Leseprobe

159 seiner Freizeit nach. Seine Karriere auf diesem Feld begann 1961, als erste Einzelbilder und Bildstrecken von ihm im Theatermagazin Divadlo erschienen. Seine Fotografien wurden für die formstarken Kompositionen geschätzt – eine für die zeitgenössische Theaterfotografie ungewöhnliche Darstellungsweise.3 So befasste er sich mit der Findung von prägnanten Bildausschnitten, wie seine Studienbücher belegen (Abb.29). Koudelka entwickelte durch die Tätigkeit als Theaterfotograf ein besonderes Feingefühl für das Erfassen der charakteristischen Momente einer Aufführung. Da er weder gezielt Licht setzen noch aktiv in das Geschehen eingreifen konnte, um die Schauspielenden nicht durch seine Anwesenheit zu stören, musste er lernen, den Auslöser im richtigen Moment zu betätigen.4 Mit der Fähigkeit, sich in seine Umgebung einzufügen, ohne als Fremdkörper auf diese einzuwirken, entwickelte er seinen modus operandi. Dieser verhalf ihm dazu, bei der Anfertigung unterschiedlicher Serien ein gleichbleibend hohes Maß an Nähe und Präsenz zu schaffen, das seine Bilder zu Meilensteinen der internationalen Fotografiegeschichte im Grenzbereich zwischen Kunst und Journalismus macht. Die befreundete französisch-tschechische Fotografie- und Kunsthistorikerin Anna Fárová lehrte Koudelka systematisches und ganzheitliches Erfassen eines Vorgangs und realisierte mehrere Ausstellungen mit ihm.5 Sie nutzte ihre vielfältigen Kontakte in der Szene, um ihn mit anderen Fotograf:innen in Kontakt zu bringen, und trug so maßgeblich zu seiner internationalen Bekanntheit bei. Für das Langzeitprojekt Cikáni verweilte Koudelka mehrfach monatelang in Rumänien und dem slowenischen Teil der Volksrepublik Jugoslawien, wo er den Alltag nomadischer Gruppen von Angehörigen der Sinti und Roma teilte und sie mit der Kamera begleitete. In diesen Fotografien überwindet er die distanzierte Beobachtung und stellt Momente dar, die von Vertrautheit und respektvollem Einverständnis geprägt sind (Abb.30). Hier zeigt sich im Laufe der Zeit sein spezieller Umgang mit dem Weitwinkelobjektiv, das Szenen prägnant und ohne 30 / Josef Koudelka, Rumänien, 1968

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