Leseprobe

160 Ablenkung durch Nebensächlichkeiten wiedergibt.6 Koudelka, der selbst einen nomadischen Lebensstil pflegte, ließ sich von geopolitischen Veränderungen anziehen und begab sich bewusst an die Orte des Geschehens. Der spätere Freund und Unterstützer Koudelkas, Henri Cartier-Bresson, betonte, dass ein Fotograf sich während seiner Arbeit darüber im Klaren sein muss, was er will, also die Intention und das Ziel nicht im Nachgang hineininterpretieren oder anhand der Ergebnisse bemessen kann.7 Um die Erinnerung an ein Ereignis möglichst lebendig und konkret zu halten, gelte es, das jeweilige Geschehen exakt zu dokumentieren und überflüssige Aufnahmen zu vermeiden. Geschehnisse könnten nur dann angemessen erfasst und wiedergegeben werden, wenn man ihnen bis zum Ende beiwohnt. So sollte sich der Fotograf laut Cartier-Bresson noch an Ort und Stelle vergewissern, ob eine Situation auch in all ihren Facetten exakt wahr- und aufgenommen wurde. Der Moment der Aufnahme sei dabei elementar; nicht zuletzt wirke aber auch der kuratorische Schritt der Auswahl von starken Bildern aus dem Material entscheidend auf die Gesamtaussage ein. Diese Auswahl diskutierte Koudelka regelmäßig mit vertrauten Expert:innen, wie Anna Fárová und den Fotografinnen Markéta Luskačová und Dagmar Hochová. Ihr Blick vereinte für ihn in geradezu idealer Weise die gleichermaßen bedeutsamen Aspekte von Kunst und Leben.8 Koudelka scheint mit seiner Kamera auf der Suche nach dem Sinn hinter dem Gesehenen zu sein. Dabei erfasst er die Flüchtigkeit des Moments und lässt die Menschen durch Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen zu dokumentarisch und künstlerisch umfassenden Protagonist:innen werden. Das »Theater des Lebens«9, dem er schon während seiner Arbeit an der Cikáni-Serie beiwohnte, begegnete ihm auch während der sowjetischen Invasion. Den Auftakt bilden schier endlose Reihen einfahrender Panzer in den weiten Straßen Prags, die neben den Passant:innen wie Fremdkörper wirken (Kat.68). Von den Militärfahrzeugen geht eine Massivität und Härte aus, der die Bewohner:innen, die in ihrem Alltag vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes überrascht worden waren, unbewaffnet gegenüberstanden. Dies spiegelt sich in der Fassungslosigkeit, dem Entsetzen und der Angst in den Gesichtern der Passant:innen am Straßenrand wider (Abb.31). Die Regierungsform der Tschechoslowakei entsprach ab 1948 einem Staatskommunismus, der sich am russischen Vorbild orientierte. Durchgesetzt wurde dies dank der herrschaftlichen Präsenz von Armee, Polizei und Justiz, welche die Bürger:innen fortwährend in ihren Rechten und Freiheiten beschnitten. Im Februar 1968 beschloss die neu ernannte Regierung unter dem Parteisekretär der Komunistická strana Československa (KSČ; Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) Alexander Dubček die Aufhebung der Zensur und läutete damit den Beginn des Prager Frühlings ein. Langfristig sollte die Aufweichung sowjetischer Regierungsvorgaben dazu führen, den Kommunismus in der Tschechoslowakei zu demokratisieren. Als Folge der weggefallenen Zensur wurde die spontane und freie Meinungsäußerung der Medien und Bürger:innen wiedererlangt, die es kritischen Stimmen ermöglichte, politische und gesellschaftliche Missstände der vergangenen Regierung aufzudecken und zu kommentieren, was der neuen Staatsführung zunächst zugute kam. Viele journalistische und künstlerische Gattungen, wie der Dokumentar- und Spielfilm oder politische und literarische Essays, bekamen Aufwind.10 Mit der freien Meinungsäußerung wurde auch die

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1