildhauer Giambologna vermittelt hatte. Ein in München aufbewahrter modello für ein nicht mehr nachweisbares Altarbild zeigt die heilige Katharina in analoger Pose gegenüber dem heiligen Benedikt, beide in Anbetung der auf Wolken in einer Engelsglorie thronenden Gottesmutter.1 Vermutlich diente die hier vorliegende, genauer ausgearbeitete Einzelfigur der Vorbereitung desselben Projekts. Die präzise Schraffurtechnik teilt das Blatt mit den noch in Italien entstandenen Bildentwürfen für eine Beweinung Christi unter dem Kreuz2 bzw. – entsprechend der 1585/86 ausgeführten großen Altartafel in Volterra – vor der Grabeshöhle.3 In denselben Zusammenhang gehört die jüngst bekannt gewordene Draperiestudie für eine Pietà in Privatbesitz.4 Im Unterschied zu diesen Beispielen, bei denen sich verschiedene Entwurfsphasen überlagern und kopräsent bleiben, erscheint die Figur der Katharina gänzlich durch die mit großer Disziplin geführte Feder ausformuliert. Möglicherweise entstand das Blatt als Demonstrationsstück zeichnerischer Bravour. HD

76 1 Ausst.-Kat. Frankfurt/ Basel 1993, S. 12. 2 Ebd., S. 141–144. 3 Merian 1627, S. 1. 4 Ebd., S. 3. 5 Ebd., S. 63. Matthäus Merian der Ältere DER FISCHFANG DES TOBIAS 26 1627 Feder in Braun, braun laviert, Vorzeichnung mit schwarzem Stift; für die Übertragung auf eine Kupferplatte blindgeritzte Linien 11,9 × 15,4 cm Inv.-Nr. B X 17 Prov.: 1715 Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen; 1748 an die Fürsten von AnhaltBernburg; 1877 Behörden- Bibliothek Dessau; 1927 von dort überwiesen Lit.: Wüthrich 1963, Nr. 66; Ausst.-Kat. Frankfurt/ Basel 1993, Nr. 96, S. 144 (als Werkstatt); Wüthrich 2013, Nr. 85, S. 192 Matthäus Merian d. Ä. (Basel 1593–1650 Langenschwalbach/Bad Schwalbach) Nach einer Ausbildung als Glasmaler lernt Merian bei Christoph Murer und dem Kupferstecher Dietrich Meyer das Radieren. Ab 1616 beim Verleger Johann Theodor de Bry als Kupferstecher angestellt, wird er ab 1624 als Nachfolger des verstorbenen de Bry in Frankfurt auch als Verleger tätig. Heute insbesondere für die umfangreich illustrierten mehrbändigen Werke Theatrum Europaeum (ab 1633) und Topogaphia Germaniae (ab 1642) bekannt. Die Zeichnung – eine von drei Zeichnungen Merians mit Szenen aus dem alttestamentarisch-apokryphen Buch Tobit im Bestand der Graphischen Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie – war Vorlage einer Radierung, die im dritten Teil einer zwischen 1625 und 1627 in vier Heften von Merian veröffentlichten Bilderbibel verwendet wurde. Insgesamt 233 Bibelbilder entwarf Merian, die bei den im Querquarto publizierten Heften durch Verse von Johann Ludwig Gottfried in Latein, Deutsch und Französisch ergänzt wurden.1 Im linken Vordergrund sind der Engel und Tobias, der recht lässig einen stattlichen Fisch über die Schulter geworfen hat, in Begleitung eines kleinen Hundes auf ihrem gemeinsamen Weg entlang des Tigris dargestellt. Der zeitlich vorhergehende Fischfang ist am rechten Bildrand zu sehen, wo der am Uferrand kauernde Tobias den Fisch beherzt am Kopf packt. Im Unterschied zu den beiden anderen Vorzeichnungen zum Buch Tobit, die unverkennbar Motive aus Stichen nach Vorlagen von Maarten van Heemskerck aus der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgreifen, lässt sich dessen Vorbildhaftigkeit für das vorliegende Blatt nur im Ansatz in der Pose der Figur des Tobias beim Fischfang feststellen.2 Es weicht auch in der Auslassung eines wichtigen Details von Darstellungen des Themas im 16. Jahrhundert ab. Für den Fortgang der biblischen Geschichte spielen die Innereien des Fisches eine zentrale Rolle. So dient zum Beispiel die Galle des Fisches der Heilung des gottesfürchtigen Tobit, Vater des Tobias, der durch Spatzenkot erblindet war. Dementsprechend wurde in der Druckgrafik der Zeit meist auch das Ausnehmen des Fisches bei der Behandlung des Themas dargestellt. Womöglich war Merians Intention aber in erster Linie, das Motto des begleitenden Verses von Johann Ludwig Gottfried Der Engel Gesellschafft der Frommen Trost zu illustrieren. Die intendierte Zielgruppe seiner Bilderbibel hat Merian in deren umfangreichem Titel mit angegeben, sie sei »[...] zu Nutz und Belustigung Gottsförchtiger und Kunstverstendigen Personen artig vorgebildet«.3 Auch in seinem Vorwort räumt Merian ein, dass wohl wichtigster Anschaffungsgrund seines Werkes »[...] sich in den Figuren nach belieben zu belustigen« sei, er aber auch durchaus versuche, dass der Leser »[...] zur wahren Gottseligkeit angewiesen werde.«4 MS »Der Engel Gesellschafft der Frommen Trost Tobias heist sein Sohn ins Land der Meder ziehen / Zu fordern ein das Gelt so er hatt ausgelihen / Der Engel ihn begleit/ Ein Fisch er fangen thut/ Am grossen Strom Tigris/ zu vielen Dingen gut.« Begleittext zur Umsetzung in den Iconum Biblicarum, 16275 Matthaeus Merian: Iconum Biblicarum, Pars III, 1627, S. 62

128 1 Salge 2006, S. 69. 2 Fontane 1863, S. 167. 3 URL: https://brandenburg. museum-digital.de/index.php?t= objekt&oges=3808 (letzter Zugriff am 7. 9. 2022). Friedrich Gilly GARTENANSICHT DES SCHLOSSES STEINHÖFEL 51 vor 1797 Aquarell, Feder 27 × 42,6 cm (Darstellung); 35 × 48,6 cm (Kaschierung und Rahmung) Inv.-Nr. Z II 1674 Prov.: Familie von Massow, Steinhöfel Lit.: Fontane 1863, S. 166–167 Friedrich Gilly (Altdamm bei Stettin 1772– 1800 Karlsbad) Erster Unterricht bei seinem Vater, dem Baurat David Gilly. Ab 1789 angestellt am Berliner Oberhofbauamt, wo er unter Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und Carl Gotthard Langhans arbeitet. Zeichenunterricht erhält er u. a. von Daniel Chodowiecki. 1797/98 (über Dessau und Wörlitz) Reise nach Frankreich, England und Österreich. 1797 Bauinspektor und nach 1798 auch Professor der Berliner Bauakademie. Sein bekanntestes Werk ist der Entwurf eines dorischen Tempels auf hohem Sockel als Denkmal für Friedrich den Großen von 1796. Die Ansicht zeigt das in einen Landschaftsgarten eingebettete Schloss Steinhöfel, das unter Einbeziehung eines Vorgängerbaus für Valentin von Massow, Intendant der königlichen Schlösser und Gärten, durch David Gilly unter Mitarbeit seines Sohnes Friedrich um 1790/1795 errichtet wurde. Von Massow war ab 1792 Obermarschall des Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III.); ihm oblag im Rahmen dieses Amtes unter anderem die Neueinrichtung des Berliner Kronprinzenpalais. Als Ehrenmitglied der Abteilung Baukunst der Berliner Akademie der Künste war von Massow stark an allen architektonischen Entwicklungen interessiert. Insofern konnten die Gillys Steinhöfel zu einem Mustergut umgestalten, das zu einem weithin ausstrahlenden »Initialbau der neuen künstlerischen, gärtnerischen und ökonomischen Ideen«1 wurde. Gillys Blatt ist eines von sieben Aquarellen, die Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg im Schloss Steinhöfel vorgefunden und beschrieben hatte; zwei nach 1805 entstandene Ansichten stammen von Schinkel (vgl. Kat.-Nr. 52), fünf frühere von Friedrich Gilly. Alle Blätter Gillys tragen den Titel Vue de Steinhoeffel, sie zeigen das Schloss und die Parkarchitekturen als Teil der gestalteten Landschaft. Unser Blatt zeigt nach Fontane »das Schloß, wie es sich vor 50 oder 60 Jahren präsentirte, wenn man von der Dorfgasse her in den Park einbog«.2 Der Eingangsbereich mit den rahmenden, laternengeschmückten Sphingen nach dem Entwurf von Johann Gottfried Schadow (um 1792) bildet die Vordergrundbühne, von der aus sich geschlängelte Wege in den Gartenraum hinein entwickeln. Den Knotenpunkt dieser Wege markieren zwei spielende Knaben mit einem großen Hund. Es spricht einiges dafür, in ihnen Valentin (geb. 1793) und Ludwig (geb. 1794), die beiden ältesten Söhne von Massows, zu erkennen. Dem Schloss mit seinen rückwärtigen Bauten ist der Bibliotheksbau im Park in Form eines Prostylos-Tempels gewissermaßen an die Seite gestellt; derartige Tempelchen finden sich in den englischen Gärten dieser Zeit sehr häufig. Im Hintergrund bildet eine kleine Brücke den Point de Vue. Das Kronprinzenpaar zeigte sich bei einem Besuch Steinhöfels 1794 so begeistert von der Anlage, dass es beschloss, seinen künftigen Sommersitz in Paretz ähnlich zu gestalten, wiederum unter der Leitung von Vater und Sohn Gilly. Ein Kupferstich von Johann David Frick nach dieser Ansicht Gillys wurde in die 1797 in Berlin bei Unger publizierte Sammlung einiger nützlicher Aufsätze die Baukunst betreffend aufgenommen. Wenig später erschien eine Aquatinta-Radierung von Johann Gottlob Schumann nach Gilly in dem Tafelband Landsitz des Königlichen Hofmarschalls v. Massow i. d. Churmark in Dresden.3 Die Blätter wurden koloriert und zweifarbig vertrieben – sie vermittelten somit das neue Architektur- und Landschaftsideal einem interessierten Publikum. Gleichwohl wurde der Bau in den 1880er-­ Jahren erneut umgestaltet, nun stärker spätklassizistisch orientiert. AD

130 Karl Friedrich Schinkel DER WEINGARTEN VON STEINHÖFEL 52 um 1805 Feder, Wasserfarben, gefirnisst 28 × 43,5 cm (Darstellung) bez. unten: »La Vigne de Steinhöffel«; unten rechts: »Schinckel fecit« Inv.-Nr. Z II 1677 Prov.: Familie von Massow, Steinhöfel Lit.: Fontane 1863, S. 166–167; Börsch-Supan 2007, S. 183–184, Kat.-Nr. 38 Karl Friedrich Schinkel (Neuruppin 1781–1841 Berlin) Schinkel lernt ab 1798 bei den Architekten David und Friedrich Gilly, 1803–1805 folgt eine Italienreise. Bis zum Ende der Napoleonischen Kriege hauptsächlich als Maler tätig, wird er 1810 in der preußischen Bauverwaltung angestellt, wo er schon 1815 zum Geheimen Oberbaurat aufsteigt. In der Folge wird er zum dominierenden Architekten Preußens, welcher durch seine Bauten das Stadtbild nicht nur Berlins prägt. Schloss und Park Steinhöfel waren seit 1790 im Auftrag von Valentin von Massow durch die Baumeister (Vater und Sohn) David und Friedrich Gilly umgestaltet worden. Als einer der frühesten englischen Landschaftsgärten in der Mark Brandenburg sind hier Ideen des in England entwickelten Konzepts der »ornamental farm« rezipiert. Das Schöne ließ sich so mit dem Nützlichen verbinden. Genau diesen Aspekt schildert Karl Friedrich Schinkel hier in zwei Ansichten. Denn es mag ja zunächst etwas verwundern, warum ein Architekt sich angesichts eines doch herausragenden Bauwerks des Frühklassizismus – wie das Schloss Steinhöfel – eher für eine Genre- denn für eine schlichte Architekturdarstellung entscheidet. Ins warme Licht eines Spätsommernachmittags getaucht, erzählt uns Schinkel vom Leben auf Gut Steinhöfel: von Musik und Tanz, von der Weinlese, vom Tragen der schweren Erntekörbe, von der Rast nach getaner Arbeit. Was so genrehaft anmutet, ist also tatsächlich das bildgewordene Programm einer »ornamental farm«. Es ist das friedliche Idyll einer Gemeinschaft, die rege und emsig die Kulisse des (heute nicht mehr erhaltenen) Winzerhauses auf dem Mustergut Steinhöfel bevölkert. Die beiden Blätter gehören vermutlich ins Frühwerk Schinkels; bereits der Dichter Theodor Fontane hatte sie 1862 in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf etwa 1805 (gleich nach Schinkels Rückkehr aus Italien) eingeordnet. Denkbar ist aber auch eine noch frühere Datierung: Immerhin lagen bereits seit 1797/1799 fünf Steinhöfel-Ansichten von Friedrich Gilly (vgl. Kat. 51) als Aquatinta-Radierungen vor. Schinkel spinnt die Serie seines verehrten Lehrers weiter, und es liegt nahe, dass auch seine beiden Zeichnungen Vorlagen für den Druck waren. AP Karl Friedrich Schinkel: Das Winzerhaus und Weinlese in Steinhöfel, um 1805, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, Inv.-Nr. Z II 1676

162 1 Ausst.-Kat. Dresden/Berlin 2009. um 1830 Wasserfarben 22,3 × 15,6 cm Inv.-Nr. Z II 95 Prov.: aus dem Nachlass des Künstlers Carl Gustav Carus (Leipzig 1789–1869 Dresden) Während des Medizinstudiums an der Leipziger Universität nimmt Carus Unterricht im Zeichnen. Seit 1814 Leiter der Entbindungsklinik in Dresden und später auch Leibarzt der königlichen Familie. Seit 1816 regelmäßig mit eigenen Werken auf den Ausstellungen der Dresdner Akademie vertreten, hauptsächlich Landschaftsgemälde. Carl Gustav Carus STUDIE EINES WALDSTÜCKS 67 Der Arzt, Maler und Philosoph Carl Gustav Carus, der bereits während seines Medizinstudiums in Leipzig Zeichenunterricht an der dortigen Kunstakademie nahm, war eine prägende Persönlichkeit der Romantik in Deutschland.1 Studien nach der Natur sind zentral für sein Werk und entsprechend zahlreich überliefert. In diese Gruppe gehört auch die Pinselzeichnung eines Waldstücks. Über einer Grundierung skizzierte Carus markant die verschiedenen Baumarten in ihrer jeweiligen Farbigkeit und Silhouette, nicht ohne dabei auch die Luftperspektive zu beachten. Die Skizze spiegelt gleichzeitig die Idee der »Erdleben-Bildkunst« wider, die Carus in den Neun Briefen über die Landschaftsmalerei (1831) formulierte und dabei zum Schluss kam, dass aus dem Malen und Zeichnen von Landschaften ein Verständnis für den Entwicklungscharakter der Natur entstehen kann. Vergleichbare Baumstudien von Carus finden sich in der Gemäldegalerie Neue Meister (Staatliche Kunstsammlungen Dresden) sowie in Privatbesitz. KW

164 1 Richter 1886, S. 159. Christian Friedrich Gille IM WIESENGRUND BEI BRIESNITZ, 25. JULI 1832 68 1832 Öl auf Papier, auf Pappe kaschiert 29,3 × 25,2 cm bez. unten links: »Brisnitz am 25 Juli 32« Inv.-Nr. Z 1028 Lit.: Ausst.-Kat. Dresden/ Bremen 1994, S. 85, Kat.-Nr. 9; Spitzer 2018, S. 221, Taf. 80 Christian Friedrich Gille (Ballenstedt 1805–1899 Dresden) Gille wird 1825 als Schüler der Dresdner Akademie eingeschrieben, empfing aber wohl schon davor eine erste künstlerische Ausbildung durch seinen Vater, einen Gardisten, der auch als Porträt- und Porzellanmaler erwähnt wird. 1827–1830 Atelierschüler bei Johan Christian Clausen Dahl. Ab Anfang der 1830er-Jahre Tätigkeit als Lithograf. Seit 1866 erhält Gille verschiedene Zuwendungen für mittellose Künstler. Die in Öl auf Papier ausgeführte Studie eines stark begrenzten Landschaftsausschnitts, eines »Rasenstücks«, beeindruckt in ihrer spontanen, aber dennoch exakten Niederschrift des unmittelbaren Naturerlebnisses. Der Grünton der größeren Blätter variiert nach ihrer Neigung und Ausrichtung im Sonnenlicht. Die mit feinerem Pinsel gezogenen hellen Linien bezeichnen zunächst keine Grashalme, sondern fixieren lediglich das auf ihnen reflektierte Licht. Der Fokus ist auf die Pflanzen des Vordergrunds gelegt, die Felsformationen des Hintergrunds sind nur locker angedeutet. Mit dem Pinselstiel in die feuchte Farbe geritzt, sind mit »Brisnitz am 25 Juli 32« Entstehungsort und -tag genau angegeben, was darauf hinweist, dass die Ölskizze en plein air, vor dem Motiv in freier Natur entstanden ist. Solche Naturstudien wurden nicht als vollendete Werke betrachtet und waren nicht für die öffentliche Präsentation gedacht. Es gehört zum individuellen Schicksal Gilles, dass seine sehr wenigen vollendeten Gemälde, die er auf Ausstellungen gab und zu verkaufen versuchte, wenig Beachtung fanden, während sein umfangreiches Œuvre an temperamentvoll zufassenden Naturstudien erst nach seinem Tod entdeckt und in seiner künstlerischen Qualität gewürdigt wurde. Bezeichnend ist für diese Ölskizzen und -studien, wie Gille anhand von ausgesprochen anspruchslosen Naturausschnitten (meist aus der ländlichen Umgebung Dresdens) eine Fülle von Beobachtungen zu den Wirkungen von Licht und Atmosphäre anstellte und diese vor Ort in zügiger Pinselführung festhielt. Gille führte damit die Methode der unmittelbaren malerischen Naturerfassung, wie er sie bei Johan Christian Clausen Dahl kennengelernt hatte, zu einer für Dresden ungewöhnlich radikalen Ausformung. Zu einer Zeit, in welcher der ebenfalls in Dresden aktive, aber erfolgreichere Ludwig Richter (vgl. Kat.-Nr. 86) sich über die während seines Italien-Aufenthalts beobachteten französischen Maler amüsierte, »welche mit großen Borstpinseln halb fingersdick« die Ölfarbe direkt in der freien Natur – eben en plein air – vermalten,1 begab sich der in der sächsischen Residenz ganz unbeachtete Gille auf einen ähnlichen Weg der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung. RR

188 1 Ausst.-Kat. Dresden/Bremen 1994, S. 134, Kat.-Nr. 132; Spitzer 2018, S. 36. 2 Eine Gruppe von neun Zeichnungen, in Technik und Stil dem Dessauer Blatt vergleichbar, befand sich 2013 im Kunsthandel bei Grisebach in Berlin. Spitzer 2018, S. 36, 225, Abb. auf S. 38. 3 Ausst.-Kat. Dresden/Bremen 1994, S. 134. Christian Friedrich Gille LIEGENDES KALB 80 um 1850 Bleistift, weiße Kreide auf chamoisfarbenem Papier 13,4 × 18,2 cm Inv.-Nr. Z 1035 Christian Friedrich Gille (Ballenstedt 1805–1899 Dresden) Gille wird 1825 als Schüler der Dresdner Akademie eingeschrieben, empfing aber wohl schon davor eine erste künstlerische Ausbildung durch seinen Vater, einen Gardisten, der auch als Porträt- und Porzellanmaler erwähnt wird. 1827–1830 Atelierschüler bei Johann Christian Dahl. Ab Anfang der 1830er-Jahre Tätigkeit als Lithograf. Seit 1866 erhält Gille verschiedene Zuwendungen für mittellose Künstler. Die zügig ausgeführte, aber dennoch detailgenaue Zeichnung ist von Nähe bestimmt. Das liegende junge Tier wird von oben gesehen, der Betrachtende begibt sich trotzdem fast auf dessen Augenhöhe herab. Die gewählte Nahsicht unterstützt den Eindruck einer stillen Empathie, welche der Künstler für das Nutztier zeigt. Während Gille in seinen wenigen ausgeführten Landschaftsgemälden Menschen regelmäßig als Staffage einfügte, erscheinen sie auf seinen zahlreichen malerischen Naturstudien seltener. Häufiger sind jedoch Rinder auf ihnen anzutreffen, die er wohl in größerem Einklang mit den von ihm bevorzugten anspruchslosen ländlichen Naturausschnitten sah. Auch gibt es nicht wenige in Öl ausgeführte Einzelstudien von Rindern, welche die kontrastreiche Färbung ihres Fells und das Spiel des Tageslichts darauf studieren. Die vorliegende Zeichnung zeigt vermutlich eine der seltenen Gelegenheiten, in denen Gille seine individuellen künstlerischen Interessen ökonomisch fruchtbar machen konnte. Während er nur wenige Gemälde für die öffentliche Präsentation vollendete und noch weniger absetzte, waren seine zahlreichen Naturstudien in Öl – für die er heute hauptsächlich geschätzt wird – nicht für den Verkauf bestimmt (vgl. Kat.-Nr. 68). Seinen oft kargen Lebensunterhalt verdiente Gille als Lithograf, als Grafiker, der die Kompositionen anderer Künstler in gedruckte Reproduktionen umsetzte. 1852/53 konnte er jedoch in einer grafischen Folge nach eigenen Entwürfen arbeiten. Das Dresdner Atelier des Hanns Hanfstaengl, ein Ableger des bekannten Münchner Kunstverlags, beauftragte ihn mit der Anfertigung einer Folge von Darstellungen verschiedener Rinderrassen.1 Die vorbereitenden Zeichnungen Gilles dazu sind nach Ausweis ihrer eigenhändigen Datierungen in den Jahren von 1846 bis 1852 entstanden.2 Die Dessauer Studie muss der Künstler ebenfalls in diesem Zusammenhang geschaffen haben. Spürbar ist das Bemühen Gilles um die präzise Erfassung anatomischer Details, an denen die Besonderheiten der verschiedenen Rassen festzumachen sind. Locker hat er über dem Kopf wie in einer Legende Einzelheiten der Struktur des Fells beschrieben, die über die eingezeichneten Ziffern aufzufinden sind. Das Endinteresse dieser differenzierten Aufnahme und ihrer Publikation war ökonomisch bestimmt. Gille reiste für das Studium der vorzustellenden Rinderrassen nach Möckern, auf das Gut des Leipziger Verlegersohns Wilhelm Crusius, der dort eine landwirtschaftliche Versuchsstation aufbaute.3 Crusius ist ebenfalls bekannt für seinen Auftrag an den jungen Moritz von Schwind (vgl. Kat.-Nr. 77, 90), einen Gartenpavillon in Rüdigsdorf mit Motiven des Märchens von Amor und Psyche auszumalen. Diese Vereinbarkeit von romantischem Kunstsinn und zupackendem Geschäftssinn ist Mitte des 19. Jahrhunderts häufiger zu beobachten. RR

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